10.

Houston, Texas
Harris-Bezirkskrankenhaus, 2. Etage
16. November 2012
Ortszeit: 1.01 Uhr
Unternehmen Jesaja – zweiter Tag

Siebzehn Stunden nach seinem Unfall wickelte Wilson sich den Verband von den Augen. Nach und nach kam die dunkle Umgebung in sein Blickfeld. Er lag auf dem Rücken in einem Krankenhausbett mit einer Infusion im Arm. Es roch stark nach Desinfektionsmittel. Er hatte einen Verband um den Oberkörper; seine Beine steckten in schweren Plastikschienen. Was er von seiner Kleidung sehen konnte, war blutverkrustet und zerrissen.

Das Krankenhauszimmer war dunkel; nur durch ein kleines Fenster in der geschlossenen Tür fiel ein wenig Licht. Durch dieses Fenster konnte er ab und zu die Schatten von Leuten sehen, die draußen auf dem Gang vorbeiliefen. Zum Glück hatte er keine Schmerzen, doch er wusste, dass er von der Wirkung des Nachtigall-Programms ein wenig betäubt war. Er spürte nur das konstante Brennen, das dieser Befehl immer nach sich zog. Als er sich an der Taille in die Haut kniff, sah er zumindest, dass sein Speck aufgezehrt war. Das Heilungsprogramm hatte seine Reserven aufgebraucht. Und wenn es sich noch länger fortsetzte, würde er nicht mehr die Kraft zum Gehen haben, geschweige denn zur Flucht.

Er durchsuchte seine Taschen und stellte fest, dass die Sonnenbrille fehlte.

»Beende Nachtigall«, flüsterte er.

Das Brennen ließ langsam nach, und Wilson wappnete sich für das Kommende. Er rechnete mit etwas Unerträglichem, doch die Wirkung schien nur gering zu sein – ein ziehender Schmerz im unteren Rücken und in den Beinen, ein bisschen Muskelkater, wahrscheinlich durch die Bildung von Milchsäure. Die Frage war: Hatte er dem Heilungsprozess genug Zeit gelassen?

Er rückte bis an die Bettkante. Auf seiner Haut spannten die verschorften Stellen, als er die Beine zögerlich zum Boden balancierte. Nachdem er sich die Kanüle aus dem Arm gezogen hatte, setzte er sich versuchsweise auf und machte sich daran, die Oberschenkelschienen abzuschnallen. Er setzte die nackten Füße auf den Boden, prüfte, ob sie ihn trugen, und stellte sich hin.

Wilson war zutiefst erschöpft. Und obwohl er keine starken Schmerzen verspürte, erkannte er an den blutigen Verbänden, dass er ernsthafte Verletzungen hatte. Der Moment des Aufpralls, als der Wagen ihn erwischt hatte, schoss ihm durch den Kopf, und er zuckte zusammen.

Er hatte verdammtes Glück gehabt.

Am rechten Handgelenk befand sich einer roter Draht mit einer Haftelektrode; er führte zum Herzmonitor auf dem Nachttisch. Ein kleines Licht zeigte einen Puls von hundert Schlägen pro Minute an. Während Wilson darauf achtete, dass die Elektrode sich nicht löste – möglicherweise wurde dadurch ein Alarm ausgelöst –, humpelte er zur Tür und spähte durch das Sichtfenster. Gegenüber vom Gang saßen zwei Frauen hinter einem hohen Pult. Wilson konnte nur die Haare sehen und ihre Stimmen hören. Er sank auf ein Knie, mehr aus Schwäche denn aus Vorsicht, und zog die Tür einen Spalt weit auf, als am Stationsempfang das Telefon klingelte.

»Schwesternzimmer«, meldete sich eine der Frauen. Es folgte eine lange Pause. »Ich werde nachsehen«, sagte sie. Wilson hörte sie tippen. »Ja, Patient 456 liegt gegenüber auf dem Gang. Warum fragen Sie?« Wilson blickte auf das Formular am Bettende. Da stand: Patient 456.

»Ja!«, sagte die Frau überrascht. »Zimmer 22a. Er liegt auf dem Gang gegenüber, im ersten Stock des B-Flügels.«

Jemand fragte nach ihm, begriff Wilson. Er sah sich in seinem Zimmer um und versuchte hastig, sich einen Fluchtplan auszudenken – einen Weg, wie er lebend nach draußen gelangen könnte.

Die Frauenstimme redete weiter. »Ich rufe seine Werte auf.« Wieder folgte eine Pause. »Ich verstehe. Ja, er ist am Leben. Kommen Sie nur so schnell Sie können.«

Wieder schaute Wilson sich hastig um. Da standen ein einzelnes Bett, ein Nachttisch, ein Herzmonitor und ein Stuhl. Die Deckenfliesen waren zu hoch, als dass er sie erreichen könnte, selbst wenn er den Stuhl aufs Bett stellte und hinaufstiege. Er hätte sowieso nicht die Kraft. Wilson überlegte, sich einen Kissenbezug überzuziehen und sich aus dem Staub zu machen. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto dümmer kam es ihm vor. Sein Blick fiel auf die Steckdosen an der Wand und auf die tropfende Infusionsnadel.

Ihm kam eine Idee.

Wilson humpelte zum Nachttisch und schob ihn zur Seite. Die Hälfte der Steckdosen war mit blauen Verkleidungen gekennzeichnet, die anderen mit roten – zwei unabhängige Stromnetze. Er griff nach dem Injektionsschlauch, führte die Kanüle in eine blaue Steckdose und drückte auf den Beutel mit der Salzlösung, sodass die Lösung in die Steckdose lief; dann verfuhr er mit einer roten Steckdose genauso. Er schloss die Augen, einen Finger an jedem Schalter, und schaltete beide ein.

Ein greller Blitz schlug aus der Wand und versengte ihm die Arme. Japsend sprang er zurück. Auf dem Gang erlosch das Licht. Alles war stockdunkel.

»Aktiviere Opossum«, befahl er.

Das Blut floss zu den lichtempfindlichen Zellen im Augenhintergrund, zur Macula lutea, und verstärkte sich zum maximalen Druck. Seine Iris dehnte sich voll aus, als die natürlichen Reserven von Vitamin A den Sehnerv anregten. Sein nächtliches Sehvermögen wurde verstärkt, und das Zimmer wurde in Grauabstufungen sichtbar.

Zeit war entscheidend. Als Wilson durch das Sichtfenster auf den Gang spähte, sah er die beiden Schwestern, wie sie sich ängstlich aneinander festhielten. Leise zog er die Tür auf und humpelte hinaus.

»Hast du das gehört?«, fragte eine, die offenbar ein gutes Gehör hatte.

»Er kann nicht laufen. Er ist zu schwer verletzt«, flüsterte die andere.

Wilson schlich mit ein paar Metern Abstand auf die Treppe zu. Alles kam ihm wie ein bizarrer Traum vor. Durch die Zeit hierher gereist zu sein war schon absurd, die blutigen Verbände um seine Brust waren geradezu lächerlich. Seine zerrissene Kleidung – und dass er jetzt im Dunkeln sehen konnte – war so verrückt wie ein albernes Kinderspiel. Trotzdem gab er sich verzweifelt Mühe, die Situation nüchtern zu betrachten. Konzentrieren, ermahnte er sich immer wieder. Konzentrieren.

Humpelnd gelangte er zur Treppe und griff ans Geländer. In dem Moment schnauzte eine Männerstimme von unten: »Bewegung! Bewegung!« Es folgten der Klang schneller Schritte und Geschrei.

Wilson spähte über das Geländer. Unter ihm tanzten die Strahlen von Taschenlampen durch den Hausflur.

»In den ersten Stock!«, brüllte jemand. »Im Laufschritt!«

Es war eine Gruppe Soldaten, die sich näherte. Jeder trug ein Gewehr und eine helle Stablampe, deren Strahlen wie Laser durch die Dunkelheit schnitten. Wilson wich vom Geländer zurück und auf einen angrenzenden Flur, wo er sich erschöpft in eine kleine Nische neben einen Wasserspender drückte. Er konnte nicht rennen, selbst wenn er gewollt hätte. Die Lichtkegel kamen näher. Er musste sich die Augen zuhalten, um sie vor der Helligkeit zu schützen.

Eine schrille Stimme schrie: »Hierher!«, und die Lampen schwenkten in die andere Richtung. »Beeilen Sie sich«, rief die Schwester und zeigte über den Flur. »Er ist da drin.«

Der Polizeisergeant sammelte seine Leute im Halbkreis um die Tür von Nummer 22a. »Denken Sie daran: Er darf nicht verletzt werden. Nicht schießen!« Alle Lampen richteten sich auf die Tür mit Ausnahme von einer, die ständig in das Gesicht der Krankenschwester leuchtete, die ihnen den Weg zeigte. Der Sergeant wollte sich vergewissern. »Ist er allein da drin?«

»Ja.«

Der Sergeant hielt drei Finger in die Höhe. »Auf mein Zeichen. Drei … zwei … eins!«

Krachend flog die Tür nach innen.

Wilson tat alles weh, als er die letzte Treppe zum Erdgeschoss hinunterschlich. Je länger er auf den Beinen war, desto schlechter ging es ihm. Die Glastür, die vor ihm lag, trug eine Aufschrift in roten Buchstaben: Achtung! Diese Tür ist alarmgesichert. Nur im Notfall benutzen.

»Das ist eindeutig ein Notfall«, flüsterte er.

In dem Moment, als er die Tür aufstieß, schrillte der Alarm. Ein nervtötender Lärm, der jedoch verstummte, als die Tür hinter ihm zuschlug. Draußen in der nächtlichen Kälte verwandelte sein Atem sich in weißen Dunst, während er sich einen faustgroßen Stein in den Blumenbeeten suchte. Plötzlich sah er flackernde Lichtflecke in den Krankenhausfenstern; dann war das Haus wieder voll erleuchtet. Die Helligkeit schmerzte in seinen lichtempfindlichen Augen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als seinen Omega-Befehl zu widerrufen.

Schwer atmend humpelte Wilson auf den Parkplatz, wo mindestens achtzig Wagen standen. Er sammelte seine letzten Kräfte und schlug bei dem Wagen, der ihm als Erster ins Auge fiel, mit dem Stein die Scheibe auf der Beifahrerseite ein. Das Glas zersplitterte und fiel auf den Sitz. In der Ferne hörte er Polizeisirenen heulen, als er das Handschuhfach durchwühlte. Zu seiner großen Erleichterung fand er das Gesuchte: eine dunkle Sonnenbrille. Die Brieftasche, die er ebenfalls an sich nahm, war ein Bonus.

Wilson zog sich aus dem Wagen zurück, drückte die Tür zu und legte sich auf den Boden. In dieser Deckung wickelte er sich hektisch die Verbände ab. Erstaunlicherweise kamen keine Verletzungen zum Vorschein. Überhaupt keine. Der einzige Rückstand war angetrocknetes Blut auf der Haut.

Am anderen Ende des Parkplatzes näherten sich leuchtende Taschenlampen. Wilson blickte suchend um sich. Sie kamen von überall! Alles war so schnell gegangen – Wilson hatte noch keinen Moment Zeit gehabt, sich zu fragen, warum er verfolgt wurde. Er knüllte das Verbandszeug zusammen und warf es von sich, so weit er konnte. Er wollte rennen, doch die Lichter schienen jeden Fluchtweg anzuschneiden.

Ein Polizist des Sondereinsatzkommandos schlich zwischen den parkenden Wagen hindurch. Er trug eine schwarze Uniform – Kevlar-Weste, Cargohosen, Mütze und Handschuhe. Am Lauf seines Sturmgewehrs war eine leistungsstarke Lampe befestigt. Plötzlich knirschten Scherben unter seinen Stiefeln.

Er drückte das Mikro an seinem Headset. »Hier Alpha Drei«, sagte er leise. »Ich habe etwas gefunden.«

Innerhalb von Sekunden war ein Dutzend Männer bei ihm, teils Spezialkräfte, teils örtliche Polizisten. Alpha Drei zeigte mit dem Gewehrlauf auf die eingeschlagene Scheibe. »Da ist Blut auf dem Sitz«, sagte er.

Captain Ronald Hall, Leiter der Sondereinsatzkräfte, drängte sich zum Wagen und spähte hinein. Mit zackiger Handbewegung befahl er seinen Leuten, weiterzumachen. Sie gehorchten, ohne zu fragen, und verschwanden in der Dunkelheit. Bei einem vollen Personaleinsatz wie diesem führte er das Kommando. Es war seine Aufgabe, den Flüchtigen zu fassen.

»Die anderen zurück zum Krankenhaus!«, rief er.

Überall war Polizei.

Halls Headset knisterte. »Hier Alpha Fünf. Ich habe etwas gefunden.«

Scheinwerfer richteten sich keine zehn Meter weiter auf einen Kollegen. Er zeigte mit dem Gewehr auf den Boden. »Verbandszeug«, sagte er, zog sich einen Handschuh aus und drückte den Handrücken an die Verbände. »Ist noch warm.«

Der Flüchtige konnte nicht weit sein.

Ein Polizist, der aus der Nähe zusah, lehnte sich lässig gegen den Kofferraum eines rostigen weißen Fords. Unter seinem Gewicht schnappte das Schloss ein.

Der Mechanismus schloss sich direkt über dem Kopf des erschrockenen Wilson. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, den Deckel zu schließen. War er entdeckt? Er verhielt sich vollkommen still in dem engen Raum und wagte kein Geräusch zu machen.

»Konzentrieren Sie die Suche Richtung Alpha Fünf«, sagte Captain Hall in sein Headset. Als er den Sprechknopf losließ, drehte er sich zornig zu dem Polizisten um. »Ich sagte, zurück zum Krankenhaus! Das ist ein Befehl!« Er konnte die Polizei des Harris County nicht leiden – sie waren arrogant und verweichlicht und kamen einem dauernd in die Quere.

Der Angesprochene deutete nervös auf den Kofferraum des Ford und blickte fragend auf das Schloss. »Ich glaube, das sollten Sie …«

Captain Hall packte den Mann am Hemd, um jedes Missverständnis auszuschließen. »Ich sagte, zurück zum Krankenhaus! Ich weiß, was ich tue!« Er stieß ihn in die entsprechende Richtung. »Das ist ein Befehl!« Er war nicht in der Stimmung, sich auf der Nase herumtanzen zu lassen.

Wie befohlen lief der Polizist zu dem Gebäudekomplex.

Wilson wagte nicht, sich zu rühren, als dünne Lichtstrahlen durch die rostigen Löcher des Autoblechs schienen. Die Sekunden tickten. Aus irgendeinem Grund hatten sie ihn noch nicht entdeckt. Der Kofferraum war beladen mit kleinen Pappschachteln. Leise hielt er eine in einen der Lichtstrahlen. Die Aufschrift lautete: Pharmazeutisches Morphium, fünfzig Ampullen.

Draußen huschten die Einsatzkräfte über den Parkplatz zur Rückseite des Krankenhauskomplexes. Sie bewegten sich schnell und verstohlen, fanden aber nichts. Der Flüchtige muss schwer verletzt sein, dachte Hall. Wie kann er sich dann so schnell fortbewegen?

»Wir müssen die Wagen durchsuchen«, schlug Lieutenant Goodman vor. »Er muss hier noch irgendwo sein.«

Hall sah auf die Uhr; dann nickte er. »Aber schnell. Uns läuft die Zeit davon.«

Kurz darauf standen Polizisten paarweise mit gezogener Waffe an jeder strategischen Ecke des Hauptgebäudes. Durch die Doppeltüren wurde eine Schar von Krankenhausangestellten in die kalte Nacht geschickt.

»Warum schleppen Sie uns nach draußen?«, fragte einer.

»Wer soll sich um die Patienten kümmern?«, wollte ein anderer wissen.

Es waren Ärzte, Schwestern, Pfleger und Verwaltungspersonal – alle, die im Notaufnahmeflügel Dienst taten.

Lieutenant Goodman sprach die Versammelten an. »Meine Damen und Herren, wir müssen den Parkplatz absuchen. Sie werden sich vor Ihren Wagen stellen, und wir werden ihn durchsuchen. Das dient Ihrer eigenen Sicherheit.«

Die Tür des Krankenhauses schwang auf, und ein dünner schwarzer Mann mit einer Baseballkappe der Houston Astros wurde nach draußen gezwungen. George T. Washington hatte schulterlange Rastalocken und goldene Ohrringe. Er trug ein lila T-Shirt, eine graue Pflegerjacke, blaue Jeans und Sneaker. Sein hervorstechendstes Merkmal war der fehlende Schneidezahn.

George hatte noch nie so viel Polizei auf einmal gesehen und folgerte rasch, dass es eine Falle sein musste. Das lag sicherlich auch daran, dass er genug gestohlenes Morphium im Kofferraum hatte, um halb Houston zu betäuben. Zweiunddreißig Schachteln, um genau zu sein. Er hatte sie vorgestern mitgehen lassen.

»Ich hab doch gesagt, ich hab keine Karre!«, beteuerte er nervös. »Kapiert? Keinen Wagen! Wer hat hier das Sagen? Ich will wissen, wer hier der Boss ist!« Doch trotz seiner Mätzchen wurde er zu den anderen geschoben.

»Ich kann Autos nicht ausstehen!«, schimpfte er weiter. »Sie verschmutzen die Umwelt und machen haufenweise anderen Mist. Sie durchlöchern die Ozonschicht, Mann.« Grimassen schneidend, schlenderte er mit den anderen mit. »Ja, Mann! Umweltverschmutzung! Wisst ihr, zwei Dinge kann ich wirklich nicht ausstehen: Bullen, die Minderheiten unterdrücken, und Karren, die zu viel Benzin saufen! Beides Produkte der kapitalistischen Heuchelei.« Jethro Nixon, ebenfalls Pfleger, packte George beim Arm.

»Was machst du denn?«, fragte er leise.

Georges wachsamer Blick kletterte an dem dreihundert Pfund schweren Schwarzen hoch. Jethro war ein Riese und gebaut wie ein Wrestler. Dann richtete George seine Aufmerksamkeit auf die versammelten Leute – alle wussten, wer er war.

»Dein Wagen steht da drüben«, sagte Jethro mit fragender Miene. Er zeigte auf den rostigen weißen 79er Ford Impala mit den abgefahrenen Reifen.

»Jethro«, flüsterte George. »Du bist der Sieger beim Fett-und-dämlich-Wettbewerb, jawohl.« Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Spuren zu verwischen. »Ich hab kein Auto«, verkündete George. »Ich hab einen Ford Impala! Wenn ein Bulle mich fragt, ob ich einen Wagen habe, sage ich: Nee, Mann, ich fahr ’nen Ford Impala, kapiert?« Wenn es darum ging, Blödsinn zu reden, war George T. Washington einsame Spitze. Darum behauptete er auch, das T in seinem Namen stünde für »Truthful«, der Wahrheitsliebende.

Lieutenant Goodman stand stramm, die Hände auf dem Rücken. Hinter ihm huschten Scheinwerfer über den dunklen Nachthimmel. »Wir suchen einen flüchtigen Mörder«, gab er bekannt. »Vor fünfzehn Minuten war er noch in Ihrem Krankenhaus.«

»Phantastisch«, murmelte George. »Ein flüchtiger Mörder, einfach phantastisch.«

»Wir haben Grund zu der Annahme, dass er in diese Richtung geflohen ist.« Der Lieutenant zeigte auf den Parkplatz. »Sie alle gehen jetzt zu Ihren Wagen. Die Fahrzeuge werden durchsucht und anschließend auf die andere Seite des Gebäudes gefahren. Wir müssen den Platz so schnell wie möglich räumen.«

Die Angestellten verteilten sich langsam. Nur George blieb still stehen und hoffte, dass keiner ihn bemerkte.

»Er steht hier drüben!«, rief eine vertraute Stimme. Jethro zeigte auf Georges rostigen Ford, mitten in dem Durcheinander.

George hätte seinem Kollegen am liebsten einen Schlag auf seinen dummen schwarzen Schädel verpasst.

Ein Polizist kam zurückgelaufen. »Wo steht Ihr Wagen, Sir?«

George kratzte sich am Kinn. »Ich weiß nicht mehr.« Er sah in die andere Richtung. »Ich glaube, da drüben bei der Notaufnahme.«

Der Polizist zeigte auf den weißen Ford. »Ist er das?«

George machte ein verblüfftes Gesicht. »Mann, da ist er ja!«, sagte er zärtlich. »Ich verlaufe mich hier manchmal. Ich bin neu hier in Harris County.« Auch eine Lüge. In dem Moment beschloss George, Jethro umzubringen, sobald er aus dem Knast raus war – denn wenn es so weiterging, würde er genau dort landen.

Der Ausblick war besorgniserregend. Sein Wagen wurde von Polizisten umstanden. Das sah entschieden nach einer Falle aus. George zog nervös eine Zigarette hinter dem Ohr hervor. »Ich sollte mir einen Job in ’ner Imbissbude besorgen«, murmelte er zu sich selbst, »Slush-Drinks und so ’n Zeug verkaufen. Wäre zumindest was Anständiges. Entlaufene Mörder verpassen diesem Krankenhaus einen schlechten Ruf.«

Einer nach dem anderen wurden die Wagen durchsucht und weggefahren.

Überall war Polizei.

George zog nervös an seiner Zigarette. »Ich hätt’s lassen sollen«, sagte er zu sich. »Wäre besser gewesen.« Jethro, der dämliche Idiot, hatte ihm geholfen, das gestohlene Morphium in den Kofferraum zu laden.

»Schließen Sie auf«, verlangte ein Staatspolizist und stieß George mit der Stablampe an. »Wird’s bald!«

George suchte zögerlich in seinen Taschen. »Moment, Moment, ich hab den Schlüssel gleich, Mann.« Er drehte sich einmal im Kreis und tat verwirrt. Der Polizist wurde wütend und riss ihm die Zigarette aus dem Mund.

»Warum haben Sie das getan?«, jammerte George.

»Öffnen Sie den Wagen, Sir!«

»Verdammtes Gesocks«, murmelte George.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte: verdammtes Schloss.«

Ehe der Polizist an Rache denken konnte, brachte George einen Schlüsselbund zum Vorschein, gut dreißig Schlüssel, die mit einer alten Schnur zusammengebunden waren.

»Aha … welcher ist es?«, fragte der Polizist.

»Ich sag Ihnen, da ist nichts drin.« Da ihm nichts anderes übrig blieb, zeigte George auf einen abgenutzten Autoschlüssel.

Nachdem der Polizist sich mit dem Schloss abgemüht hatte, zog er die Fahrertür auf und leuchtete das Wageninnere ab. In dem Moment kam Captain Hall vorbei.

»Sehen Sie auch in den Kofferraum, wer weiß …«, befahl er.

»Da ist nichts drin«, fiel George ihm ins Wort.

»Maul halten!«, schnauzte der Captain.

Der Staatspolizist beugte sich in den Wagen, klappte das Handschuhfach auf und drückte mehrmals den Knopf für den Kofferraum, doch nichts passierte. Er richtete sich wieder auf. »Welcher Schlüssel gehört zum Kofferraum?«, fragte er.

George war verwirrt.

Der Mann hielt ihm den Schlüsselbund hin. »Welcher?«

»Das Schloss ist schon seit Jahren kaputt«, erklärte George glücklich. »Es wurde mal aufgebrochen. Hier, sehen Sie.« Er rannte zum Kofferraum und zeigte auf das aufgebohrte Schloss.

Captain Hall inspizierte es. »Ich will, dass der Kofferraum durchsucht wird!«, brüllte er und schlug mit der Faust auf das Blech. »Öffnen Sie ihn!«

»Der Wagen ist ein Sammlerstück!«, sagte George verzweifelt. »Bitte, tun Sie das nicht …« Doch Lieutenant Goodman schob ihn zur Seite und setzte unter dem Kofferraumdeckel eine Brechstange an.

Über ihnen verstärkte sich ein schwaches Grollen zum Dröhnen eines Polizeihubschraubers, der in dreißig Meter Höhe über dem Krankenhaus schwebte. Sekunden später leuchtete ein Scheinwerferkegel herab. Captain Hall drehte sich gegen den Abwind und überdachte seine Lage: Der Flüchtige war ihm durch die Finger geschlüpft, und jetzt kam Commander Visblat. Die Lage hatte sich dramatisch verschlechtert.

Lieutenant Goodman ließ die Brechstange sinken und trat zu seinem Captain. Sie waren beide im Besprechungsraum gewesen und hatten mit angesehen, wie Visblat mit Bishop umgegangen war. Daher waren sie entsprechend argwöhnisch.

»Was soll ich tun?«, fragte Goodman.

Der Hubschrauber setzte soeben zur Landung an.

Hall legte die Hände um den Mund. »Bringen Sie die restlichen Wagen schnellstmöglich von hier weg. Sichern Sie den Platz. Ich erstatte dem Commander Bericht.« Er winkte Goodman weg.

Als der Hubschrauber aufsetzte, wirbelten Staub und Unrat empor, und George hielt seine Baseballkappe fest. Hinten in der Kabine konnte er einen großen, rothaarigen Mann zu ihm hinunterspähen sehen. Er war einer der imponierendsten Männer, die ihm je untergekommen waren.

Lieutenant Goodman stieß George zu seinem Ford. »Bewegung«, befahl er.

»Wer ist das?«, fragte George argwöhnisch.

»Commander Visblat«, war die Antwort, und sie klang sehr nach einer Drohung.

Sobald der Hubschrauber gelandet war, öffnete der große Mann die Plexiglastür und stieg aus. Da er sofort auf Blickkontakt ging, durchlief George eisige Furcht. Dasselbe Gefühl hatte er oben in einem Hochhaus, wenn er aus dem Fenster sah – er litt unter Höhenangst. Er fummelte den Wagenschlüssel ins Schloss und drehte ihn. Der Motor sprang rasselnd an. Es war Zeit, die Mücke zu machen.

Eine Abgaswolke drang in den Kofferraum, und Wilson tat sein Bestes, nicht zu husten. Er spähte durch eines der Rostlöcher in der Seite und sah eine bekannte Gestalt: einen großen Mann mit roten Haaren. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Den Mann hatte er bereits am Tag seiner Ankunft gesehen.

»Das ist ja ein irrer Typ«, sagte George zu sich. »Die Bullen werden immer hässlicher.« Der Wagen beschleunigte, und George bemerkte, dass sein Packen Scheine verschwunden war.

Jemand hatte ihm sein Geld geklaut!

Er warf entrüstet den Kopf zurück.

Er hatte zweihundert Dollar gebunkert.

»Was ist nur aus der Welt geworden«, murmelte er, »wenn Bullen einen armen, glücklosen schwarzen Mann beklauen! Das ist kriminell. Ich glaube, ich nehme mir den Rest der Nacht frei.« Er zündete sich eine Zigarette an, während MC Hammer mit voller Lautstärke aus den Stereoboxen dröhnte: »Can’t touch this, der der der der …«

George sang mit: »Can’t touch this …« und rollte dazu die Schultern. »Can’t touch this!«

Es hätte schlimmer kommen können, befand er. Wenigstens war er diesmal nicht festgenommen worden, und sein erbeutetes Morphium war erst mal sicher. Und Jethro Nixon, na ja – es war Zeit, sich einen Partner mit mehr Grips, aber nicht zu viel Grips zu besorgen. Seiner Erfahrung nach waren schlaue Partner auch entsprechend gefährlich.