31.

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Mount Whitney, Sierra Nevada
17. Mai 2081
Ortszeit: 11.12 Uhr
6 Tage vor dem Transporttest

Ein Wald aus Mammutbäumen bedeckte den Berghang. Ihre kurzen, dicken Äste waren dicht belaubt. In ihrem Schatten war es dunkel. Einige Bäume waren gut fünfzig Meter hoch; ihre Stämme hatten einen Umfang von fünf Metern. Barton sagte, sie seien über zweitausend Jahre alt – die ältesten und größten Organismen der Erde. Wie bei allem machte Barton die Wanderung zu einer Unterrichtsstunde.

Der Leiter des Mercury-Teams lief den steinigen Weg mühelos hinauf. Alle paar Minuten blieb er stehen, den Wanderstock in den Boden gestemmt, und drehte sich nach Wilson um.

»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte er wieder. »Es wird sich lohnen.«

Sie trugen Wanderausrüstung: weiße Overalls, Rucksäcke, gelbe Survival-Westen, Wanderstiefel. Aber Wilson sah nur äußerlich nach einem Wanderer aus. Er schwitzte und die Höhe – inzwischen 2400 Meter – machte ihm das Atmen schwer. Barton dagegen wirkte frisch.

»Sie hätten mir sagen können, dass es so schwierig wird«, keuchte Wilson. »Dann wäre ich nicht mitgekommen.«

Barton löste die Wasserflasche vom Gürtel und trank einen Schluck. »Sie müssen auf das Unerwartete vorbereitet sein. Das Wichtigste ist die Disziplin, durchzuhalten«, sagte er und ging weiter.

»Wir haben nur noch sechs Tage für die Vorbereitungen«, stöhnte Wilson und betrachtete den Wald. »Ich kann nicht glauben, dass Sie mich hierher schleppen.«

Barton kam die paar Schritte zurück, packte Wilson am Ärmel und zog ihn vorwärts. »Es ist nicht mehr weit.« Er blickte auf sein Navigationsgerät, das er um den Hals hängen hatte. »Keine zwei Kilometer.«

»Ich glaube nicht, dass die Zeit gut genutzt ist.«

Barton ließ ihn los. »Sie ist sogar ausgezeichnet genutzt.«

Nach einer Weile gelangten sie aus dem Schatten des Waldes über die Baumgrenze, und der Weg wurde flacher, als er über ein schmales, einsames Plateau führte, das stufenförmig zu einem fernen Gipfel anstieg. Wilson fiel das Atmen leichter, als fühlte er sich in der offenen Landschaft freier. Die Wärme der Sonne auf dem Rücken tat gut.

Dreißig Minuten lang liefen sie, ohne zu reden.

Nach dem Aufstieg über den steiler werdenden Hang kam Barton als Erster auf dem Gipfel an. Ringsum sah man nur Berge, die wie erhabene Tempel in den Himmel ragten. Wilson taten die Beine weh, als er die letzten Schritte machte. Dann nahm er zum ersten Mal die Aussicht in sich auf. Es verschlug ihm schier den Atem. Das war Natur in ihrer schönsten Pracht. Am blassblauen Himmel stand keine einzige Wolke. Breite, frei dahinströmende Flüsse teilten die Täler. Der Wald war üppig grün, die Luft kühl. Ein Weißkopfadler zog über ihnen seine Kreise.

Es war paradiesisch.

Barton atmete tief durch. »Dieses Gebirge ist entstanden durch die San-Andreas-Störung, die unter uns verläuft, denn hier stoßen die Nordamerikanische und die Pazifische Platte aneinander.« Er zeigte nach links. »Die Pazifische Platte liegt da drüben; sie schiebt sich langsam nach Norden.« Er zeigte nach rechts. »Dort ist die Nordamerikanische Platte, die sich nach Süden bewegt. Das Ergebnis haben wir hier vor uns.« Er war sichtlich begeistert. »Was für eine wundervolle Welt.«

Es folgte ein kurzes Schweigen; dann sagte Barton: »Wilson, ich habe Sie hierher gebracht, um Ihnen das Wichtigste beizubringen, was ich je gelernt habe.«

Wilson drehte sich zu ihm um.

»Richten Sie Ihre Gedanken immer auf das Positive. Das ist unerlässlich. Ich kann es gar nicht oft genug betonen.« Barton war kein bisschen außer Atem. »Ihr Geist kann sich nicht dagegen wehren, was in Ihrem Innern ist. Negativität ist mit Abstand Ihr größter Feind. Versuchen Sie, sich möglichst auf den Augenblick zu richten.« Er schaute in die Umgebung. »Es hat keinen Zweck, Sie auf solch ein Unternehmen vorzubereiten, wenn Sie nicht die richtige Einstellung haben. Dann nützt das ganze Training nichts. Sie müssen sich auf den Augenblick richten.«

Wilson beklagte sich wie ein enttäuschtes Kind. »Haben Sie mich vierzig Kilometer wandern lassen, um mir das zu sagen?«

»Sie ignoranter Kerl!« Barton klang heiser vor Zorn. »Sie müssen begreifen, wie wichtig das ist! Nicht was Sie gelesen haben oder was Sie zu wissen glauben, ist von Bedeutung – sondern wie Sie sich bei dem Einsatz verhalten. Darum sind wir hier. Wenn Sie den Auftrag angehen, wie Sie diese Wanderung angehen, werden Sie versagen!«

Wilson war sprachlos. So hatte Barton noch nie mit ihm gesprochen.

»Ihre Gedanken, Wilson, sind selten auf die Gegenwart gerichtet. Sie schauen immer in die Zukunft, und Sie haben eine Tendenz zum Negativen. Wenn Sie nichts daran ändern, werden Sie den Auftrag verpatzen.« Der harte Blick, den der Wissenschaftler gezeigt hatte, verschwand, und seine Stimme klang wieder freundlich. »Sie haben ein schwieriges Unternehmen vor sich, in physischer, emotionaler und intellektueller Hinsicht. Sie werden in eine andere Zeit reisen. Allein die Vorstellung übersteigt das rationale Denken. Nichts, was wir tun, kann Sie darauf vorbereiten, nur das, was ich Ihnen eben gesagt habe: Seien Sie positiv, zielstrebig und auf den Augenblick gerichtet, dann haben Sie eine Chance.«

In dieser Sekunde änderte sich etwas in Wilsons Psyche. Er schauderte. Es war unerklärlich, so als habe ihn die harte Realität getroffen und sich fest in ihm verankert. Bartons Worte brannten sich in sein Gedächtnis ein. Positiv, zielstrebig, auf den Augenblick gerichtet.

Zufrieden, dass er zu Wilson durchgedrungen war, zeigte Barton mit ausgestrecktem Arm auf die Landschaft. »Wenn Sie unter Druck stehen, wenn Sie ihn richtig zu spüren bekommen, dann will ich, dass Sie an diesen Ort hier denken.« Er schwieg ein paar Augenblicke. »Hören Sie auf, die Dinge vorhersehen zu wollen. Nehmen Sie alle Fakten in sich auf, aber lassen Sie Ihre Spekulationen über die weitere Entwicklung.« Er schwenkte den Arm. »Dieses Gebirge besteht seit Jahrtausenden. Es entwickelt sich, und doch bleibt es immer gleich. Das ist sehr tröstlich, und daran sollen Sie sich erinnern.«

Sie setzten sich ins Gras.

»Das Gebirge wird es noch geben, wenn wir beide längst tot sind«, fügte Barton hinzu.

Wilson nahm den Anblick in sich auf, die Berggipfel, die Wälder, die Farbe des Himmels, den Lauf des Flusses im Tal. Er versuchte sich vorzustellen, wie die tektonischen Platten unter ihnen sich gegeneinander verschoben. Und dennoch wirkte dieser Ort vollkommen friedlich. So war es mit vielen Dingen im Leben: Da war mehr, als es den Anschein hatte – man musste nur nah genug hinsehen.

Die nächsten fünf Minuten fiel kein Wort. Wilson bemühte sich, die vielen Gedankengänge zu entwirren, die in ihm wucherten. Er würde an diesen Platz zurückdenken, wenn er in Schwierigkeiten steckte, nahm er sich vor. Doch er fühlte eine überwältigende Furcht, die ihm wie ein Stein auf dem Herzen lag.

»Es ist schwer, positiv zu denken, weil ich nicht verstehen kann, wieso gerade ich es bin, der den Auftrag ausführen soll«, sagte Wilson.

»Das ist Ihre Bestimmung.«

»Aber was heißt das, Bestimmung?«

Barton lehnte sich zurück und stützte sich auf die Ellbogen. »Ich will Ihnen etwas erzählen … es hat auch mit den Qumran-Rollen zu tun. Wissen Sie noch, ich habe mal über Flavius Vespasian gesprochen, den römischen Heerführer, der nach der Vernichtung der zwölften Legion nach Judäa geschickt wurde.«

»Natürlich … als die Schriftrollen in den Höhlen versteckt wurden.«

»68 vor Christus, um genau zu sein. Kaiser Nero setzte Vespasian an die Spitze der Offensive, nachdem dieser einmal eingeschlafen war, während der Kaiser eines seiner Gedichte vortrug. Sie sehen, viele glaubten, dass die Rückeroberung Judäas und die Zerstörung Jerusalems eine undurchführbare Aufgabe sei. Die Juden, angeführt von Josephus, hatten ihre Stärke und Gerissenheit bereits unter Beweis gestellt, als sie die zwölfte Legion vernichteten, und viele im Senat befürchteten, dass Judäa Rom die Weltherrschaft streitig machen würde. Außerdem waren die Mauern Jerusalems hoch und ihre Verteidigung stark.«

»Vespasian wurde also zu einem unmöglichen Unternehmen ausgeschickt?«, fragte Wilson.

Barton lächelte. »Vespasian war ein begabter Heerführer, und er sammelte die fünfte und die zehnte Legion um sich und marschierte auf Judäa. Sein Sohn Titus führte die fünfzehnte Legion von Ägypten heran, und sie trafen sich vor den Mauern Jerusalems. Als ihnen klar wurde, dass sie keinen Durchbruch erzielen würden, ohne enorme Verluste oder sogar die Niederlage zu riskieren, verlegte Vespasian sich darauf, das übrige Land nach und nach einzunehmen.«

»Da wurden dann die Schriftrollen versteckt.«

»Richtig. Auf einen direkten Angriff Jerusalems zu verzichten war Vespasians klügster Schachzug. Er konnte dadurch das Meiste von dem erreichen, was er in Judäa wollte, weil sich der Großteil der jüdischen Truppen innerhalb der Stadtmauern befand.«

Barton nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. »Nach der siebenundvierzigtägigen Belagerung von Jotapata nahm er schließlich Josephus gefangen und schickte sich an, ihn als Geschenk für Nero nach Rom bringen zu lassen.« Bartons Augen funkelten. »Jetzt wird es interessant. Josephus verlangte eine Audienz bei Vespasian, die ihm widerwillig gewährt wurde. Dort bezeichnete er sich als Abgesandten des einen Gottes. Er sagte zu Vespasian: Du wirst Kaiser werden, oh Vespasian, du und dein Sohn.« Barton hielt den Zeigefinger hoch. »Doch es gab Bedingungen. Josephus sollte nicht zu Nero gesandt werden, und ihm durfte nichts geschehen.«

»Und was geschah dann?«

»Vespasian hatte keine Aussicht, Kaiser zu werden«, sagte Barton. »Dafür musste man mindestens Senator sein. Trotzdem war er von der Prophezeiung so tief beeindruckt, dass er den Boten Gottes nicht nach Rom bringen ließ. Er hielt ihn weiter in Gefangenschaft, aber in Judäa. Natürlich war Nero außer sich. Das war ein eklatanter Verstoß gegen seine Anordnung. Er wollte Josephus unbedingt durch die Straßen Roms führen und dann öffentlich hinrichten lassen.«

Barton trank noch einen Schluck. »Ehe das Jahr vorbei war, geriet das Imperium in Aufruhr. Nero wurde entthront und beging Selbstmord. So begann eine der unruhigsten Zeiten in der römischen Geschichte. Auf Nero folgte Galba, der von Otho umgebracht wurde. Otho wurde von Vitellius vom Thron gestoßen, und dieser beging am Ende Selbstmord. Während dieser zwei Jahre wurde Flavius Vespasian – mitten im Krieg gegen die Juden – von seinen Soldaten zum Kaiser ausgerufen, im Juli 69 nach Christus.«

»Die Prophezeiung traf also ein?«

»Noch nicht ganz. Der Senat weigerte sich, Vespasian als Herrscher anzuerkennen, und so war er gezwungen, seine ihm treu ergebenen Soldaten aus Moesia, Pannonia und Illyricum zu schicken, um sich den Thron zu erkämpfen. Das Schlachtfeld war Rom, wo seine Truppen auf die Prätorianergarde stießen, die Beschützer der kaiserlichen Stadt, und auf die Legionen Galliens und des Rheinlands. Nach einer erbitterten Schlacht gewannen Vespasians Soldaten schließlich die Oberhand und brannten dabei versehentlich halb Rom nieder. Da dem Senat nichts anderes übrig blieb, billigte er Vespasian als Herrscher. Zur selben Zeit besiegte Vespasian die Juden und brannte Jerusalem nieder – was sein Auftrag gewesen war.«

Wilson war erstaunt.

»Und so begann die Herrschaft der Flavier«, fuhr Barton fort. »Eine der glücklichsten Zeiten der römischen Geschichte. Sie sah die Festigung römischer Macht in Britannien, den Bau des Colosseums und, noch bedeutsamer, die Gründung der jungen römisch-katholischen Kirche. In vielerlei Hinsicht ermöglichte Josephus’ Prophezeiung der Christenheit, in der modernen Welt Fuß zu fassen. Und ihm ist es gewissermaßen zu verdanken, dass die Qumran-Rollen heute noch existieren.«

»Was wurde aus Vespasian?«, fragte Wilson.

»Er wurde fast siebzig Jahre alt und starb eines natürlichen Todes. Sein Sohn Titus wurde nach ihm Kaiser – das erste Mal, dass der Purpur vom Vater auf den Sohn vererbt wurde.« Barton lächelte. »Als letzte sonderbare Fußnote der Geschichte adoptierte Vespasian Josephus, und der einstige Feind Roms wurde Flavius Josephus, der den Rest seiner Tage als römischer Bürger verbrachte.«

»Wow! In göttliche Prophezeiungen sollte man sich auf keinen Fall einmischen«, meinte Wilson.

Barton blickte seinem Gen-EP in die Augen. »Ganz genau. Das ist Bestimmung.«

Einen Moment lang war die Schwere in Wilsons Brust vergangen.

Wieder breitete sich Schweigen aus.

Barton betrachtete die Landschaft und sagte schließlich: »Wissen Sie, ich komme seit fünfunddreißig Jahren hierher. Ich habe diesen Platz entdeckt, als ich einen Fluss mit Forellen auskundschaftete, der sich Angel Falls nennt. Da kann man übrigens großartig fischen.«

»Ihr Nachname ist norwegisch, nicht wahr?«

»So ist es.«

»Die Norweger waren doch Fischer, oder?« Wilson hatte den Namen in Data-Tran nachgeschlagen.

»Früher kontrollierten die Ingersons fast die ganze Fischereiwirtschaft Norwegens.« Barton lachte leise. »Der Spaß am Fischen ist bei mir erblich. Fischen Sie auch gern?«

Wilson nickte. »Ja, aber ich hatte kaum Zeit dazu.«

»Ich nehme Sie zum Angel Falls mit, wenn Sie wieder da sind.«

Das war ein nettes Angebot. Denn es setzte darauf, dass er zurückkehrte.

Wieder schwiegen sie eine Zeitlang.

»Haben Sie sonst noch Weisheiten für mich?«, fragte Wilson.

»Ich möchte, dass Sie sich auf das konzentrieren, was ich Ihnen bereits gesagt habe.«

Wilson bewunderte Barton dafür, nie ein Wort zu viel zu sagen.

»Mein Leben wird zusehends besser. Meine Mentoren zumindest«, meinte Wilson, legte sich ins Gras und schaute zum Himmel. »Wollen Sie wissen, was positives Denken ist? Der wird Ihnen gefallen: Ein Mann kommt in eine Bar und macht sich an die schönste Frau ran, die er finden kann. Er sagt zu ihr: ›Wenn Sie erraten, was ich in den Händen halte, werde ich bereitwillig mit Ihnen schlafen.‹« Wilson hatte ein breites Grinsen im Gesicht. »Die Frau ist offensichtlich angewidert von der Anmache und spielt natürlich nicht mit. Also sagt er: ›Kommen Sie, raten Sie einfach mal.‹ Um ihn loszuwerden, antwortet die Frau: ›Einen zwei Tonnen schweren Elefanten.‹ Der Mann späht vorsichtig zwischen seine Hände und sagt: ›Die Antwort können wir gelten lassen – wir haben einen Gewinner!‹ Meinen Sie das mit positivem Denken?«

Barton verzog keine Miene. »Gott steh uns bei.« Nach kurzer Überlegung sagte er: »Nun, vielleicht«, und dann musste er lächeln.

Wilson lachte. »Sehen Sie, ich habe Ihnen doch zugehört.«

»Es scheint so.« Barton legte sich ebenfalls nieder und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wissen Sie, als ich anfangs das Buch Jesaja entschlüsselt habe, war ich überzeugt, dass es sich um einen Scherz handelt. Doch als ich weiter übersetzte, wurde unmissverständlich klar, dass alles echt war.« Er fuhr sich durch die spröden weißen Haare. »Ich entschlüsselte etwas, von dem ich wusste, dass es unbestreitbar wahr war – nämlich dass die Zeit sich beschleunigte. Jedes Jahr ging schneller vorbei als das vorherige.«

»Warum ist das so?«

»Dazu muss ich Ihnen eine kurze Physikstunde erteilen.« Barton freute sich, weiter dozieren zu können, und setzte sich auf. »Die Erde ist ein großer Felsbrocken, der durchs All kreist. Sie ist von unserer Atmosphäre umgeben, und diese wiederum von der Ionosphäre.« Barton streckte die Fäuste vor sich. »Die Erde ist negativ geladen.« Er streckte den linken Daumen nach unten. »Der Raum und die Energie, die von der Sonne kommt, sind positiv geladen.« Er streckte den anderen Daumen nach oben. »Das Problem ist, unsere Atmosphäre – die dazwischen liegt – ist ein sehr guter elektrischer Leiter.« Er stieß die Fäuste aneinander und tat, als würden sie voneinander abprallen.

»Elektrizität fließt vom Negativen zum Positiven. Demzufolge gibt es ein kontinuierliches Elektrorauschen in der Atmosphäre. Und diese Schwingung bestimmt viele Gesetze der Natur.«

»Und die Elektrizität in der Atmosphäre kann die Geschwindigkeit der Zeit beeinflussen?«, fragte Wilson.

»Beinahe. Es ist die Magnetfrequenz der Erde, die das bewirkt. Der Grund, warum unsere Atmosphäre eine so große Rolle spielt, ist der, dass die Magnetfrequenz der Erde von der elektrischen Energie kalibriert wird, die aus dem All kommt. Ich habe einige Forschungen angestellt, und dabei bin ich auf die Schumann-Resonanz gestoßen.« Barton erklärte, dass ein deutscher Wissenschaftler namens W. O. Schumann seit Mitte der 1950er Jahre die elektromagnetische Resonanzfrequenz der Erde gemessen hatte.

»Sie müssen enttäuscht gewesen sein«, meinte Wilson.

»Wieso?«

»Sie konnten sie nicht mehr die Ingerson-Resonanz nennen.«

»Auch nicht sehr witzig.« Barton erklärte, wie die Resonanzfrequenz in den letzten fünfundzwanzig Jahren exponentiell gewachsen war. »Sie sehen, die Schumann-Frequenz steht in direkter Beziehung zur Geschwindigkeit der Zeit. Nach dem Buch Jesaja liegt die ideale Frequenz der Erde bei 6,53 Hertz.«

»Das ist die Frequenz der Kupferrolle.«

»Sie haben es sich gemerkt, das ist gut.« Barton stützte sich mit einer Hand auf den Boden. »Wenn die Magnetfrequenz der Erde groß genug ist, beschleunigt sich die Zeit. Sie haben es selbst gespürt. Jedes Jahr vergeht schneller. Aber es gibt noch andere handfeste Anzeichen. Die Erdatmosphäre erwärmt sich. Es gibt mehr Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche, Stürme, Dürren. Das hat alles damit zu tun, dass die Erde sich zu rekalibrieren versucht. Das ist auch der Grund, warum Wale stranden.« Barton hatte eine unendliche Liste an Symptomen parat. »Bei Menschen verursacht das eine Schwächung des Immunsystems, Fehlgeburten, chronische Müdigkeit, verstärkte Aggression und Gewalt.«

»Gewalt?«

»Ja. Jedes Lebewesen, ob Pflanze oder Tier, hat seine eigene Aura. Die Schumann-Resonanz kann diese Aura gefährden. Nach meinem Verständnis wird man umso gewalttätiger und paranoider, je mehr die Aura von einer signifikant höheren Frequenz durchdrungen wird.«

»Wie hoch war die Schumann-Frequenz vor fünfundsiebzig Jahren?«, fragte Wilson.

»Das ist eine sehr gute Frage. Nach dem Buch Jesaja standen die Dinge zur letzten Jahrhundertwende am schlechtesten. Als ich mir die Daten angeschaute habe, stellte ich fest, dass die Schumann-Frequenz stark abwich. Meine Berechnungen zeigten, dass ein Vierundzwanzigstundentag sich ungefähr wie ein Zwölfstundentag von heute anfühlte. Dann reduzierte die Schumann-Frequenz sich plötzlich auf das normale Maß. Der Grund ist der, dass diese Realität«, Barton zeigte auf den Boden, »auf einer Öffnung der Portale und einer Wiederherstellung der Schumann-Frequenz basiert.«

»Auf welchen Tag fällt es?«

»Ich halte es für wichtig, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf Tagesangaben richten.«

»Ist das denn nicht der Tag, an dem ich die Portale öffnen soll?«

»Tatsächlich verhält es sich andersherum. Der Tag, an dem Sie die Portale öffnen, ist auch der Tag, an dem sich die Schumann-Frequenz reduziert. Sie sehen, wir leben in einem holographischen Universum. Alle Zeit existiert simultan.«

»Aber Sie sagten, dass die Schumann-Frequenz schon vor über siebzig Jahren verringert wurde. Warum dann der ganze Aufwand?«

»Weil die Zeit nicht wie eine Schnur ist, die von einem zum anderen Ende verläuft. Alles existiert gleichzeitig, und wir haben die Pflicht, unsere Rolle in der Vergangenheit zu spielen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Wenn Sie bei dem Auftrag versagen, wenn Sie beispielsweise getötet werden, würde theoretisch alle Zeit in diesem holographischen Universum sofort aufhören zu existieren. Nach meiner Einschätzung würde ein anderes Universum geschaffen, mit einer völlig anderen Geschichte und einer anderen Zukunft.«

Wilson wollte nicht mehr darüber nachdenken – es war zu viel.

»Als Einstein fünfzehn Jahre alt war, stellte er sich eine Frage: Was würde passieren, wenn man sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt und dabei in einen Spiegel schaut? Die Antwort ist: Man würde nichts sehen, weil das Licht vom Gesicht den Spiegel nicht erreicht. Nach meiner Beurteilung wird genau das passieren, wenn Sie keinen Erfolg haben. Alles wird aufhören zu existieren.«

»Wie gut, dass ich nicht unter Druck stehe«, erwiderte Wilson. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. »Sehen Sie, ich verstehe das mit der Elektrizität aus dem Raum und ihrer Wirkung auf die Schumann-Frequenz, aber warum ist eine Kalibrierung nötig?«

Barton rieb sich das Kinn. »Sie wird von der Bevölkerungszahl beeinträchtigt.«

»Sie meinen, die Menschen haben Einfluss auf die Schumann-Frequenz?«

»Bei über sechs Milliarden Menschen, ja.«

»Und je höher die Schumann-Frequenz, desto gewalttätiger die Menschen?«, fragte Wilson.

»So scheint es. Und je gewalttätiger und haltloser die Menschen, desto höher steigt die Schumann-Frequenz. Das ist eine schreckliche Spirale.« Barton erklärte, dass die Frequenz durch die Zeitportale justiert werden könnte, um die magnetische Energie auf ein bestimmtes Maß zu kalibrieren. Das gewährleiste die Existenz dieses bestimmten holographischen Universums.

Die beiden sprachen noch zwei Stunden lang über das bevorstehende Unternehmen, den Transportprozess und die Energieportale. Barton griff in die Tasche und zog eine handgeschriebene Notiz heraus. »Hier ist ein Abschnitt des entschlüsselten Jesaja-Buches. Die Rolle wurde im Jahre 24 vor Christus in Qumran geschrieben. Ich glaube, Sie sollten das mal lesen.«

Wilson nahm den Zettel und faltete ihn auseinander.

Für den Reinen sind alle Dinge rein, doch für die, die verdorben sind und nicht glauben, ist nichts rein. Mutter Erde wird in eine Spirale geraten, wenn die Zeit ihr rechtes Maß verloren hat. Das wird eine Zeit des Aufruhrs und Verrats, wenn die Ungerechten die Schwachen berauben. Mutter Erde wird zurückschlagen mit tosendem Wetter, erbitterten Stürmen, sengender Hitze, aber das wird nicht genug sein.
Zu dieser Zeit wird der Aufseher berufen sein, zu stärken, was geschwächt ist. Der Aufseher muss makellos sein, kein Anhänger, aber reinen Herzens, einer ohne offensichtlichen Glauben. Der Aufseher muss an der Herausforderung festhalten, sodass er unter Führung der Klanglehre die Kräfte der Gegenseite überwinden kann. Wie es geschrieben steht, dass das Licht die Finsternis besiegt.

Mit zitternden Händen faltete Wilson das Papier zusammen und gab es zurück. Plötzlich empfand er einen unvorstellbaren Druck.

Barton steckte das Papier ein. »Richten Sie sich einfach danach, dann wird Ihnen nichts passieren.«

Karibisches Meer

130 Seemeilen südlich von San Juan, Puerto Rico

2. Dezember 2012

Ortszeit: 15.23 Uhr

Unternehmen Jesaja – achter Tag

Wilson erinnerte sich, welche Angst er gehabt hatte, als er zum ersten Mal den entschlüsselten Text aus dem Jesaja-Buch sah; ihm war regelrecht schlecht gewesen. Es stand so viel Geschichte hinter dem, was er tat. Barton hatte das Schicksalhafte seiner Reise betont; wenngleich der Gedanke schwer zu akzeptieren war, erkannte Wilson, dass diese Bestimmung real war – das Leben Vespasians war ein Beweis dafür. Wenn er an dessen Aufstieg zum Kaiser dachte, sah er seine Erfolgsaussichten optimistischer.

Plötzlich hörte er ein Zischen.

Er sprang auf und ging zu der Angel, die am Heck ins Wasser hing. Die Spule drehte sich schnell. Der Wasser rings um das Boot war ruhig; ein leichter Wind blies in die Kevlarsegel. In der Ferne ragten Inseln über den Horizont. Wilson zog an der Angel. Die Schnur spannte sich, und ein silbern glänzender Thunfisch sprang aus dem kobaltblauen Wasser. Sein stromlinienförmiger Schwanz peitschte hin und her.

Wilson trug nur Shorts und Sonnenbrille; seine Wunde war ziemlich weit verheilt. Er hatte gut gegessen und wieder etwas zugenommen, nachdem er durch seinen Nachtigall-Befehl Gewicht verloren hatte. Es war heiß, und er verbrachte die Tage mit Angeln und lag in der Sonne, während ein günstiger Wind das Boot stetig nach Osten trieb.

Wilson bekam die Kräfte des Fisches zu spüren, als er ihn mit angespannten Muskeln einzuholen versuchte. Er sprang den Bewegungen der Leine entgegengesetzt auf dem Deck umher und verstand jetzt, warum Barton so gerne fischte. Nach einem guten Kampf zog Wilson den Thunfisch an der Heckwand hoch und an Deck. Er nahm ein Messer und stieß es dem Fisch in den Kopf, wie er es schon viele Male getan hatte. Nummer 23 hatte reichlich Wasser in den Tanks, aber kaum Lebensmittel in der Kajüte. Er war aufs Angeln angewiesen.

Wilson suchte den Horizont ab. Es waren keine Schiffe zu sehen. Dann blickte er auf den Navigationscomputer. Nachdem er den Golf von Mexiko verlassen hatte, war er südlich von Kuba entlanggesegelt und befand sich jetzt bei den Kleinen Antillen – einem Streifen Koralleninseln, die die Bahamas mit Südamerika verbanden.

Das würde sein letzter Blick auf Land sein, bis er die Küste Marokkos erreichte. Zufrieden, dass er unterwegs zum afrikanischen Kontinent war, legte er sich mit dem Kopf auf ein Kissen und beobachtete das Hauptsegel, das sacht im Wind schlug. Der warme Sonnenschein war wie Balsam für Körper und Seele.

Wilson fragte sich, ob Helena ihn wohl in diesem Moment beobachtete. Es war beruhigend gewesen, sie vorbeifliegen zu sehen. Tröstlich. Er überlegte, ob ihre übersinnliche Verbindung nur aus der Nähe funktionierte, aber das war unmöglich zu sagen.

Das Boot glitt ruhig dahin.

Wilsons Gedanken wandten sich Visblat zu. Er hatte in den vergangenen Tagen zahlreiche Theorien über diesen Mann aufgestellt, von denen viele hanebüchen waren; bei keiner ergab sich ein stimmiges Bild. Noch nicht. Eines war jedoch sicher: Visblat wusste, warum Wilson hier war. Er würde ihn erwarten.

War das zweite Portal manipuliert worden? Er hatte keine Möglichkeit, sich zu vergewissern. Aber fürs Erste war der Plan einfach – den Atlantik überqueren, durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer segeln, von dort ins Nildelta einbiegen und nach Süden bis Kairo segeln.