43.
Flughafen London-Gatwick, England
Capriartys Privatflugzeug
21. Dezember 2012
Ortszeit: 13.52 Uhr
Unternehmen Jesaja – siebenundzwanzigster Tag
Die Bombardier Global Express stieß durch die Wolkendecke. Der Flughafen von London-Gatwick kam in den Blick. Es regnete, und die Lufttemperatur lag bei knapp über null Grad.
Das Flugzeug steuerte die Landebahn 08R an.
Als das Fahrwerk den glatten, nassen Asphalt berührte, setzte brausend der Umkehrschub ein, und der kleine Jet bremste ab und bog in ein privates Rollfeld ein. Er rollte zielstrebig auf eine Gruppe Hangars zu und kam an seinem angestammten Platz zu stehen, wo die Motoren verstummten.
Eine gebogene Treppe wurde zum Boden heruntergelassen, und Wilson streckte den Kopf ins Freie.
Captain Lewis schloss seinen Koffer und gab Helena seinen Pass. »Dafür könnte ich meinen Job verlieren.«
»Sie werden ihn nicht verlieren.«
Er deutete auf Wilson. »Doch, werde ich, wenn Ihr Vater das erfährt.«
»Ich übernehme die volle Verantwortung«, versprach Helena. »Ich werde mit meinem Vater fertig. Sie warten hier, bis ich Sie anrufe. Klar?«
»Aber, Helena …«
»Ich sagte, Sie sollen hier warten!« Sie wandte sich ab. »Komm, Wilson, gehen wir.« Helena zeigte zum Hangar hinüber. »Er gehört der Gesellschaft meines Vaters. Sein Flugzeug steht hier, wenn er in England ist. Da drinnen stehen Wagen bereit.«
Wilson zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. »Warum fliegen wir nicht bis nach Stonehenge?«
»Wir bekämen keine Flugerlaubnis, ohne zu viel Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.« Helena war nicht glücklich darüber. »Und der Zoll würde das Flugzeug durchsuchen. Wir haben drei Leute an Bord, aber nur zwei Pässe. Außerdem brauchen wir sowieso einen Wagen.« Ihrer Miene nach zu urteilen duldete sie keinen Widerspruch. »Ich bin für den Transport verantwortlich und ich sage, so ist es am einfachsten.«
Der Regen wurde heftiger, und Helena rannte über den Platz zum Hangartor. Sie drehte den Schlüssel im eiskalten Vorhängeschloss, schob die Tür auf und drückte auf den Lichtschalter. Der Hangar wurde hell erleuchtet. Die Luft war eisig und abgestanden. An der hinteren Wand der leeren Halle standen drei Autos ordentlich nebeneinander geparkt: ein roter Ferrari, ein silberner Mercedes und ein schwarzer Porsche Turbo.
»Der ist genau das Richtige für uns.« Helena öffnete die Fahrertür des Porsche.
»Helena«, sagte Wilson, bevor sie einstieg. »Ich habe mich wie ein Idiot benommen, seit wir, na ja … du weißt schon. Es tut mir leid. Die ganze Sache zwischen uns hat mich überrascht. Du hast mich überrascht.« Er senkte verlegen den Kopf. »Was hältst du davon: Ich bin wieder der Alte, und dann bringen wir die Sache gemeinsam hinter uns. Abgemacht?« Er reichte ihr die Hand über das Wagendach.
Helena blickte verärgert auf seine offene Handfläche. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft. »Ich bin auch dafür. Bringen wir’s hinter uns.«
Wilson hob die Sonnenbrille an und schaute ihr in die Augen. »Keine Sorge, Helena, ich empfinde dasselbe.« Er war sicher, dass sie genau verstand, was er meinte. »Und es bringt mich um, dass ich dich nie wieder im Arm halten kann. Aber es gibt keine Zukunft für uns. Das ist unmöglich.« Einen Moment lang, der sich zu Minuten dehnte, erwiderte sie ausdruckslos seinen Blick.
»Kommst du jetzt?« Damit schwang sie sich auf den Fahrersitz. Der Motor sprang röhrend an. Wilson öffnete die Beifahrertür und rutschte auf den Sitz.
»Du bist genauso dumm, wie ich es war«, sagte er.
»Ich weiß. Jetzt schnall dich an.«
Das Hangartor rollte zur Seite, und diesiger Regen wirbelte durch die Öffnung herein. Als sie breit genug war, schoss der Porsche nach draußen. Die Wischer fegten über die Windschutzscheibe, als er unter der Nase der Global Express hindurchfuhr, beschleunigte und sich dem Flughafengebäude näherte.
Captain Lewis blickte dem schwarzen Sportwagen durch das Cockpitfenster nach.
Zweihundert Meter vor der Flughafenausfahrt hielt der Porsche. Der Motor grollte drohend im Regen. In der Mitte der Straße stand das Wachhäuschen des Sicherheitscheckpoints. Mindestens drei Leute taten Dienst, die alle automatische Waffen trugen. Aus dem Straßenbelag ragten Metallzacken wie Saurierzähne, die im Boden verschwanden, sobald die Schranke hochging.
»Sie werden nach unseren Pässen fragen«, sagte Helena. »Sie sind nicht gestempelt, darum überlass das Reden mir.« Sie hatte eine genaue Vorstellung, wie die Sache ablaufen sollte. »Das Timing wird entscheidend sein.«
»Es tut mir leid, Helena«, sagte Wilson.
»Halt den Mund, Wilson. Ich werde dich nach Stonehenge bringen, aber lass mich in Ruhe.« Sie atmete tief durch. Zwei Wagen näherten sich mit eingeschalteten Scheinwerfern der Ausfahrt. Helena beschleunigte und überholte. Es regnete stärker, und die Wischer passten ihre Geschwindigkeit automatisch an. Der Porsche kam als Erster an den Schlagbaum, die anderen Wagen reihten sich dahinter auf.
Seine Papiere gegen den Regen abschirmend, lief ein Wachmann ans Fahrerfenster. Er trug ein dunkelgrünes Regencape mit Kapuze und eine Maschinenpistole am Schulterriemen. Helena reichte ihm die beiden amerikanischen Pässe. Der Mann sagte kein Wort, als er kurz auf die Fotos schaute und dann in den Wagen spähte.
Helena blickte ihn breit lächelnd an.
»Die sind noch nicht gestempelt.« Den Wachmann schien es zu stören, bei diesem Wetter draußen zu stehen. »Sie waren noch nicht beim Zoll? Ihre Wagenpapiere bitte.«
Helena tat überrascht. »Oh nein. Mir wurde gesagt, ich soll gleich hierher fahren!« Sie reichte die verlangten Papiere nach draußen.
Der Wachmann verglich die Autonummer mit dem Fahrzeugschein – es war eindeutig ihr Wagen. Er zeigte auf das Nordterminal. »Ich kann Sie nicht ohne Stempel durchlassen, Madam. Sie müssen zuerst zum Zoll.« Er gab ihr die Ausweise zurück.
Helena versuchte ein schüchternes Gesicht zu machen, was ihr sehr schwerfiel; dann legte sie den Rückwärtsgang ein. Die weißen Rücklichter flammten auf, doch inzwischen standen wenigstens drei Wagen hinter ihr. Das kollektive Zurücksetzen würde mühsam werden, genau wie sie es geplant hatte.
Der Wachmann winkte sie nach vorn. »Fahren Sie raus und kommen Sie drüben wieder rein, Madam.« Er zeigte auf die andere Seite des Wachhäuschens. »Gehen Sie direkt zum Zoll. Ich sehe Sie dann auf dem Rückweg.«
Es lief genau nach Plan. Die Schranke hob sich, und Helena legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch, und der Porsche jagte in einer Gischtwolke die Ausfahrt hinunter und bog auf die Straße.
Der Wachmann rannte ein Stück hinterher, aber der Wagen war rasch außer Sicht.
Helena schmunzelte.
»Wieso habe ich den Eindruck, dass dir das Spaß macht?«, sagte Wilson, den die Beschleunigung in den Sitz drückte. Der Wagen bremste kurz ab und nahm eine scharfe Rechtskurve. Wilson schlug das Herz auf der Zunge. »Fährst du immer so?«
Im Augenblick war es Helena völlig gleichgültig, was Wilson über sie dachte. Doppelt so schnell wie erlaubt näherten sie sich der M25. Wie aus dem Nichts erschien ein Streifenwagen in einer Seitenstraße und nahm die Verfolgung auf. Seine Scheinwerfer strahlten in den dichten Regen. Helena schaltete herunter und überlegte sich den besten Weg durch die überfüllte Kreuzung vor ihr. Anhalten kam nicht in Frage. Mit einer Hand am Steuer scherte sie auf die Gegenfahrbahn aus und sprang mit hoher Geschwindigkeit in die Lücken der Autoschlange.
»Ich habe schon die eine oder andere Verkehrsregel übertreten«, räumte sie ein.
Wilson zuckte jedes Mal entsetzt zusammen, wenn sie um Haaresbreite einem Zusammenstoß entgingen, während Helena quer über die Kreuzung fuhr und mit aufheulendem Motor die Autobahnzufahrt nahm. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte, dass der Streifenwagen verschwunden war.
Helena grinste spöttisch. »Guter Schachzug, findest du nicht?«
»Keine Ahnung«, antwortete Wilson. »Ich hatte die ganze Zeit die Augen zu.« Sie fuhren jetzt mit mehr als zweihundert Stundenkilometern durch den Autobahnverkehr, der stillzustehen schien.
»Wir sind noch ein paar Stunden von Stonehenge entfernt«, sagte Helena. »Mit diesem Wagen können wir jeden abhängen, wenn es sein muss.«
Wilson drehte den Kopf und musterte ihr Profil. »Du bist erstaunlich.«
»Oh, ich wünschte, es wäre so.«
»Du bist immer so … unerschütterlich.«
»Du meinst meine völlige Missachtung von Menschenleben?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Was dann?«, fragte sie ein wenig wütend.
»Das war anerkennend gemeint.«
Helena sah Visblats Gesicht vor sich und biss die Zähne zusammen. »Ich hätte den Bastard erschießen sollen, als ich die Gelegenheit hatte!«
»Warum fängst du immer wieder davon an?«
»Weil ich Dämonen in mir habe!«, stieß sie hervor. »Darum!«
Wilson war perplex. »Was meinst du damit?«
»Ich bin schon mal in der Situation gewesen«, sagte sie. »Vor etlichen Jahren. Und ich habe mir geschworen, dass ich so etwas nie wieder zulassen werde.« Wilson legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Helena versuchte sie abzuschütteln, doch Wilson ließ sie nicht los. In Wirklichkeit wollte sie seine Hände spüren; das war der einzige Grund, weshalb sie nicht anhielt und ausstieg.
»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte er.
»Ich war siebzehn«, begann sie zögernd.
»Erzähl weiter.«
»Meine Mutter und ich gingen zu einer Musicalaufführung in die Stadt, ins Palladium. Sie spielten Les Misérables. Wie passend«, meinte Helena sarkastisch. Sie jagte den Porsche über die Autobahn und blickte stur geradeaus. »Es ist seltsam, aber von der Vorstellung weiß ich fast nichts mehr.«
Wilson hörte zu und hielt den Mund.
»Wir waren so dumm«, sagte sie. »Unser Wagen sollte uns kurz nach elf abholen. Wir gingen durch den Hinterausgang, um dem Gedränge auszuweichen, und wurden in der Gasse überfallen.« Helena traten die Bilder des Geschehens vor Augen. Es war, als wäre sie wieder dorthin versetzt worden. »Ein paar Männer kamen auf uns zu … bloß ein paar Betrunkene, dachte ich damals. Sie fingen an, uns zu schikanieren.« Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, und sie hatte Mühe, weiterzusprechen. »Ich weiß nicht, wie es genau gewesen ist, aber die Handtasche meiner Mutter wurde aufgerissen, und ihre Pistole flog heraus. Sie landete vor meinen Füßen. Ich sehe sie noch auf dem Pflaster liegen …« Das Bild der 9mm Luger verfolgte sie seit zwölf Jahren.
»Ich habe sie aufgehoben«, sagte sie. »Ich hätte sie retten können …« Helena hob die rechte Hand und zielte auf die Windschutzscheibe, als hielte sie die Waffe in den Fingern. Der Porsche wurde rapide langsamer. »Ich versuchte abzudrücken.«
Helena schaltete zurück; dann beschleunigte sie erneut. »Ich geriet in Panik«, sagte sie zornig. Kurz verlor ihr Gesicht jeglichen Ausdruck. »Meine Mutter schrie, ich solle weglaufen. Ich höre sie noch immer.« Helenas Züge verzerrten sich. »Ich habe abgedrückt, aber es löste sich kein Schuss.« Tränen traten ihr in die Augen, und dann konnte sie nur noch flüstern. »Ich war so dumm. Der Schuss ging nicht los, weil die Waffe gesichert war.«
Sein Herz klopfte mit ihrem im Takt, als Wilson ihr den Nacken massierte. Tränen kullerten Helena über die Wangen.
»Ich bin nur davongekommen, weil ich die Waffe hatte. Meine Mutter nicht. Am nächsten Tag wurde sie gefunden. Die Männer hatten sie vergewaltigt und ermordet.«
Jetzt verstand Wilson vieles an ihr. Es war, als hätte sein nebulöses Wissen über sie Gestalt angenommen: die Waffen, das Bedürfnis, stets die Kontrolle zu behalten – das alles war mit einem Mal begreiflich. Er schaute sie an, und sie drehte ihm den Kopf zu. Das Mitgefühl für sie bestärkte ihn umso mehr in seinem Entschluss, die Schumann-Frequenz zu korrigieren. In ihren nassen Augen sah er eine Hilflosigkeit, eine Verletzlichkeit, die er noch nie gesehen hatte. Er würde die Szene nie vergessen: Wie sie ihn ansah, die Eindringlichkeit ihrer Gefühle … den unaufhörlichen Regen … die dämmrige Landschaft, die an den Fenstern vorbeizog.
Wilson griff in die Tasche und holte die ägyptische Münze hervor, die eine so wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatte. In ihr verbanden sich Vergangenheit und Zukunft. Das Schicksal. Er rieb die eingedellte Oberfläche zwischen den Fingern. »Helena, ich möchte, dass du sie behältst.«
Wilson erklärte ihr, wie er das Geldstück in der Zukunft bekommen hatte und wie es zu seiner Omega-Programmierung gekommen war.
»Das ist meine Schicksalsmünze«, sagte er. »Ich gebe sie dir, damit unser beider Zukunft miteinander verbunden ist.« Er schwieg einen Moment. »Ich möchte daran denken können, dass du sie hast.« Er drückte ihr das Geldstück in die Hand und schloss ihre Finger darum.
Miteinander verbunden reicht nicht, dachte Helena. Warum musst du unbedingt gehen?
»Alles hat seinen Grund«, sagte Wilson wie als Antwort auf ihre stumme Frage. »Das ist Schicksal. Und ich bin froh, dass du Teil meines Schicksals bist.«
Helena verließ die M25 und fuhr auf die M3. Die Regentropfen perlten über die Scheiben. Der Himmel wurde dunkler. Während der nächsten zwanzig Minuten sprachen sie kein Wort. Wilson ließ die Hand in Helenas Nacken.