24.

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Enterprise Corporation, Mercury Building, 2. Etage
14. Mai 2081
Ortszeit: 19.59 Uhr
9 Tage vor dem Transporttest

Im Hintergrund war die Brandung zu hören, als Barton eine dampfende Tasse mit grünem Tee an die Lippen setzte. Ein holographisches Bild leuchtete über seinem Schreibtisch. Sicherheitsstufe eins war aktiviert. Auf dem Schirm war Wilson Dowling zu sehen, wie er sich systematisch zwischen den Vitrinen bewegte, in denen die Qumran-Rollen lagen. Er hatte die verlangten Tests absolviert; im Gegenzug hatte Barton ihn in diesen Raum hineingelassen.

Wilson blieb vor einem weiteren Pergament stehen – aus dem Buch Jesaja – und überflog es von rechts nach links und von oben nach unten. Barton hakte die Liste auf seinem Handheld entsprechend ab. Bisher hatte sein Gen-EP-Kandidat mehr als sechzig Pergamente betrachtet, die alle zur Esther- und zur Jesaja-Rolle gehörten. Irgendwie schien er zu wissen, um welche Texte es sich handelte.

Im Kuppelsaal blickte Wilson in die Dämmerung hinaus. Er hielt einen Moment inne, als spürte er etwas; dann machte er weiter.

Seit einer guten halben Stunde blickte Barton auf den Bildschirm. Wilson las die Texte offenbar doch. Aber wie war das möglich? Hebräisch war eine sehr schwierige Sprache, besonders in alten Schriften, die keine Punktation und Wortzwischenräume hatten. Barton hatte sich bei der Universität Sydney erkundigt – Wilson hatte diese Sprache nicht gelernt. Keinen Moment lang, auch nicht am ersten Tag, hatte Barton geglaubt, dass es bloß ein Zufall war, als Wilson die hebräischen Namen las. Es gab keine Zufälle. Interessanterweise machte es dieses Kunststück umso wahrscheinlicher, dass Wilson der Aufseher war. Andererseits war es eine Überraschung, und dafür hatte Barton nichts übrig.

Karins Stimme kam über den Lautsprecher. »Davin und Andre sind hier. Wollen Sie sie sprechen?«

Barton tippte an sein Revers. »Schicken Sie sie herein.« Während er sich zu seinem Schreibtischmonitor umdrehte, flüsterte er: »System, G-1-SS beenden.« Das Überwachungsbild über seinem Schreibtisch verschwand.

Die Glastür schwang auf, und die Angekündigten kamen hastig herein, beide in Laborkitteln. Andre kaute auf den Nägeln und las dabei etwas auf seinem Handheld.

»Wir haben ein Problem«, sagte Davin und hob eine Handvoll digitaler Unterlagen. »Es geht um Wilsons EEG

»Ein großes Problem«, fügte Andre hinzu.

»Das EEG weicht stark ab«, berichtete Davin. Er gab Barton die Werte. »Verstärkte Alpha- und Beta-Wellen. Wirklich ungewöhnlich. Sehen Sie selbst.« Während Barton die Arbeitsblätter überflog, sagte Davin: »Ich habe es durch Data-Tran laufen lassen und konnte nichts Vergleichbares finden. Ich dachte, es könnte von einem Hirntumor kommen oder von einem Aneurysma, aber die Kernspintomographie zeigt nichts dergleichen an.«

Barton rieb sich das Kinn. »Interessant.«

»Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Davin und rückte seine Brille zurecht.

Barton legte die Unterlagen ordentlich auf den Schreibtisch und richtete sie nach den anderen aus. »Nichts«, sagte er.

Andre war verblüfft. »Nichts?«

»Wie hat er sich bei den anderen Tests geschlagen?«, fragte Barton.

Ein wenig überrascht von Bartons mangelnder Besorgnis, schaute Davin auf seinen Handheld. »Nun … seine körperliche Verfassung scheint gut zu sein. Keine Krankheiten oder Infekte. Die Knochendichte ist gut. Immunsystem ausgezeichnet. Der Bursche ist ziemlich fit. Geschicklichkeit überdurchschnittlich. Psychologisch erscheint er ruhig. Die Auswertung sagt sogar, dass er mit dem Druck gut zurechtkommt.«

»Wir können ihn nicht transportieren, wenn seine Alpha- und Beta-Wellen so stark abweichen«, sagte Andre.

Barton lächelte zuversichtlich. »Keine Sorge. Wir werden das überprüfen – ich selbst übernehme das.«

Andre schürzte die Lippen. »Ich finde, wir sollten ihn nicht nehmen.«

»Ich werde das berücksichtigen, Andre, danke. Wenn es einen biologischen Grund gibt, nicht weiterzumachen, gebe ich Bescheid.« Barton stand auf. »Bei Enterprise Corporation gibt es niemanden, der einem Risiko abgeneigter ist als ich.«

»Das ist mehr als ein Risiko!« Andre hörte sich ein bisschen panisch an. »Seine Alpha- und Beta-Wellen sind völlig unnormal!«

Barton blickte den pickeligen Teenager an. »Ich verstehe, was du sagst. Danke. Aber eine ungewöhnliche Wellenform wie diese muss einen Grund haben.«

»Das behagt mir nicht, Barton.« Es klang seltsam aus dem Munde eines Teenagers. »Meiner Ansicht nach schließt das Wilson von der nächsten Phase aus. Er erfüllt nicht die Kriterien, die Sie selbst für den Transporttest festgesetzt haben. Wir sollten Kleinberg in die engere Wahl ziehen. Seine Ergebnisse sind alle normal. Die Folgen sind offensichtlich.«

»Andre hat recht«, sagte Davin. »Diese Ergebnisse sind wirklich sonderbar.«

Barton hatte eine solche EEG-Kurve schon einmal gesehen, in einem geheimen Bericht der Marine. Es bestand kein Zweifel, dass Wilson gelogen hatte, was seine Fähigkeiten betraf. »Sie haben recht«, lenkte Barton ein. »Ein solches Ergebnis schließt Wilson von der nächsten Phase aus. Danke, dass Sie mir das deutlich gemacht haben. Aber sicherheitshalber werde ich den Test persönlich wiederholen. Nur um unsere Optionen offenzuhalten.«

Er hielt Davin mit eindringlichem Blick fest, bis er sicher war, dass seine Nummer zwei der Anweisung fraglos gehorchte.

»Komm, Andre«, sagte Davin, der den Hinweis verstanden hatte. »Wir sollten uns sowieso nicht um diese Dinge kümmern. Gehen wir wieder ins Labor. Ich habe eine interessante Aufgabe für dich.« Die zwei verließen den Raum, während Davin ununterbrochen redete.

Die Tür schloss sich, und Barton war allein. Der Klang sanfter Wellen strömte wieder in den Raum. Der Wissenschaftler setzte sich und blickte auf Wilsons EEG. Das erklärte eine Menge. Er tippte den Sicherheitscode ein. »System, G-1-SS, Etage B3, Vitrinensaal. Wilson Dowling.« Das holographische Bild leuchtete über seinem Schreibtisch auf. Wie zuvor las Wilson Zeile für Zeile den Jesaja-Text.

Er war jetzt sein bevorzugter Kandidat für den Transporttest. Nicht weil er intelligenter oder jünger oder kooperativer war – es gab keinen rationalen Grund. Es war eine Kombination aus dem EEG-Ergebnis, seinem merkwürdigen Verhalten hinsichtlich der Schriftrollen und einer simplen Ahnung Bartons: Wilson war der eine – er war der Aufseher. Nach dem Rückschlag mit dem EEG würde es schwierig sein, das Mercury-Team von seiner Wahl zu überzeugen, aber nicht unmöglich.

Wilson las weiter. Er ahnte nicht, dass die endgültige Entscheidung über ihn bereits gefallen war.

Barton las die Auswertung des psychologischen Tests, der ebenfalls eine interessante Enthüllung enthielt. Wie es schien, war an Mr. Wilson Dowling gar nichts normal. Und das war gut so, befand Barton. Nur ein außergewöhnlicher Mensch sollte zu einem solchen Unternehmen ausgeschickt werden.