35.

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Mercury Building, 2. Etage
19. Mai 2081
Ortszeit: 19.12 Uhr
4 Tage vor dem Transporttest

Barton war mit der Frage beschäftigt, wie er die Temperatureingabe für die Transportkapsel reprogrammieren sollte. Darum hörte er kaum zu, was rings um ihn gesprochen wurde. Das Mercury-Team zu täuschen würde nicht leicht sein, das war ihm klar. Sie kannten sich mit sämtlichen Messwerten und ihren Wirkungen aus. Es gab nur eine Möglichkeit, Wilson fünfundsiebzig Jahre in die Vergangenheit zu schicken: Er musste dafür sorgen, dass der Transportbehälter siebzehn Grad wärmer war als angezeigt.

Karin, Barton und Davin saßen auf den blauen Sofas von Bartons »Diskussionsbereich« und tranken grünen Tee, während im Hintergrund die Wellen leise rauschten. Ihre Besprechung dauerte nun schon zwei Stunden. Über ihnen hing ein holographischer Bildschirm. Er zeigte Daten der Transportsimulation, die auf unterschiedliche Segmente verteilt waren.

Davin wusste, dass Barton mit den Gedanken woanders war, und sagte bereits zum zweiten Mal: »Hören Sie mir zu, Barton. Wenn wir Wilson transportieren, ohne eine Veränderung an ihm vorzunehmen, wird er bei dem Prozess sehr wahrscheinlich geschwächt.«

Barton kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Entschuldigen Sie. Was haben Sie gesagt?«

»Wilson könnte bei dem Prozess geschwächt werden«, sagte Davin.

»Was würde das nach sich ziehen?«, fragte Karin.

Davin reinigte seine Brillengläser mit einem kleinen Tuch. »Nun, das hängt davon ab, wie weit er durch die Zeit reist.«

Das ließ Barton aufhorchen. »Wieso das?«

Davin setzte sich die Brille wieder auf. »Meine Simulationen zeigen an, dass die Zeit wie ein Filter wirkt. Das hängt mit der Magnetfrequenz der Erde zusammen. Zum Glück schicken wir Wilson nur über eine kurze Distanz. Dreißig Minuten voraus ist fast nichts. Dennoch deuten meine Untersuchungen darauf hin, dass er nach dem Transport Angriffen ausgesetzt sein wird.« Davin stellte sich hinter das Sofa und machte ein paar Tai-Chi-Übungen. Sein Hemd hing über der Hose, sein Kittel war zerknautscht. »Ich habe Berechnungen angestellt.« Davin hielt nach drei Bewegungen inne, offenbar strapaziert von dieser minimalen Kraftanstrengung, und rieb sich den Bauch. »Es besteht die Möglichkeit, dass er optischen trakenoiden Reaktionen ausgesetzt ist.«

Das war das Letzte, was Barton hören wollte.

»Das Militär hat umfassende Studien zu dem Phänomen betrieben«, fügte Davin hinzu.

Karin tippte auf ihrem Handheld und brachte zusätzliche Informationen auf den Bildschirm. »Warum passiert das?«, fragte sie interessiert.

»Die Augen sind äußerst komplexe Gebilde der Signalumwandlung«, erklärte Davin. »Sensorische Bahnen, die sogenannten optischen Trakenoide, die im Auge enden, hören auf, Botenstoffe auf bestimmte Strahlen der Iris abzugeben. Wir interpretieren diese fehlenden Strahlen unbewusst als Angst. Alle Menschen, auch wir drei, sind biologisch darauf programmiert, auf jeden feindselig zu reagieren, der auf diese Weise eine extreme Schwäche erkennen lässt.«

Davin blickte zum Bildschirm hoch. »Das ist ein Urinstinkt. Er geht auf den karnivoren Hintergrund der menschlichen Evolution zurück. Wenn ein Tier verendet, findet in seinen Augen keine Sekretion bei den optischen Trakenoiden mehr statt. Das verstärkt in uns den Wunsch, es zu töten. Das ist der Grund, warum Serienmörder immer wieder den Wunsch verspüren, Menschen umzubringen. Sie werden süchtig danach, diese Reaktion in den Augen zu sehen, kurz bevor der Tod eintritt. In dem Zusammenhang wurde das Phänomen zuerst entdeckt – bei Untersuchungen an Serienmördern.«

Über das Data-Tran-Segment liefen seitenweise vertrauliche Informationen.

Barton hörte gespannt zu und gab sich alle Mühe, seine Aufregung zu verbergen.

»Ich habe darüber mal etwas gelesen«, sagte Karin. »Das ist auch der Grund, warum man jemanden auf den ersten Blick scheinbar grundlos verabscheuen kann.«

Davin deutete auf das Schaubild in der oberen linken Ecke des Bildschirms. »So sieht eine geringe trakenoide Reaktion aus. Wenn es ein Ungleichgewicht oder eine Diskrepanz in den Strahlen der Iris zwischen beiden Augen gibt, kann das eine negative Reaktion hervorrufen. Ein geringes Missverhältnis kann schon durch Krankheit, Stress, Antriebsarmut ausgelöst werden. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, wovon ich hier spreche – die Möglichkeit einer Nullsekretion der Trakenoiden.« Er zeigte auf das obere Ende der Skala. »Die Wirkung wäre unkalkulierbar. Wie gesagt, bei den Streitkräften wurden etliche Untersuchungen durchgeführt.«

Karin gab etwas in ihr Handheld ein. »Warum war das Militär so interessiert?«, fragte sie.

»Man wollte herausfinden, wie sich die Takenoide verstärken lassen«, antwortete Davin. »Sie sehen, die Sache funktioniert auch umgekehrt. Mit den richtigen Modifikationen konnte man Personen erzeugen, deren Anblick Angst einjagt. Der Plan sah vor, Soldaten zu erschaffen, die bei jedem Furcht auslösen, der ihnen in die Augen sieht.«

»Supersoldaten«, flüsterte Karin. Sie verstand das genau.

Barton analysierte die Informationen. »Sie meinen also, Wilson wird gefährdet sein?«

»Nein, ich will das nicht kategorisch behaupten.« Davin zeigte auf das schwebende Hologramm. »Meine Simulationen ergeben eine dreiundzwanzigprozentige Chance für ein geringes Problem. Seien wir froh, dass wir Wilson nicht in die Vergangenheit schicken. Sonst würde die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Reaktionen auf hundert Prozent hochschnellen – je nachdem natürlich, wie weit man ihn zurückschicken würde.«

»Dreiundzwanzig Prozent ist nicht schlecht«, meinte Barton. Aber er wusste, dass Wilson bei seiner Zeitreise mit hundert Prozent konfrontiert sein würde.

»Warum erhöht sich die Wahrscheinlichkeit dermaßen, wenn man in die Vergangenheit reist?«, fragte Karin.

»Nach unseren Ergebnissen – Andre hat mit mir zusammen daran gearbeitet – wird es umso schlimmer, je weiter man zurückgeht. Das hat mit der Magnetfrequenz der Erde zu tun, mit der sogenannten Schumann-Resonanz.«

Barton schluckte und versuchte angestrengt, seine Verblüffung zu überspielen.

»Durch den Transportprozess«, fuhr Davin fort, »der das Magnetfeld der Erde als Abschussrampe benutzt, geht ein winziges Element bei der Wiederherstellung verloren.«

Barton war erstaunt. Was hier als Ursache genannt wurde, war genau das, was Wilson bei seiner Zeitreise korrigieren sollte.

Karin sagte: »Wie gut, dass wir ihn nicht in die Vergangenheit schicken wollen.«

Während der nächsten zehn Minuten erörterten die drei, wie die optischen Trakenoide funktionierten, und sahen sich die Daten an, die sie von den Streitkräften erhalten hatten.

»Nur interessehalber«, sagte Barton. »Wie können wir eine trakenoide Reaktion verhindern?«

Davin ließ sich in seinen Sessel sinken. »Es gibt zwei Methoden, die ich empfehlen würde. Eins: Wir können eine molekulare Rekonstruktion von Wilsons DNA vornehmen, um seine Trakenoiden zu verstärken. Aber dafür haben wir nicht die Zeit. Zwei: Wir geben ihm speziell gefertigte Kontaktlinsen. Das ist wohl das Einfachere. Sie wären relativ problemlos herzustellen. Nach dem Transport können wir uns seine Trakenoiden ansehen und sie wenn nötig unter Laborbedingungen verstärken. Ohne Risiko. Es sollte kein Problem sein, sie hinterher zu rekalibrieren, wenn Schwierigkeiten auftauchen.«

»Wenn er die Augen bedeckt, ist er also sicher?«, fragte Barton.

»Eine dunkle Sonnenbrille würde genügen. Alles, was die Iris abdeckt. Permanente Kontaktlinsen sind ein bisschen komplizierter, aber sie sind die Mühe wert. Eine Brille ist zu hinderlich. Sie kann herunterfallen, und dann hätten wir ein Problem.« Davin zeigte auf seine Augen. »Die Reaktion wird nur durch direkten Blickkontakt ausgelöst. Darum würde ich getönte Kontaktlinsen vorschlagen. Wir sollten kein Risiko eingehen.«

Ein Telefon klingelte, und Karin sprang von ihrem Platz auf.

Barton nickte. »Davin, Sie haben recht – auf ein Risiko dürfen wir uns nicht einlassen. Machen Sie sich an die Herstellung der Linsen.«

Karin drückte die Hand auf die Sprechmuschel. »Barton, GM möchte Sie sprechen.«

Barton wunderte sich, blieb aber gelassen. »Sagen Sie ihm, ich bin unterwegs.«

»Er möchte, dass Sie Mr. Dowling mitbringen.«

Barton brachte ein Lächeln zustande – die Sache gefiel ihm gar nicht. »Sagen Sie ihm, wir werden in einer halben Stunde bei ihm sein.« Wie es schien, stellte sich immer gleich ein neues Problem ein, sobald man eines gelöst hatte.