13.
Houston, Texas
Memorial Towers, 14. Etage
26. November 2012
Ortszeit: 13.26 Uhr
Unternehmen Jesaja – zweiter Tag
Jetzt war es offiziell, schloss Helena, ihre Medizin war vollkommen nutzlos. In der vergangenen Nacht hatte sie zwei Beruhigungspillen genommen, weil Julia darauf bestanden hatte, doch die Pillen hatten die Visionen nicht verhindert und ihr stattdessen zusätzlich eine Migräne beschert. Sie war wütend. Zwei Monate ging das schon so. Zwei Monate!
Helena schritt vor der Glaswand auf und ab und drückte sich ein schnurloses Telefon ans Ohr. Sie wartete seit mehr als zwanzig Minuten und wurde von einem Dezernat ins nächste verbunden. Schließlich bekam sie Detective Olsen an den Apparat. Er war mehr als entgegenkommend.
Ihre Stimme war wie Sirup. »Vielen Dank, Detective, ich weiß das wirklich zu schätzen. Wie gesagt, es war nur ein kleiner Unfall, und ich brauche die Einzelheiten für meine Versicherung, wenn es möglich wäre.« Sie hatte den ganzen Vorfall erfunden, um an die Informationen zu gelangen, die sie haben wollte.
»Wirklich, es macht mir nichts aus zu warten.« Helena wechselte aufs andere Ohr. »Komm schon«, murmelte sie. Bei einem Blick auf die Uhr sah sie, dass Dr. Bennetswood jeden Moment erscheinen würde.
Die Bilder waren lückenhaft, doch sie erinnerte sich an einen alten weißen Ford. Aus irgendeinem Grund gehörte das Nummernschild – DRO-735 – zu den wenigen Details, die Helena sich ins Gedächtnis rufen konnte. Die Medizin erschwerte die Erinnerung, und sie fürchtete, dass sie Fakten verdrehte, wenn sie sie erzwingen wollte. Doch da sie sich ein bisschen mit Autos auskannte, vermutete sie, dass es ein Ford Impala gewesen war, wahrscheinlich ein spätes 70er Modell.
Nach ihren Visionen der vergangenen Nacht hatte der Mann, den sie immer sah, den Unfall irgendwie überlebt. Das war die einzige Erklärung. Er war am Leben, wenn auch schwer verletzt – und sie war noch mit ihm verbunden.
Die Minuten verstrichen.
Helena biss sich auf die Lippen und hörte sich die Musik in der Leitung an. Die monotone Melodie machte das Warten noch nervtötender. Dann kam er wieder an den Apparat.
»Ja, ich bin noch dran«, sagte Helena. »Ich habe einen Stift.« Sie wiederholte die Angaben. »Zugelassen auf einen George Washington, 23 Richey Road, Bordersville.« Die Autonummer entsprach genau der, die sie gesehen hatte.
»Sind Sie sicher, dass das stimmt?«, fragte sie, als fiele es ihr doch noch schwer, ihm zu glauben. »Vielen, vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich werde es meinem Vater sagen, versprochen.« Helena wollte schon auflegen, doch Olsen bot an, noch mehr für sie zu tun. »Nein, Detective, es ist nicht nötig, dass Sie jemanden hinschicken. Ich bin sicher, meine Versicherung wird die Sache erledigen. Wie gesagt, es geht nur um eine Beule in der Stoßstange.«
Olsen wollte einen Streifenwagen nach Bordersville schicken. Offenbar war Mr. Washingtons Fahrzeugschein seit ein paar Jahren abgelaufen, und er hatte Tausende Dollar an Strafzetteln offen.
»Detective«, sagte Helena bestimmt. »Es ist nicht nötig, etwas zu unternehmen, vielen Dank. Das ist keine Sache für die Polizei.«
Er wollte kein Nein akzeptieren.
»Es ist mir egal, was mein Vater möchte!« Sie wurde immer wütender. »Unternehmen Sie nichts. Sie haben genug getan. Vielen Dank!« Ohne auf Wiedersehen zu sagen, legte sie auf. »Zur Hölle mit dem Kerl!« Nach ihrer Erfahrung war die Polizei nie da, wenn man sie brauchte, und jetzt drängte sie sich geradezu auf.
Helena schaute aus dem Fenster über die Stadt. Wenn die Polizei in Bordersville auftauchte, würde das die Sache komplizieren.
Es klingelte an der Tür. Helena fluchte.
Julia bat Dr. Bennetswood herein, der zum Wohnzimmer schlenderte. Er war ein glatzköpfiger Mann Mitte vierzig mit gewölbter Brust und kurzen Beinen. In der Rechten hielt er eine schwarze Arzttasche. Mit seiner goldenen Rolex und dem klotzigen Solitärring von mindestens drei Karat wirkte er auf den ersten Blick abstoßend reich. Sein Anzug und die Krawatte waren olivbraun. Sehr trendy. Kein Anzug für jemanden, der nicht auffallen wollte. »Armani«, gab er stolz bekannt, wenn man ihn fragte.
Dr. Bennetswood war in der feinen Gesellschaft wohl bekannt; man betrachtete ihn als einen Psychiater, der Erfolge erzielte. Er hatte eine treue Kundschaft, und seit kurzem lief sein Geschäft besser denn je. Psychische Erkrankungen nahmen zu, sodass seine Lage sich von gut zu bestens steigerte.
Helena reagierte nicht auf sein Erscheinen. Sie schaute aus dem Fenster und dachte: bleiben oder gehen? Sie musste vorsichtig sein, das war ihr klar. Wie Dr. Bennetswood sie beurteilte, würde darüber entscheiden, ob sie den Weg in die Klinik und zu Conroe antreten musste, oder ob sie die Zeit haben würde, herauszufinden, was wirklich vor sich ging. Der Doktor setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander. Er würde nichts sagen, nur beobachten und warten, dass sie zuerst sprach. Seine Methode war ihr vertraut.
Helena lächelte würdevoll. »Wie geht es Ihnen, Doktor?«
»Guten Tag, Helena. Mir geht es gut. Aber wie geht es Ihnen?« Er deutete an, sie möge ebenfalls Platz nehmen.
Helena beschloss, zu kooperieren. So würde es einfacher sein. Sie gab sich Mühe, überzeugend zu klingen. »Unter den gegebenen Umständen recht gut.«
»Hmm.« Es folgte längeres Schweigen. »Arbeiten Sie mit mir. Sie stellen sich eine Zahl zwischen eins und zehn vor. Können Sie mir sagen, welche Zahl das ist?«
»Zehn«, sagte Helena rasch.
»Warum zehn?«
»Weil ich die Dinge gerne perfekt habe.«
»Aber warum zehn?«
»Warum nicht?«
Wieder folgte ein längeres Schweigen. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte er.
»Stärker.«
»Stärker?«
»Ja.«
Er zog eine Augenbraue hoch, als stellte er ihre Fähigkeit in Frage, die Wahrheit zu sagen. »Sie sehen müde aus. Ein bisschen dunkel um die Augen.«
Helena konnte es nicht leiden, wenn ihr die Leute so etwas sagten. Bei solchen Bemerkungen wird man sofort müde, dachte sie – er sollte das wissen! »Ja. Mag sein, dass ich ein bisschen müde bin«, antwortete sie und biss sich auf die Zunge.
Er zückte seinen goldenen Mont Blanc. »Wie schlafen Sie?«
»Nicht so gut.«
»Nehmen Sie Ihre Medizin?«
»Ausnahmslos.«
»Träumen Sie?«
»Ja, Doktor. In der Hinsicht wirkt die Medizin nicht so gut.«
»Tatsächlich?« Er wirkte überrascht und machte sich eine Notiz.
Helena wurde ungeduldig. Sie musste nach Bordersville, und sie bezweifelte, dass sie dieses Gespräch noch eine Stunde lang ertragen würde.
»Wie viele Tabletten und wann?«, fragte der Doktor.
»Gestern Abend habe ich zwei genommen.«
Er verzog das Gesicht. »Das hätte genügen sollen.«
Die Sitzung ging noch gut zwanzig Minuten so weiter, und Helena gab sich alle Mühe, überzeugend zu erscheinen. Doch je mehr er mit ihr sprach und sie ausfragte, desto mehr Angst hatte sie, das Haus zu verlassen.
»Ihr Vater sagt mir, Sie hätten gestern Visionen gehabt, während Sie wach waren.« Dr. Bennetswood drehte seinen Brillantring am Finger. »Warum erzählen Sie mir nicht davon?«
Helena war überzeugt, er würde daraus schließen, dass sie sich die Vorfälle aufgrund ihres früheren Traumas bloß einbildete.
»Möchten Sie nicht darüber sprechen?«
»Tut mir leid, Doktor. Vielleicht können wir uns morgen wieder treffen …?«
»Sagen Sie mir, was Sie empfinden. Das könnte Ihnen helfen.«
Das Letzte, was Helena zugeben wollte, war die übersinnliche Verbindung mit einem Mann, den sie gar nicht kannte – den sie zuerst für tot gehalten hatte und der es offenbar nicht war. Deshalb antwortete sie: »Tut mir leid, Doktor. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll.«
»Versuchen Sie es, Helena. Es könnte nützlich sein.«
»Entschuldigen Sie, Doktor«, seufzte sie. »Ich bin erschöpft. Bitte, können wir einen Termin für morgen vereinbaren?« Sie stand auf, um die Sitzung zu beenden.
Bennetswood wirkte verständnisvoll. »Ich finde, wir sollten das Gespräch fortsetzen. Sie wissen, dass ich in zwei Wochen Urlaub habe. Ich werde gut einen Monat lang weg sein. Wir sollten die Gelegenheit nutzen. Es wäre viel besser, wir würden fortfahren.« Er verschränkte die Arme und richtete sich auf ein längeres Gespräch ein. »Ich meine, es ist an der Zeit, wieder über Ihre Mutter zu sprechen.«
Helena konnte sich nicht zurückhalten und verdrehte die Augen.
»Wir müssen darüber reden, Helena. Es ist Zeit, dass Sie sich dem stellen, was passiert ist.«
Helena drehte sich weg. Sie wollte, dass er ging, damit sie nach Bordersville fahren und diesen George Washington finden konnte. Sie gähnte demonstrativ.
»Doktor, ich weiß, wie wichtig das ist. Wirklich. Aber im Augenblick fühle ich mich nicht danach. Bitte verzeihen Sie.« Sie ging auf ihr Schlafzimmer zu.
»Ehe Sie hineingehen …« Er griff in seine Tasche, holte eine orangefarbene Plastikflasche mit Tabletten heraus und stellte sie auf den Sofatisch. »Die sind ein bisschen stärker als die anderen. Damit werden Sie ganz bestimmt schlafen.« Er erklärte genau, welche Wirkstoffe sie enthielten und was sie bewirkten. »Wenn Sie eine genommen haben, dürfen Sie achtundvierzig Stunden lang nicht Auto fahren oder schwimmen. Und auch keine schweren Maschinen bedienen.« Er grinste sie an, als wäre das besonders lustig. »Aber das wird kaum vorkommen, würde ich sagen.«
Helena dankte ihm würdevoll und beschloss zugleich, keine einzige Pille zu nehmen.
Der Doktor schaute auf seine Rolex. »Ich werde einfach hier warten, wenn’s recht ist. Ihr Vater wird bald hier sein. Ich wollte ihn kurz auf den neuesten Stand der Dinge bringen.«
Der bloße Gedanke, dass diese beiden Männer über ihre Zukunft redeten, machte Helena wütend, doch sie brachte eine höfliche Erwiderung zustande. »Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Sie blickte zu dem Fläschchen mit den Beruhigungspillen, und die Zeit verlangsamte sich zum Schneckentempo. Ich muss mein Leben in den Griff bekommen, dachte sie, als wäre das eine neue Offenbarung. Widerwillig nahm sie die Pillen vom Tisch. Wenn ihr Vater erst da war, würde sie das Haus nicht mehr verlassen können. Vom Schlafzimmer kam man nur durchs Wohnzimmer nach draußen. Sie würde sich beeilen müssen, denn Lawrence kam häufig früher.
»Ich werde mit Julia sprechen und für morgen einen Termin abmachen«, sagte Dr. Bennetswood. »Wann passt es Ihnen?«
»Der Nachmittag wäre mir lieber«, sagte sie.
»Und machen Sie sich keine Sorgen«, fügte er hinzu. »Gemeinsam werden wir herausfinden, warum Sie nicht schlafen können.«
Helena verließ das Zimmer, warf die Pillen aufs Bett und zog eine schwarze, dreiviertellange Jacke an. Sie schloss den Waffenschrank auf, wählte eine Pistole, drehte sie geschickt um den Zeigefinger und steckte sie in das Holster, das in den Jackensaum eingenäht war.
Es war Zeit, die Wahrheit herauszufinden.
Helena holte tief Luft und betrat das Wohnzimmer. Auf ihr Erscheinen richtete sich der Doktor verblüfft auf.
»Ich dachte, Sie seien müde.«
»Ich mache nur einen kleinen Spaziergang. Ich brauche ein bisschen frische Luft.«
Ehe er etwas dazu sagen konnte, war sie durch die Wohnungstür verschwunden und im Aufzug.
Der Mercedes jagte aus der Tiefgarage und auf die Schnellstraße. Mit durchgetretenem Gaspedal und heruntergelassenen Scheiben gab sie die Adresse in das Navigationsgerät ein. Dann setzte sie sich die Sonnenbrille auf.
Innerhalb von Sekunden hatte sie eine hohe Geschwindigkeit erreicht und fädelte sich durch den dichten Verkehr. Die Bürobauten der Innenstadt wurden höher; die frühe Nachmittagssonne spiegelte sich in den Glasflächen. Helena blickte rasch nach links und rechts und überfuhr eine Kreuzung bei Rot. Der Wind toste durch den Wagen. Die blonden Haare wehten ihr um den Kopf.
»Ich werde herausfinden, was los ist«, sagte sie sich.
In den letzten beiden Tagen waren ihre Visionen klarer geworden. Vorher war sie im Schlaf mit seltsamen Symbolen überschwemmt worden und hatte ein beständiges Grollen gehört, wie von fernem Donner. Das Geräusch hätte sie beinahe verrückt gemacht, doch es hatte wunderbarerweise aufgehört. In den letzten beiden Tagen hatte sich alles geändert, und Helena war sicher, dass sie tatsächlich durch die Augen eines anderen sah. Es musste eine Art übersinnliche Verbindung sein. Allerdings begriff sie nicht, wieso. Zumindest schien jetzt alles in gewisser Weise real zu sein, auch wenn es dadurch nicht weniger absurd wurde. Würde sie den Mann aus ihren Visionen finden, würde sie sicherlich mehr verstehen. Und noch wichtiger war ihr die Bestätigung, dass sie nicht den Verstand verlor.
Der Mercedes ging mit hoher Geschwindigkeit in die Kurve, jagte in eine Unterführung und schoss wieder hinaus in den hellen Sonnenschein.
Hatte dieser Unbekannte eine besondere Bedeutung für sie? Helena grübelte über die Frage nach und stellte fest, dass sie kaum etwas empfand. Nur Gleichgültigkeit. Die einzige Empfindung, deren sie sicher sein konnte, war ihr Zweifel an der Wirklichkeit des Ganzen. Konnte dieser George Washington der Mann sein? Konnte er der Grund sein, dass ihr Leben aus den Fugen geriet, trotz der vielen Therapiesitzungen und der Medikamente, die sie akzeptiert hatte, um es durch die langen, quälenden Nächte zu schaffen? Schon bei dem bloßen Gedanken wurde ihr schlecht.
Während der Wind durch den Wagen wehte, wurde im Radio einer ihrer Lieblingssongs gespielt. Helena sang laut mit und versuchte, sich zu entspannen, doch bald drängten sich die gleichen Gedanken in den Vordergrund. Sie war wütend. Sie wollte wissen, warum ihr das alles passierte. Musste sie jemandem die Schuld daran geben? War es das? Ja, schloss sie, sie brauchte einen Feind. Wir Capriartys wissen, wie mit Feinden umzugehen ist.
Sie atmete tief durch und erkannte, dass es unklug war, voreilige Schlüsse zu ziehen. Trotz allem bestand die Möglichkeit, dass es Symptome von posttraumatischem Stress waren, wie Dr. Bennetswood immer behauptete. Zuerst galt es zu ergründen, ob es den Mann aus ihren Visionen wirklich gab. Dann wäre sie einen entscheidenden Schritt weiter.
Der Wagen begann zu vibrieren, als er mit Höchstgeschwindigkeit über die leere Autobahn jagte. Bordersville lag nördlich des internationalen Flughafens, und die Erwartung, etwas herauszufinden, spornte sie an, den Wagen bis an seine Leistungsgrenze zu treiben. Sie schoss über die Ausfahrt und trat auf die Bremse, sodass der Wagen schlingerte. »Richey Road«, sagte sie leise, als sie die schmale Straße hinunterfuhr.
Auf diesem Abschnitt der Straße gab es nur ein Haus – die Nummer 23, wie Detective Olsen gesagt hatte. Der Wagen kam am Straßenrand zum Stehen, und Helena schaute zu dem Grundstück. Hohe Sträucher und Unkraut versperrten die Sicht. Es waren nur die Umrisse eines grünen Mobilheims zu erkennen. Sie stieg aus dem Wagen und blickte in beide Richtungen, wo weder Autos noch Menschen zu sehen waren. Sie zog die Waffe, entsicherte sie und lief die Zufahrt hinauf.
Tief hängende Äste warfen fleckige Schatten auf den Boden. In den Büschen hingen zwei handgemalte Schilder: »Achtung, bissiger Hund!« und »Eindringlinge werden erschossen!«
Als Helena auf das Grundstück vordrang, schärfte sie ihre Sinne und griff fester um den Pistolenknauf. Ein Linienjet donnerte nur fünfzig, sechzig Meter hoch über die Baumwipfel hinweg. Das ohrenbetäubende Dröhnen umschloss sie. Alles bebte. Sie drehte sich hastig um die eigene Achse, ob jemand sie im Schutz des Lärms angreifen wollte. Endlich wurde es wieder ruhig, und Helena wartete einen Moment, bis ihr wild pochendes Herz sich beruhigt hatte.
Sie schlich bis zur Tür und klopfte gegen das Holz.
»Ist jemand zu Hause?«, rief sie. »Hallo? Ist da jemand?« Die Pistole hielt sie am Oberschenkel. Bis auf den Wind, der zwischen den hohen Gräsern flüsterte, herrschte auf dem verwahrlosten Grundstück Stille.
Auf Zehenspitzen versuchte sie, durch eine schmutzige Scheibe zu spähen, doch die Jalousien waren heruntergelassen. Sie öffnete die Fliegengittertür und drehte den abgegriffenen Türknauf. Es war abgeschlossen.
Sie sah sich um, ob sie etwas entdecken könnte, das ihrem Gedächtnis auf die Sprünge half. Nichts kam ihr bekannt vor. Gar nichts. Das Gefühl der Hilflosigkeit wuchs wie ein Geschwulst nagenden Zweifels in ihr. Vielleicht hatte sie eine Beruhigungspille zu viel geschluckt. Während sie über das Grundstück schlich, huschte ihr Blick von einem Gegenstand zum anderen. Schließlich blieb sie stehen. Was tat sie hier eigentlich?
Vielleicht werde ich doch verrückt.
Während sie sich an einen Wassertank lehnte und die Sonne warm auf ihre Jacke schien, überkam sie ein Gefühl tiefer Unsicherheit. Mit nichts dazustehen, nachdem sie so große Erwartungen gehegt hatte, machte sie wütend. Sie war sprachlos, dass überhaupt nichts dabei herauskam. Ein weiterer Linienjet brauste über sie hinweg, und sie sah ihm nach, bis er in der Ferne verschwunden war. Plötzlich wurde ihr bewusst: Dasselbe Bild hatte sie schon einmal gesehen! Gespannt lief sie zur Rückseite des Grundstücks. Das erste Puzzlestück fand seinen Platz.
Die Pistole vor sich haltend, schlich sie auf das Duschhäuschen zu und spähte durch die Tür. Der Boden war nass. Eine runde Mülltonne fiel ihr ins Auge. Als sie den Deckel mit dem Pistolenlauf anhob, fand sie ein schwarzes Kleiderbündel darin. Sie stocherte und wich vor dem fauligen Gestank zurück.
»Was ist das?«, murmelte sie und versuchte, sich an etwas zu erinnern. Sie ging auf ein Knie und spähte in einen Spalt am Fuß der Wand. Da hatte jemand etwas hineingesteckt. Das war der Moment, wo sie ohne jeden Zweifel wusste, dass sie nicht verrückt wurde. Sie zog einen Führerschein aus seinem Versteck und las den Namen: Jack Bolten.
Genau der Name, den sie erwartet hatte.
Das bedeutete, dass alles, was sie gesehen hatte, Wirklichkeit war.
Sie steckte die Plastikkarte in die Jackentasche, als ihr dämmerte, dass gerade diese Karte sie vor der psychiatrischen Anstalt bewahren könnte. Helena wollte vor Freude laut loslachen, starrte aber nur auf die Kleidungsstücke in der Mülltonne. Der Mann aus ihren Visionen – Jack Bolten vielleicht? – hatte den Unfall auf der 610 überlebt; seine zerrissenen Sachen waren der Beweis. Wie war das möglich? Wie hatte er diese Gewalteinwirkung überstehen können? Und noch wichtiger: Wo war er jetzt? Nach dem bisherigen Verlauf der Dinge zu urteilen, würde sie es bald durch eine Vision erfahren – höchstwahrscheinlich, wenn sie ihre Medikamente vollständig absetzte.
Schon ein wenig entspannter ging Helena über die Auffahrt zu ihrem Wagen. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als erneut ein Jet über sie hinwegdonnerte.
Kaum war das Geräusch verklungen, hörte sie es im Gras knurren. Einen Augenblick später sprangen zwei Dobermänner aus einem Gebüsch, um sie anzugreifen. Helena zielte abwechselnd auf die knurrenden Tiere. Gerade als sie abdrücken wollte, rief jemand: »Stopp!«
Die Hunde machten so abrupt Halt, dass sie sich beinahe überschlagen hätten. Helenas Finger entspannte sich. Ihr Blick schweifte zu einem schmächtigen schwarzen Mann mit Rastalocken, der eine doppelläufige Schrotflinte vor der Brust hielt. Er zog beide Hähne zurück, um seine Ansprüche zu verdeutlichen.
»Wer sind Sie, Frau?«
Während Helena weiter auf die nervösen Hunde zielte, warf sie einen Blick auf die Flinte. Sie war in einem erbärmlichen Zustand; der Lauf rostete.
»Was tun Sie auf meinem Grundstück? Antworten Sie, Frau!«
»Ich habe Sie schon mal gesehen«, sagte Helena freundlich. Sie schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn, um den Mann besser betrachten zu können.
In diesem Moment hörten die Dobermänner zu knurren auf und trotteten zu ihrem Herrn, um sich zu seinen Füßen ins Gras zu legen.
»Nicht schon wieder!«, stöhnte George.
»Sie heißen George Washington, nicht wahr?«
»Runter von meinem Grundstück!«, rief er und versuchte, seinen Schreck zu verbergen.
Helena sah jetzt hinter ihrem Wagen einen weißen Ford an der Straße stehen. Es war der Ford aus ihrer Vision. »Im Kofferraum Ihres Wagen ist ein Mann mitgefahren, Mr. Washington. Sie haben ihn duschen lassen – da drüben.« Sie zeigte auf das Duschhäuschen.
»Runter von meinem Grundstück!«, brüllte George.
»Erst wenn Sie mir gesagt haben, was ich wissen will.«
»Zwingen Sie mich nicht, die Waffe zu benutzen!«
»An Ihrer Stelle würde ich damit sowieso nicht schießen«, sagte sie ruhig. »So wie das Ding aussieht, stehen die Chancen gut, dass die Ladung eher Ihnen ins Gesicht fliegt als mir.«
George schaute bestürzt auf seine Flinte. »Was stimmt nicht damit?«
Helena senkte die Waffe. »Ich will Ihnen nicht schaden, Mr. Washington. Erzählen Sie mir nur, was aus dem Mann geworden ist, der in Ihrem Kofferraum lag.«
»Welcher Mann?«
»Sie mussten ihn mit einer Brechstange öffnen.«
»Brechstange? Ich weiß nichts von einer Brechstange.«
»Sie haben Schachteln mit Morphium im Wagen, nicht wahr?« Ihr fiel alles wieder ein.
»Sie haben mich beobachtet!«, schnauzte er und zeigte auf die Sträucher.
Nachdem Helena nun sicher war, dass alles der Wahrheit entsprach, fühlte sie sich seltsam leer und erschöpft. »Ich heiße Helena Capriarty«, sagte sie. »Und ich versichere Ihnen, ich bin genauso verwirrt wie Sie.«
Georges Hunde liefen ihm um die Beine und genossen die Sonne. Er blickte sie frustriert an. »Zwei Mal an einem Tag! Was ist nur mit euch los? Ich besorge mir zwei neue Hunde. Jawohl, echte Hunde, die mich und mein Haus bewachen! Mit euch beiden bin ich fertig!« Die Tiere neigten den Kopf zur Seite, als wollten sie verstehen, was er redete.
»Der Mann, der heute bei Ihnen war – wo ist er hin?«, fragte Helena.
»Sagen Sie es mir.«
»Heißt er Jack Bolten?«
Perplex verzog George das Gesicht. »Was reden Sie denn da? Der einzige Jack Bolten, den ich kenne, arbeitet in der Radiologie.«
Dann musste der Führerschein gestohlen sein. Helena kam eine verschwommene Erinnerung. Darum wurde er in den Wandspalt gesteckt!
»Sie arbeiten im Krankenhaus, nicht wahr?«, fragte sie.
»Das können Sie mir nicht nachweisen.«
»Daher haben Sie das Morphium.«
»Das können Sie alles nicht beweisen!«
»Das Morphium interessiert mich nicht, das kann ich Ihnen versichern. Sagen Sie mir nur, wo der Mann ist. Der Mann, der voller Blut war. Darum bin ich hier. Wo ist er?«
»Ich sage Ihnen gar nichts.«
Plötzlich starrte George die junge Frau offenen Mundes an.
»Moment mal!«, sagte er anklagend. »Sie sind das! Sie haben einen Mann mit roten Haaren, stimmt’s? Ja, Sie sind die verdorbene Schlampe!«
Die Bemerkung war Helena unbegreiflich.
Er zeigte auf sie. »Sie sind das, stimmt’s?« In allen Einzelheiten sah er sie auf dem Küchentisch vor sich – nackt, voller Schlagsahne, das volle Programm. »Sie sind die, von der Wilson mir erzählt hat.«
»Er heißt Wilson?«
»Kommen Sie mir nicht so, Frau. Sie wissen, dass er so heißt!«
»Wo ist er?«, fragte sie noch einmal.
George blickte auf seine Uhr. »Sie kommen zu spät, Gott sei Dank! Wilson ist nicht mehr hier, Sie Lügenprinzessin!« George drohte ihr herablassend mit dem Finger. »Er hat mir alles über Sie erzählt – über die Schlampe, die ihn mit Blut begossen hat. Ihren Mann habe ich auch gesehen! Der ist wirklich hässlich. Sind Sie blind oder was?«
Helena hob die Pistole. »Sagen Sie mir, wo Wilson ist!«
»Fass!«, schrie George. »Fass!«
Helena wappnete sich.
Doch nichts geschah.
Die beiden Tiere waren offensichtlich unruhig, doch ihre Aufmerksamkeit galt allem, nur nicht Helena und der Pistole, die sie auf ihren Herrn gerichtet hielt.
»Fasst, ihr dämlichen Köter!«
Seltsamerweise reagierten die Hunde gar nicht.
Helena nutzte die Gelegenheit zu einem Ausfall und entwand George die Flinte, die sie auf den Boden warf. »Sie haben mich sehr wütend gemacht, Mr. Washington.« Sie hob die Waffe und zielte auf seine Stirn. »Sie werden mir alles sagen, was ich wissen muss. Ist das klar? Ich will Auskunft haben, und ich will sie jetzt!«
George hob zögerlich die Hände hoch. »Wilson hatte recht«, brummte er. »Sie sind ein durchgeknalltes Miststück.«