22.

Mexikanische Küste bei Merida
Bell 430 JetRanger
27. November 2012
Ortszeit: 11.56 Uhr
Unternehmen Jesaja – dritter Tag

Ein schwarzer Hubschrauber donnerte auf die mexikanische Küste zu. In der Ferne zogen dunkle Sturmwolken über den Himmel. Der Hubschrauber flog über den weißen Sandstrand und dann landeinwärts dicht über den Bäumen.

Visblat fläzte sich auf dem Rücksitz, das Headset auf dem Kopf, das Gesicht voller Blutergüsse. Der Hubschrauber war nicht dafür gebaut, Männer von seiner Körpergröße zu transportieren, und so hatte Visblat die Beine schräg unter den gegenüberliegenden Sitz gestreckt. Er riss sich den Heftpflasterverband von der Stirn, und eine nässende, fleischige Wunde kam zum Vorschein. Er wollte keinen Verband im Gesicht – er sah damit schwach aus, fand er. Der Gipsarm war schon genug.

Visblats Blicke blieben auf den dichten Wald gerichtet, der am Fenster vorbeihuschte. Das Brummen der Turbine erfüllte die Kabine. Im Geiste ging der Commander verschiedene Szenarien durch. Wenn alles gut ging, würde Wilson Dowling jeden Moment gefasst werden. Visblat war zappelig und tat sein Bestes, seine hämische Freude zu unterdrücken. Sein Puls stieg mit der Erwartung. Bald würde er Gelegenheit haben, allen zu zeigen, wie klug er gehandelt hatte.

Er blickte auf die Uhr. »Sie sagten, es ist nur zwanzig Minuten entfernt!«, polterte er los. »Das war vor einer halben Stunde!«

Der Navigator rückte sein Headset zurecht und sah den Piloten an; dann drehte er sich nach hinten. »Wir nähern uns jetzt Chichén Itzá. Es gab eine Reihe von Gewittern, die wir nicht durchfliegen konnten.«

Sie waren Amerikaner, die Visblat in San Antonio beauftragt hatte. Sie waren nervös, denn sie hatten ohne Erlaubnis in den mexikanischen Luftraum eindringen müssen, und alles war inoffiziell einschließlich der Bezahlung.

»Ich habe gesagt, Sie sollen auf direktem Weg hinfliegen!«, schnauzte Visblat in sein Mikrofon. »Keine Kursabweichungen. Ich hab’s eilig.« Seine Worte kamen knackend und knisternd bei den Piloten an.

»Es ging nicht anders«, erwiderte der Navigator. »Das Unwetter war zu heftig.«

Ohne die Verbindung abzuschalten, stieß Visblat laute Flüche aus. Er griff nach seinem Mobiltelefon, als wollte er es an die Wand werfen, bezwang sich dann aber und legte es behutsam auf den Sitz. Es war nicht nötig, sich aufzuregen. Mr. Dowling würde gleich in seiner Obhut sein.

»Chichén Itzá kommt in Sicht«, meldete der Navigator.

Visblat richtete sich auf und schaute über die Ruinenstadt. Die große Pyramide war mit Hunderten schwarzer Brandflecken übersät, und der Platz lag unter einer schimmernden Wasserfläche. An einem Ende stand eine schwer beschädigte Saab 340. Visblats stechende blaue Augen suchten die Ruinen nach Wilson ab. Schließlich blickte er zu dem alten Observatorium. Dort standen Leute auf dem Plateau. Er lächelte zufrieden. Das war der Augenblick des Sieges. Doch als der Helikopter zu den Ruinen hinabflog, erstarb Visblats Lächeln.

Der Pilot sprach in sein Mikrofon. »Sehen Sie sich das an!« Die rätselhaften schwarzen Flecke an der Pyramide waren ihm unerklärlich.

Visblat zeigte zum Boden. »Bringen Sie uns runter. Da drüben.«

»Wir können nicht im Wasser landen«, sagte der Pilot.

»Wenn Sie Ihr Geld wollen, werden Sie landen«, blaffte Visblat. »Also tun Sie’s.« Er schleuderte sein Headset auf den Sitz. »Landen!«, brüllte er.

Besorgt blickte der Pilot seinen Navigator an, aber der sagte: »Tu, was er verlangt.«

Der Pilot senkte die Maschine so sacht wie möglich, und sie landeten in einer Gischtwolke. Visblat trat ins Nasse und blickte durch die gebogene Windschutzscheibe. »Warten Sie hier!«

Der Pilot schaltete die Sprechanlage ab. »Der Auftrag war deine Idee.«

Der Navigator verzog keine Miene. »Sei still und konzentriere dich auf deinen Job. Wir wollen nicht in den Schlamm einsinken.«

Mit hängenden Schultern stapfte ein entmutigter Visblat durch das knöcheltiefe Wasser und den Nieselregen auf die Männer zu, die auf den Stufen zu der Turmruine auf ihn warteten. Die Rangers hatten versagt, wie Visblat jetzt sah. Lieutenant Diaz blutete am Hals. Der Mann neben ihm presste die Hand augenscheinlich auf eine Schusswunde. Dem dritten lief das Blut übers Gesicht.

Visblat schüttelte das Wasser von seinen Lederschuhen und stieg die Steinstufen hinauf, während er es darauf anlegte, Blickkontakt herzustellen.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Die Frau«, antwortete Diaz, »sie hat zwei meiner Leute niedergeschossen, das ist passiert!«

Visblat musterte den vierten Soldaten, der auf dem Rücken lag, die Augen glasig vor Schmerzen. Er hatte eine Kugel in die Hüfte bekommen.

»Es war ein Hinterhalt. Wir hatten keine Möglichkeit, uns zu verteidigen.«

»Das haben Sie nun von Ihrem überzogenen Selbstvertrauen«, brummte Visblat und starrte Diaz durchdringend in die Augen, bis dieser den Blick senkte. »Ich habe Sie davor gewarnt.«

»Wir sind nur Ihretwegen hierhergekommen!« Diaz war in Mexiko auf Urlaub gewesen, als Visblat ihn angerufen und ihm den lukrativen Auftrag angeboten hatte. »Zwei meiner Männer wurden angeschossen, verdammt noch mal! Jeffries hat einen Schädelbruch. Alles ist schiefgegangen.«

Der Hubschrauber dröhnte auf dem Platz; das Wasser trieb in immer neuen Kreisen von der Maschine weg. Visblat zog einen Umschlag hervor und warf ihn Diaz zu. »Das wird helfen. Das ist Ihre Anzahlung, wie abgemacht. Fünfundzwanzig Riesen.«

Diaz nahm den Umschlag. »Meine Männer sind verwundet.« Er prüfte das Gewicht. »Das reicht nicht.«

Visblat drehte sich einmal im Kreis. »Fünfundzwanzig Riesen fürs Herkommen, so war es abgemacht. Sie haben sich die Million nicht verdient – selbst schuld. Ich habe gesagt, Sie sollen vorsichtig sein.« Er warf einen Blick in die Runde. »Sie sagen, es war ein Hinterhalt. Wie ist es passiert?«

Diaz machte ein paar unbestimmte Gesten; er war sich nicht sicher. »Die Frau kam wie aus dem Nichts. Sie hatte einen Revolver. Was danach geschah, ist ein bisschen verschwommen.«

Visblat zeigte auf einen großen Blutfleck auf der Treppe. »Woher kommt das?« Die Menge des Blutes schien ihm nicht zu den Verletzungen von Diaz’ Leuten zu passen.

Der Lieutenant trat nervös einen Schritt vor. »Der Kerl wurde beim Schusswechsel getroffen. Es war ein Versehen«, sagte er abwehrend. »Nur ein Versehen.«

»Ich habe doch gesagt, dass ihm nichts passieren darf!«, explodierte Visblat.

»Die Kugel ist durchs Bein gegangen«, erklärte Diaz mitleidlos. »Er wird es überleben, das versichere ich Ihnen.«

»Wir hatten uns darauf verständigt, dass er nicht verletzt wird!«

»Es war ein Versehen!«

»Das reicht nicht!« Visblat versuchte, seine wachsende Wut zu bezwingen. »Sie haben sich von einer Frau überwältigen lassen! Ich kann es nicht glauben!«

Diaz konnte sich nicht genau erinnern, was eigentlich passiert war, nachdem Wilson die Sonnenbrille abgenommen hatte. Er hatte einen Filmriss. Er wusste nur noch, dass er zu sich gekommen war und seine Männer verletzt am Boden lagen.

Visblat bekam seine Emotionen unter Kontrolle. »Sie haben Ihren Wagen mitgenommen, richtig?«

»Einen grünen Geländewagen.«

»In welche Richtung sind sie gefahren?«

»Da entlang.« Plötzlich bekam Diaz’ Stimme einen leicht optimistischen Beiklang. »Wenn wir Ihren Hubschrauber nehmen, können wir sie noch erwischen! Sie sind erst seit einer halben Stunde weg. Sie können noch nicht weit sein.«

»Vergessen Sie’s«, sagte Visblat mit einem Blick auf das blutende Quartett. »Sie können inzwischen sonst wo sein.« Er spähte in die Umgebung. Der heilige Brunnen sprudelte, und eine dicke Dunstsäule stand in der Luft. Visblats Blick blieb an der großen Pyramide hängen, die einen schwarzen Ausschlag bekommen hatte.

Wie es schien, hatte Wilson das erste Portal erfolgreich geöffnet.

»Wir können sie immer noch einholen!«, beharrte Diaz. »Der Versuch lohnt sich bestimmt! So viele Straßen gibt es hier nicht.«

»Sie haben Ihre Chance gehabt, Lieutenant«, entgegnete Visblat mit versteinertem Gesicht. Er drehte sich um und ging zum Hubschrauber. Wilson Dowling entpuppte sich als schwierige Beute, und diese Helena Capriarty als unvorhergesehene Komplikation.

»Sie können uns hier nicht zurücklassen!«, brüllte Diaz. »Unser Telefon liegt im Wagen. Wir können keine Hilfe rufen!« Mit einem knappen Wink brachte Diaz seine Männer in Bewegung. Die noch stehen konnten, zogen ihre Waffen und stellten sich neben ihren Lieutenant. »Wir wollen unser Geld«, rief Diaz. »Wir wollen die ganze Summe!«

Mit neuer Wut drehte Visblat sich auf dem Absatz um und schritt drohend auf die Männer zu, mit eingezogenen Schultern und geballten Fäusten. Er näherte sich furchtlos, während er den Männern nacheinander starr in die Augen sah. Ein paar Meter entfernt blieb er stehen. »Erschießen Sie mich, wenn Sie können!«, forderte er sie heraus. »Na los!« Er wusste, es war unmöglich.

Diaz’ Puls beschleunigte sich. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er hatte Angst, schreckliche Angst. Er war unfähig, sich zu bewegen.

Visblat blieb einen Moment lang so stehen, genoss seine überwältigende Wirkung und sorgte dafür, dass die Soldaten starr wie Statuen blieben. »Werfen Sie die Waffen weg«, verlangte er dann.

Als stünden sie unter seinem uneingeschränkten Befehl, ließen die Soldaten ihre Waffen fallen.

»So ist es gut«, sagte Visblat grinsend. »Sie warten hier. Ich hole über Funk Hilfe.« Doch er hatte keineswegs die Absicht. Erneut trat er in das knöcheltiefe Wasser und stapfte über den Platz zum Hubschrauber.

Visblat verschwand in der Kabine und zog die Tür hinter sich zu.

Der Navigator drehte sich zu seinem Passagier um. »Was jetzt?«

»Bringen Sie mich nach Mexiko City«, war die Antwort.

»Da müssen wir erst einen Flugplan einholen.«

»Dann tun Sie das!«, schnauzte Visblat. »Es kümmert mich nicht, was Sie tun müssen!«

»Was wird aus denen?« Der Navigator deutete auf die Männer auf dem Plateau vor der Turmruine. »Sie sind in keiner guten Verfassung.«

»Ich bezahle Sie nicht als Rettungsdienst«, sagte Visblat. »Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt: Tun Sie Ihren Job und stellen Sie keine Fragen.«

Der Navigator sah kurz in Visblats Augen und drehte abrupt den Kopf weg. Was er gesehen hatte, verursachte ihm eine Gänsehaut. Er deutete mit der Hand aufwärts. »Du hast es gehört«, sagte er zum Piloten. »Mexiko City, Vollgas.« Seine Stimme schwankte von unerwarteter Angst. »Wir müssen zurück«, er räusperte sich, »in den amerikanischen Luftraum. Ich werde einen Flugplan einholen.«

Der Hubschrauber stieg auf.

Visblat ballte immer wieder die Fäuste, um sich zur Ruhe zu zwingen, als sein Blick auf das Satellitentelefon fiel, das neben ihm auf dem Sitz lag. Er nahm es, drückte die Wahlwiederholung und hielt es sich ans Ohr. Einen Versuch war es wert.