8.

Houston, Texas
Sam Houston Parkway
25. November 2012
Ortszeit: 20.17 Uhr
Unternehmen Jesaja – erster Tag

Zwei grellweiße Xenon-Scheinwerfer stachen in die Dunkelheit. Mit brüllendem Motor und kreischenden Reifen raste der Mercedes um die Ecke und beschleunigte auf der leeren Schnellstraße. Es waren keine anderen Fahrzeuge unterwegs; alles wirkte so still wie auf einem Foto. Helena war benebelt. Straßenlampen leuchteten in Abständen vor der Schwärze des Nachthimmels, und der Wind pfiff an den fest geschlossenen Fenstern vorbei.

Die Umrisse ihres Wohnhauses tauchten vor ihr auf, als sie herunterschaltete und auf einer breiten Zufahrtsrampe hielt. Das gewellte Stahltor schimmerte im Scheinwerferlicht. Helena drückte auf die Fernbedienung, klappte ihre Sonnenblende herunter und besah sich im Spiegel. Ihre Augen waren gerötet; sie sah erschöpft aus. Während sie in ihren Anblick versunken war, merkte sie nicht, wie die Zeit verging. Das Garagentor war längst hochgefahren und begann soeben, sich wieder zu schließen. Sie trat aufs Gas, der Motor heulte auf, und der Mercedes jagte mit rauchenden Reifen die Rampe hinunter, um gerade noch unter der Torkante durchzuflitzen.

Der heisere Klang des High-Tech-V-8 wurde lauter, als sie die verschiedenen Rampen hinunterfuhr, an den edelsten Wagen vorbei, die man für Geld kaufen konnte. Ein freier Parkplatz tauchte auf – »Capriarty« war in gelben Buchstaben auf den Beton schabloniert. Helena bog in dem exzentrischen Bemühen, ihre Reaktionsschnelligkeit zu testen, mit aberwitziger Geschwindigkeit auf den Platz ein. Alle vier Räder blockierten gleichzeitig, das ABS stotterte, und der Wagen kam zwei Zentimeter vor der Wand zum Stehen.

In einer Pförtnerkabine neben den Aufzügen saß ein alter Mann hinter einer kugelsicheren Scheibe. Seine Uniform war frisch gestärkt. Auf den Überwachungsbildschirmen hatte er Helena vorbeijagen sehen und er hätte ihr gern gesagt, dass ihr Fahrstil gefährlich sei, doch er traute sich nicht. Stattdessen stand er auf und grüßte zackig. Helena beachtete ihn nicht, was ungewöhnlich war, doch der Mann dachte sich nichts dabei.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und Helena kehrte in die vertraute Umgebung ihrer Wohnung zurück. Bestürzt sah sie zwei Leibwächter im Marmorfoyer stehen. Ihre Jacketts beulten sich über der Pistole. Das bedeutete, dass ihr Vater gekommen war. Als sie seine Stimme aus dem Wohnzimmer hörte, überlegte sie, ob sie das Gespräch belauschen sollte. Normalerweise hätte sie es getan, doch die Leibwächter würden sie dabei beobachten. Mit schnellen Schritten ging sie an ihnen vorbei und murmelte gedämpft einen Gruß. Die Männer sollten merken, dass es ihr nicht gut ging.

Helenas Erscheinen wurde mit überraschtem Luftschnappen aufgenommen. Julia und Lawrence sprangen aus dem Sessel auf. Im Kamin brannte ein Holzscheit; man hörte leise Musik. Draußen hinter den hohen Erkerfenstern funkelten die Lichter von Houston.

Lawrence Capriarty war ein alter Mann mit dichtem braunem Haar, das an den Schläfen grau wurde. Er trug es ziemlich lang und nach einer Seite gescheitelt. Seine Nase war kantig, die Augen blau, typische Merkmale der Capriartys. Sein schwarzer Brioni-Anzug war maßgeschneidert, seine italienischen Schuhe neu und glänzend.

Lawrence war kontrollsüchtig, wie er selbst zugab, sowohl im privaten wie im geschäftlichen Leben, und es wurde täglich schlimmer. Er war ein Selfmademan, und seine Grundstückserschließungsfirma umspannte den gesamten Globus. Er hatte Büros in jeder bedeutenden Metropole – siebenunddreißig, um genau zu sein. Lawrence stammte aus einer texanischen Familie der Mittelschicht; ein einfacher Junge aus Houston, der es zu etwas gebracht hatte, so pflegte er stolz zu sagen. Der Schlüssel zu seinem Erfolg war, dass er keine Hindernisse zuließ, und er setzte alle Mittel ein, legale und andere, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Das musste sein, um in diesem Geschäft Erfolg zu haben. Lawrence war ein Produkt seiner Branche – betrügerisch, aggressiv und habgierig. Doch wenn es um Helena ging, war er ein Mustervater, und er sorgte sich um sein einziges Kind, wie der ehrlichste Mann es täte. Vielleicht sogar mehr.

»Was machst du hier, Dad?«, fragte Helena.

Lawrence zeigte mit dem Finger auf sie. »Wir haben dich vor einer Stunde angerufen, junge Dame! Ich habe Leute rausgeschickt, die dich suchen!« Er ließ ihr keine Zeit, etwas zu erwidern. »Julia und ich waren krank vor Sorge! Das geht so nicht!«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, meinte Helena abweisend.

»Himmel, Helena, bist du verrückt geworden?«

»Diese Bemerkung ist nicht hilfreich, Dad.«

»Hilfreich wäre es, wenn du zur Abwechslung mal tun würdest, worum ich dich bitte!«

»Ich sagte schon: Ich kann selbst auf mich aufpassen!« Damit schlug sie den Weg zum Schlafzimmer ein.

Lawrence trat ihr in den Weg. »Du gehst nirgendwohin …«

»Komm mir nicht mit einer Strafpredigt, Dad. Ich bin nicht in der Stimmung.«

»Du wirst tun, was ich dir sage!«

Sie zog die Pistole aus der Jacke und hielt sie hoch. »Du hast mir befohlen, eine Waffe mitzunehmen … und das tue ich!« Ihre Emotionalität war seiner mindestens ebenbürtig. »Du sagst mir ständig, was ich tun soll. Das ist nicht hilfreich! ›Sei vorsichtiger‹ und ›Tu dies, tu jenes nicht‹.« Sie wedelte mit der Pistole.

Als Lawrence seiner Tochter zusah, wurde ihm das Herz schwer. Sie war ihrer Mutter in vieler Hinsicht sehr ähnlich. Und seltsamerweise liebte er Helenas Sturheit – sie machte ihn bloß krank vor Sorge. Doch ihm war die Sturheit lieber, als wenn sie sich einschüchtern ließe. Menschen, die nicht stark waren, kamen unter die Räder. Lawrence gab sich Mühe, ruhig zu werden, und senkte die Stimme.

»Ich bin nur froh, dass du wohlauf bist«, sagte er. »Und ich freue mich, dass du die Pistole trägst.« Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er ihr Tag und Nacht einen Leibwächter zugeteilt, doch Helena wollte nichts davon hören. Er würde damit zufrieden sein müssen, dass sie bewaffnet war und Selbstverteidigung trainiert hatte. »Ich weiß, wie viel du durchgemacht hast«, sagte Lawrence milde. »Aber du musst vorsichtiger sein.« Er nahm seine Tochter bei der Hand und führte sie zum Sofa. »Helena, ich weiß, ich bin kein Arzt, aber wir müssen über diese Träume sprechen, die du neuerdings hast.«

Helena schoss Julia einen Blick zu. »Was hast du ihm erzählt?«, schäumte sie.

»Sie hat das Richtige getan«, ging Lawrence dazwischen.

»Du hast es ihm erzählt!«, rief Helena aus. »Wie konntest du mich so verraten!«

»Ich habe mir Sorgen gemacht!«, erwiderte Julia und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich hatte Panik! Du bist einfach weggelaufen!«

»Julia hat das Richtige getan«, sagte Lawrence noch einmal.

»Du hättest es ihm nicht erzählen müssen!«, schrie Helena.

»Wenn du wegrennst, ohne etwas zu sagen, dann rufe ich ihn an«, bekräftigte Julia. »Dann berichte ich ihm! Si!«

Lawrence ging zwischen sie. »Es reicht!«, brüllte er.

Eine unangenehme Stille setzte ein.

»Julia, bring mir einen Scotch mit Eis«, sagte Lawrence. »Noch besser, bring drei Gläser, und wir trinken etwas zusammen.« Das war seine Methode, Julia für einen Moment aus dem Zimmer zu schicken.

»Sie hätte es dir nicht sagen sollen!«, stritt Helena weiter.

»Ich rufe ihn an!«, fauchte Julia aufsässig. »Si!«

Lawrence wies mit der einen Hand aufs Sofa, mit der anderen zur Tür. »Helena, setz dich hin! Julia, hol die Drinks! Euch beiden beim Streiten zuzuhören, kann ich im Augenblick wirklich nicht ertragen!« Helena ließ sich aufs Sofa fallen, und Julia stürmte aus dem Zimmer.

Endlich allein mit seiner Tochter, sagte Lawrence: »Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Das brauchst du nicht, Dad.«

»Du solltest einige Zeit in Dr. Bennetswoods Klinik verbringen. Das wird dir gut …« Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn Helena sprang auf.

»Du meinst, ich soll in eine psychiatrische Klinik?« Ihr Gesicht war rot vor Zorn. »Hast du mal in Erwägung gezogen, dass du das Problem sein könntest? Du willst mein Leben beherrschen, das ist mein Problem!«

Lawrence trat zurück und beobachtete, wie Helena wütend auf und ab ging. Sie hatte auf seine Forderungen stets heftig reagiert, besonders wenn es um ihre Behandlung ging – und der Ausbruch war im Grunde beruhigend. So war sie seit Camillas Tod. Eine ruhige Antwort gäbe wahrscheinlich mehr Anlass zur Sorge.

»Es ist nur zu deinem Besten«, sagte Lawrence resigniert.

Helena wusste, dass eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater keine Lösung war. »Bitte, zwing mich nicht, zu Conroe zu gehen, Dad. Das bringt überhaupt nichts.« Ihr Blick wurde trübselig – und ausnahmsweise spielte sie ihm nichts vor. Es waren Empfindungen, die sie eigentlich nicht zeigen wollte. »Ich will nicht dorthin. Da gibt es nur Verrückte. Mir geht es schon viel besser. Ich habe heute Nachmittag lange geschlafen.«

»Dann sag mir, was los ist«, bat er. »Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Das will ich gerne tun, Dad, aber ich sag dir klipp und klar: Ich werde nicht zu Conroe gehen. Auf keinen Fall.«

Lawrence sah ihr in die Augen. »Erzähle es mir …«

»Es hört sich verrückt an, das weiß ich, aber …« Sie atmete tief durch. »Ich sehe Szenen … durch die Augen eines anderen. Ich habe einen Autounfall gesehen. Ich bin zur I-610 an der Westheimer-Überführung gefahren. Überall waren Bremsspuren und Glassplitter, genau an der Stelle, die ich in meiner Vision gesehen habe.« Helena spürte die Zweifel ihres Vaters und verschärfte ihren Tonfall. »Der Unfall ist heute Morgen passiert, Dad. Ein Mann ist ums Leben gekommen. Ich weiß es genau.«

Lawrence küsste seine Tochter auf die Stirn und bedeutete ihr, sich zu setzen. Sie schien einigermaßen klar zu sein. Er schritt vor dem Kamin auf und ab. Orange Flammen leckten über das Holz, und es duftete nach Kiefern. Das erinnerte ihn an seine Hütte am See. Er war seit Camillas Tod nicht mehr dort gewesen. Camilla fehlte ihm, das merkte er jetzt. Doch er verscheuchte diese Gedanken. Sie waren schwach und dumm – Gedanken, die er nicht oft durch seinen Panzer hindurchließ.

»Willst du nichts dazu sagen?«, fragte Helena.

»Wann hast du diese Visionen?«

»Zuerst nur im Schlaf. Aber heute kam sie, als ich wach war. Es ist, als ob ich einen Film ohne Ton sehe. Und die Bilder sind von einem roten Dunst überlagert.« Sie wischte sich die Tränen ab.

Lawrence betrachtete sie. Er liebte Helena sehr, und das machte ihn verwundbar.

»Der Autounfall ist tatsächlich passiert«, versicherte sie noch einmal. »Und das beweist, dass es Wirklichkeit ist, was ich sehe. Mir ist klar, dass das verrückt klingt. Aber ich bin nicht verrückt. Ich bin nicht dabei, den Verstand zu verlieren. Was ich gesehen habe, hat sich wirklich ereignet.«

»Wo hast du den Unfall gesehen?«

»Auf der I-610 an der Südseite der Westheimer-Überführung.« Wenigstens hörte er ihr zu. »Ein Mann kam dabei um«, fügte sie hinzu. »Ein Polizist war da.«

Lawrence griff nach dem Telefon. »Um welche Uhrzeit?«

»Kurz nach halb acht.«

Julia kam mit einem silbernen Tablett herein. »Si, Mr. Capriarty, es war kurz nach halb acht.«

Lawrence wählte eine Nummer und hielt sich den Apparat ans Ohr.

»Captain Olsen bitte«, sagte er und wartete einen Moment. »Hallo John, hier Lawrence Capriarty. Ich muss Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Es geht um einen Autounfall von heute Morgen. Ja, auf der 610 unter der Westheimer-Überführung, gegen halb acht.« Er wartete; dann sagte er: »Das wäre großartig.«

Helena trank von ihrem Scotch, um ihre Nerven zu beruhigen. Ihr Vater würde gleich den Beweis haben, dass sie nicht den Verstand verlor.

Lawrence hielt die Hand über die Sprechmuschel. »John ist bei der Kripo. Er schuldet mir ein paar Gefälligkeiten.« Schließlich blieb Lawrence stehen und sagte: »Ich bin dran, John. Was haben Sie für mich?«

Helena zog Julia am Arm zu sich aufs Sofa.

»Nichts …«, sagte Lawrence leise. »Sind Sie sicher?« Er drehte sich mit zweifelnder Miene zu seiner Tochter um und sah ihr an, dass sie genauso perplex war. »Könnte es sein, dass er nicht gemeldet wurde?« Er schwieg. »Gut. Klar. Danke, John. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas hören.«

»Die Bremsspuren sind da!«, platzte Helena heraus. »Die Glasscherben liegen da! Das kannst du selbst überprüfen. Lass uns hinfahren, ich kann sie dir zeigen! Der Unfall ist passiert! Ich weiß es genau!«

»Helena«, sagte Lawrence ruhig. »Die Bremsspuren können schon seit Wochen da sein. Wie könnte das etwas beweisen?«

»Weil ich es gesehen habe«, beharrte Helena und zitterte am ganzen Körper. »Bitte, lass uns hinfahren. Sofort.«

»Das ist verrückt, Helena. Das hat doch keinen Sinn. Ich möchte, dass du dich beruhigst …«

Ehe er weiterreden konnte, war sie ins Schlafzimmer verschwunden und hatte die Tür zugeknallt. Nachdem er seinen Scotch in einem Zug hinuntergekippt hatte, wählte er eine andere Nummer.

»Hier Lawrence Capriarty. Piepsen Sie Dr. Bennetswood an und richten Sie ihm aus, er soll mich schnellstmöglich auf meinem Mobiltelefon anrufen.« Er drehte sich zu Julia um. »Hast du mit ihm darüber gesprochen, was heute vorgefallen ist?«

»Sie wollte nicht, dass ich den Arzt anrufe«, antwortete Julia.

»Helena muss mit jemandem sprechen«, sagte er. »Dr. Bennetswood ist dafür der Beste.«

Julia schenkte ihnen beiden Scotch nach.

»Julia, warum passiert das?«, fragte Lawrence. »Ich meine es ernst: Was hältst du davon? Sind ihre Visionen real?«

»Sie vermisst ihre Mutter sehr«, sagte Julia mitfühlend.

Das war nicht die Antwort, die Lawrence hören wollte. Er ging zum Fenster und spürte die Hitze des Feuers an seinen Beinen. In der Ferne leuchteten die Lichter von Houston. Lawrence hatte seine Frau bei einer schrecklichen Tragödie verloren, was er selbst zu vergessen versuchte – und nun schien es, als sollte er auch Helena verlieren. Das war das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Ihre Selbstzerstörung mit anzusehen zerriss ihm das Herz. Sie war alles, was er noch hatte, alles, was er liebte. Er würde alles tun, um sie zu schützen. Er würde dafür töten, wenn es sein musste. Sein Geld und die Macht, die er während seines Lebens angehäuft hatte, schienen hier gar nichts bewirken zu können. Er war hilflos – eine Situation, die ihm nicht gefiel.