41.
Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Mercury Building, Untergeschoss A5, Labor
23. Mai 2081
Ortszeit: 11.44 Uhr
Transporttest
Wilson war nicht bewusst, dass es auf den Tag genau ein Jahr her war, seit er mit Professor Author seine Schicksalsmünze geworfen hatte, als er Barton Ingerson durch einen nackten weißen Gang zum Mercury-Labor folgte. Er trug schwarze Hosen und eine schwarze dreiviertellange Jacke und fühlte sich vollkommen unsicher. Die Sicherheitstür öffnete sich, und sie gingen hinein. Sein Blick wurde sofort von der Transportkugel angezogen, die unter einer Reihe von Punktstrahlern unheilvoll leuchtete. Ihre gebogene, transparente Tür stand offen. Als sie herangingen, konnte er das Kristall leise summen hören.
Barton blieb ein paar Schritte davor stehen. »Ich möchte die Gelegenheit nutzen und Ihnen sagen, dass Sie Ihre Aufgabe erstklassig bewältigt haben. Ich bin sicher, Sie haben nun alle Informationen, die Sie brauchen, um das Unternehmen Jesaja zum Erfolg zu führen.«
»Sollten Sie das unbedingt hier sagen?«, meinte Wilson misstrauisch.
»In unserem Labor gibt es keine Überwachungsgeräte«, versicherte Barton. »Das ist ein geheimer Arbeitsbereich. Hier drinnen können Sie sagen, was Sie möchten.« Er zwinkerte – eine untypische Geste für ihn. »Sorgen Sie nur dafür, dass es keiner von Ihren Lippen ablesen kann.«
Durch die Glaswand sah Wilson das Mercury-Team bei der Überprüfung des Transportsystems. Karin schaute über ihren holographischen Computer hinweg und begegnete seinem Blick, sah aber rasch wieder weg. Wilson drehte sich um und betrachtete die Kristallkugel. Er konnte sich noch nicht so recht entschließen, die Reise wirklich anzutreten – er musste sich etwas einfallen lassen, wie die Sache sich noch hinausschieben ließ.
»Ich bin neugierig, Barton«, sagte er. »Was läuft zwischen Ihnen und Karin?«
»Was meinen Sie?«
»Sie haben gesagt, wir sollten ehrlich miteinander sein.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« Barton blockte das Thema sichtlich ab.
»Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Ich versichere Ihnen, es ist eine rein berufliche Beziehung.«
»Zwischen Ihnen geht etwas vor«, beharrte Wilson. »Und bevor ich in diese Kugel steige, will ich wissen, was.«
»Was reden Sie denn da?«
»Kommen Sie schon! Sie werden in Kürze meine Moleküle zerstäuben, Menschenskind! Und Sie haben gesagt, dass wir ehrlich miteinander sein sollten, bei allem. Ich habe meinen Teil dieser Abmachung erfüllt – jetzt tun Sie mir den Gefallen.«
»Für Ihre Aufgabe ist das völlig irrelevant.«
»Nicht für mich.«
Barton trat näher an ihn heran. »Warum glauben Sie, dass da etwas läuft?«
»Ich weiß es einfach!«, antwortete Wilson selbstbewusst.
»O Gott.« Barton seufzte.
»Das ist doch ganz offensichtlich, Barton.« Wilson beobachtete Karins Gesicht von weitem. »Und ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Irgendwie tut es gut zu wissen, dass Sie auch nicht perfekt sind. Das gibt jemandem wie mir ein bisschen Hoffnung für die Zukunft.«
»Glauben Sie, dass auch andere es bemerkt haben?«, fragte Barton leise.
Wilson sah zu dem Team hinter der bombenfesten Scheibe hinüber. »Diese Leute sind hochintelligent, aber zum Glück nicht besonders scharfsichtig, was zwischenmenschliche Beziehungen angeht.«
Barton rieb sich das Kinn. »IQ versus EQ«, sagte er, als wäre damit alles erklärt. »Beim Emotionstest haben Sie außerordentlich gut abgeschnitten, Wilson. Ich sollte mich nicht wundern, dass Sie es bemerkt haben.«
»Also erzählen Sie: Wie lange geht das schon so?«
»Das ist jetzt wirklich nicht der Augenblick, um darüber zu reden. Richten Sie Ihre Gedanken auf das, was Sie zu tun haben. Bleiben Sie konzentriert.«
»Im Moment bin ich für alles dankbar, was mich davon abhält, in diese Kugel zu steigen, Barton. Ich könnte noch stundenlang über dieses Thema reden.«
Barton schaute zur Wanduhr. »Tut mir leid, Wilson. Es ist Zeit, die Reise anzutreten.«
Plötzlich fiel Wilson das Atmen schwer. Bestürzt blickte er auf die leise summende Transportkugel. »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte er. »Sagen Sie mir noch mal, dass alles gut gehen wird.«
Der Leiter der Forschungsgruppe, einer der intelligentesten Männer der Welt, musterte das Transportgerät mit echter Zuneigung. »Ich weiß, was ich tue.«
Wilson musterte die Laserkanonen, die ringsherum standen. »Das hat auch General Custer am Little Big Horn gesagt.«
»Es wird gelingen.«
»Hoffentlich haben Sie recht, Barton. Denn wenn die Sache schiefgeht, werde ich kaum in der Lage sein, Ihnen zu sagen, wie enttäuscht ich bin. Sind Sie sicher, dass Sie an alles gedacht haben? Ich fände es furchtbar, wenn Sie und Ihre Freundin irgendeine Kleinigkeit vergessen hätten und die Hälfte meiner Moleküle nach Pakistan schickten.«
»Denken Sie positiv, Wilson. Denken Sie an das, was Sie erreichen müssen. Ich sorge dafür, dass Sie hinkommen. Vertrauen Sie mir.«
Vertrauen Sie mir. Das hatte Barton neulich auch zu GM gesagt, wie Wilson sich erinnerte. Und da hatte er ihn belogen!
»Tragen Sie Ihre Kontaktlinsen?«, fragte Barton.
»Zum vierten Mal: ja«, fauchte Wilson.
»Ohne die Linsen sind Sie gefährdet.« Barton blickte erneut zur Countdown-Anzeige an der Wand. »Sie müssen jetzt einsteigen, Wilson. Es ist Zeit, dem Schicksal zu begegnen.«
Schicksal. Das Wort hallte Wilson durch den Kopf. Er stellte sich vor, wie Barton sagte: Es war Wilsons Schicksal, in der Transportkapsel zu sterben. Er hatte den dringenden Wunsch, sich mit ihm zu unterhalten – über irgendetwas. »Sind Sie nicht wenigstens ein bisschen neugierig wegen meiner EEG-Ergebnisse? Sie haben mich nie gefragt, warum sie so ungewöhnlich sind.«
»Das hätte mich nur beunruhigt«, meinte Barton.
Zum ersten Mal machte Wilson sich wegen seiner Omega-Programmierung Sorgen, sie könnte den Transportprozess stören. Er war überrascht, dass ihm das nicht früher eingefallen war.
»Auf jeden Fall bin ich sicher, dass Sie der Aufseher sind«, meinte Barton zuversichtlich. »Sie haben nicht nur die richtigen genetischen Merkmale für einen Transport, sie haben auch alle Eigenschaften, den Auftrag erfolgreich durchzuführen. Einige dieser Eigenschaften sind ungewöhnlicher als andere. Als ich GM neulich sagte, dass ich Sie auf jeden Fall nehmen würde, habe ich nicht gelogen. Sie wären meine erste Wahl gewesen, unabhängig von den Umständen. Also treffen wir eine Abmachung: Wenn Sie zurückkommen, können Sie mir alles über Ihre EEG-Ergebnisse erzählen und über die Kräfte, die Sie haben. Dann kann ich mich auf etwas freuen. Aber jetzt ist es Zeit für die Abreise.« Er winkte ihn zum Transportbehälter.
»Und Sie können mir – wenn ich wiederkomme – alles über sich und Karin erzählen«, meinte Wilson. »All die spannenden Einzelheiten. Okay?«
Barton lächelte. »Abgemacht.« Er zögerte und rieb sich das Kinn. »Ach, übrigens … benutzen Sie während des Transports keine zerebralen Befehle. Das könnte Probleme geben.«
Wilson wurde plötzlich schlecht. »Wir hätten vorher darüber reden sollen!«, sagte er aufgeregt. »Ich wusste, das würde Schwierigkeiten geben. Wir sollten die Sache abblasen! Oder ein, zwei Tage hinausschieben. Ja, das würde schon reichen …« Barton legte ihm die Hand auf die Schulter und unterbrach ihn.
»Alles wird gut, Wilson«, sagte er bestimmt. »Denken Sie nur an eines: Lassen Sie sich von niemandem abhalten, den Auftrag zu Ende zu bringen. Bleiben Sie konzentriert.« Sein Blick war ermutigend. »Geben Sie acht beim Einsteigen.« Er deutete auf die Kugel. »Es ist nicht ganz so einfach.«
Wilson schaute auf den Boden. »Es ist seltsam«, sagte er ernst. »Da haben wir eine Zeitmaschine hier, und ich habe keine Zeit mehr. Ist das nicht paradox?«
»Das Gleiche habe ich zu Ihnen gesagt, als sie hier angekommen sind.«
»Ich weiß.«
Barton wollte lächeln, aber sein Gesicht spielte nicht mit. Er nahm die Hand von Wilsons Schulter und blickte ihn an wie einen lang vermissten Sohn. »Wissen Sie was? Ich bin neidisch. Sie machen sich zu einem unglaublichen Abenteuer auf.«
»Sie und Ihre Freundin müssen jetzt gut auf mich aufpassen«, witzelte Wilson und nahm Barton in eine herzliche Umarmung.
»Keine Sorge.« Barton hielt ihn fest. »Es wird schon gutgehen.«
Wilson wusste, dass er sich durch diese Versicherung besser fühlen sollte, doch die Wirkung blieb aus. Die Sekunden verstrichen. Schließlich atmete er tief durch und wappnete sich. Nicht nachdenken, einfach einsteigen, sagte er sich. Mit Herzklopfen kletterte er durch die Titanringe und das schmale Luk in die warme Imploderkugel.
Barton verschloss das Luk und reckte die Daumen nach oben. Nach außen war er ruhig, aber innerlich lief er auf Hochtouren.
Auf der Countdown-Anzeige stand: 5 Minuten 17 Sekunden.
In weniger als sechs Minuten würde Barton erreicht haben, wofür er über zwei Jahre gearbeitet hatte. Er war erleichtert und aufgeregt zugleich.
Wilson stand allein in der Transportkapsel. Er wollte lachen. Wie bin ich bloß hierher geraten?, fragte er sich. Er kam sich vor wie in einem Goldfischglas. Er rückte eine der Kontaktlinsen zurecht. Es war schwer zu glauben, dass sie den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten sollten. Er lächelte – er ließ sich freiwillig von Lasern zerlegen. Das war beinahe komisch. Beinahe.
Barton ging zielstrebig in den Kontrollraum und rief: »Alle Stationen bereit?«
Mit fliegender Hast überprüften die zwölf Mitglieder des Teams ihre Systeme. Alle Augen waren auf den Leiter gerichtet.
»Sieht alles gut aus«, sagte Davin.
Barton näherte sich der Hauptkonsole und stellte sich neben Karin.
»Eine Umarmung?«, flüsterte sie. »Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
»Wilson war nervös«, erklärte Barton. »Er fürchtet, wir könnten die Sache vermasseln.«
»Ich wäre an seiner Stelle nicht nervös.« Dann sagte sie mit normaler Lautstärke: »Hier ist auch alles in Ordnung«, und richtete den Blick fest auf die Holographie vor ihr. »Dieses Experiment wird Geschichte schreiben.«
Du ahnst ja nicht, wie sehr, dachte Barton.
Die Temperatur lag 17,5 Grad höher als angezeigt. Barton hatte die diagnostischen Sensoren umprogrammiert – eine verblüffend einfache Lösung seines Problems. Sein Finger schwebte auf dem roten Auslöseknopf. Die Temperatur war perfekt, und der Zeitpunkt war gekommen. Er sah noch einmal zu Davin hinüber.
»Sind wir startklar?«, fragte Barton.
»Alle Systeme startklar«, antwortete Davin.
»Korrekt. Alle Systeme sind startklar«, wiederholte Andre.
Nacheinander gaben die Wissenschaftler ihre Zustimmung. Barton schaute zu Wilson. Jetzt geht’s los, mein Freund, dachte er. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Plötzlich fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf wie eine Offenbarung: Ich blicke auf den Aufseher. Nach seiner Sicht bestand kein Zweifel, dass Wilson der Mann war, der in der Qumran-Rolle beschrieben wurde.
Er drückte auf den Knopf. Ein Klicken ertönte, und der Transportprozess begann.
Wilson zuckte zusammen. Barton beobachtete ihn von seinem Platz hinter der bombenfesten Scheibe und machte ein seltsames Gesicht. Sie haben recht, Barton, ich bin ein Idiot, dachte Wilson.
Mit einem lauten Gong begannen die glänzenden Titanreifen zu oszillieren. Die Lampen im Labor flackerten. Wilson sah in die Gesichter der Forscher, die ihn ebenfalls anblickten. Ich wette, sie alle halten mich für einen Trottel.
»Kann ich es mir noch anders überlegen?«, rief er.
Ein goldener Lichtstrahl schien plötzlich aus der Dunkelheit, und Wilson kniff beklommen die Augen zu. Die erste Energiesalve wurde auf ihn abgefeuert. Denk an den Rembrandt, sagte er sich, an das schlafende Baby und die Engel.
»Zwei Minuten bis zum Start«, verkündete Andre.
Ein leichtes Lächeln legte sich auf Bartons Lippen, und er erlaubte sich einen Moment lang, die Zeitmaschine zu bestaunen. Er hatte es geschafft! Bei einem Blick über die Anzeigen der Hauptkonsole sah er, dass alles reibungslos lief. Genieße den Augenblick, sagte er sich. Du hast getan, was du konntest.
Unerwartet wurden die Türen des Kontrollraums aufgerissen, und Jasper Tredwell erschien. Mit langen Schritten marschierte er auf die Hauptkonsole zu und streckte die Arme hoch.
»Stoppen Sie den Test!«, rief er.
»Bringen Sie ihn raus!«, schrie Barton und zeigte zur Tür.
»Ich sagte: Stoppen Sie den Test!«, forderte Jasper. Davin stellte sich ihm in den Weg, doch er war ihm körperlich unterlegen und wurde mühelos beiseitegeschoben.
»Alle machen mit Ihrer Arbeit weiter!«, rief Barton entschlossen. Und zu Jasper: »Gehen Sie bitte! Sie haben hier keine Befugnis!«
»Aber ich«, sagte GM, der plötzlich in der Tür stand. »Stoppen Sie den Test.«
Barton blieb fast das Herz stehen.
»Neunzig Sekunden bis zum Start«, rief Andre.
Wilson sah die plötzliche Aufregung im Kontrollraum. Was machen denn die Tredwells da?, wunderte er sich.
Im Hintergrund wummerte es laut, als gewaltige Elektrizitätsmengen aus den Elektromagneten zur Imploderkugel strömten. Eine neue Energieladung traf Wilson. Ihn kribbelte es am ganzen Körper, als die Laserkanonen in aufeinander abgestimmten Sequenzen feuerten.
Barton hatte gesagt, es würde nicht weh tun, aber woher wollte er das wissen? Mit der nächsten Energiewelle wurde das Prickeln stärker.
»Stoppt den Test!«, rief Wilson.
Barton setzte seine ganze Kraft ein, um Jasper von der Hauptkonsole wegzudrängen. »Das können Sie nicht tun!«, flehte er.
»Sie haben einen großen Fehler begangen«, sagte GM verächtlich. »Sie hätten uns die Wahrheit sagen sollen.«
»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt!«, widersprach Barton.
Der alte Mann zeigte mit seinem Gehstock durch den Raum. »Stoppen Sie alles! Das ist ein Befehl!«
Bei einem Blick auf die Anzeigen sah Barton, dass die Phase bereits kritisch war. »Wenn wir das tun, wird Wilson sterben!«, rief er. »Die Collider sind schon dabei, ihn zu zerlegen! Alle weitermachen!«
Die Titanringe drehten sich immer schneller, bis sie sich in einen silbernen Nebel auflösten. Wilson fühlte ein Brennen auf der Haut, während die Energiewellen ihn trafen. Die Lasersalven nahmen zu. Stoppt den Test!, dachte er immer wieder. Doch seine Muskeln rührten sich nicht mehr, und er brachte keinen Laut heraus. Er war erstarrt, wie in Eis eingefroren.
Die Innenwände begannen zu flimmern.
Die Zeit dehnte sich.
Wilsons Atmung setzte aus, und alles wurde schwarz.
»Fünfzig Sekunden bis zum Start«, sagte Andre ruhig.
Die Energiekurven stiegen. Im Kontrollraum begann alles zu zittern wie bei einem Erdbeben. Wassergläser und Kaffeetassen ruckelten über die Tischplatten und fielen zu Boden.
»Leite EF-Vorgang ein«, rief Davin.
Es war Zeit, das elektromagnetische Feld zu öffnen.
Karin hielt den Finger über dem grünen EF-Knopf, doch Jasper winkte sie beiseite.
»Gehen Sie da weg!«, sagte er.
»Drücken Sie den Knopf, Karin!«, rief Barton.
»Sie haben mich belogen!«, sagte GM anklagend.
Barton zeigte auf das rautenförmige Gerüst im Labor. »Karin, öffnen Sie jetzt das Magnetfeld. Drücken Sie den Knopf! Sonst stirbt Wilson!«
Zwei Sicherheitsmänner erschienen in der Tür.
GM zeigte auf Barton. »Halten Sie ihn von dieser Konsole fern«, befahl er.
»Ich habe Sie nicht angelogen, GM«, beharrte Barton und wich zurück. »Das waren Informationen, von denen Sie nichts zu wissen brauchten.«
»Dreißig Sekunden!«, rief Andre.
»Wir wissen über das Unternehmen Jesaja Bescheid«, sagte Jasper. »Wir wissen, was Sie hier tun wollen.«
»Die Information war unwichtig für Sie«, sagte Barton. Die Wachmänner näherten sich vorsichtig und schoben sich zwischen ihn und die Hauptkonsole. »Die Firma wird keinen Schaden erleiden. Ich habe Ihnen mein Wort gegeben.«
»Sie hätten mich von dem Vorhaben unterrichten sollen«, sagte GM enttäuscht.
»Zwanzig Sekunden.«
Die Laser im Labor gingen systematisch auf volle Leistung, und Wilsons Körper zerplatzte in Millionen silberne Moleküle. Beim Anblick seiner plötzlichen Auflösung hielten alle im Kontrollraum die Luft an. Die Wissenschaftler fragten sich: Haben wir versagt? War es Quark-Gluonen-Plasma, auf das sie blickten, oder war es etwas anderes, etwas Entsetzliches?
Barton nutzte den Augenblick und stürzte an den EF-Knopf. Fast hätte er es geschafft, doch die Sicherheitsleute schleuderten den schlanken Mann mit Leichtigkeit zu Boden.
»Es tut mir leid, Barton«, sagte GM. »Ich kann nicht zulassen, dass Sie weitermachen. Es steht zu viel auf dem Spiel.«
»Drücken Sie den Knopf, Karin«, flehte Barton, »sonst ist Wilson tot!«
»Zehn Sekunden.«
»Drücken Sie den Knopf!«
Karins Hand schwebte mit ausgestrecktem Zeigefinger am selben Platz.
»Drücken Sie!«, schrie Barton.
Doch sie tat es nicht.
Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ließ Jasper sich zu einem Sprint herab und stieß Karin beiseite.
Barton wurde am Boden festgehalten und starrte mit verzerrtem Gesicht ins Labor hinunter. GM hatte keine Freude daran, seinen besten Mann so gedemütigt zu sehen. Dennoch blieb er eisern. »Ich muss mein Unternehmen schützen«, sagte er. »Ich habe keine andere Wahl.«
Barton konnte nicht verstehen, warum Karin den Knopf nicht drückte. Er hätte sie am liebsten mit Blicken durchbohrt. Stattdessen verfolgte er, was in der Transportkapsel passierte.
Andre zählte den Countdown. »Zehn … neun … acht …«
Fassungslos über das Geschehen der letzten zwei Minuten standen die Wissenschaftler des Mercury-Teams da und rührten sich nicht. Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Die Laser im Labor erloschen, und die Vibration, die den ganzen Raum erfasst hatte, endete. Alles war wieder still.
Das schimmernde Plasma in der Kristallkugel spritzte gegen die Innenwand wie Gischt an eine Felsenküste. Alle wurden Zeuge des Todes von Wilson Dowling, davon waren sie überzeugt.
Davin erwog, einen Sprung an den EF-Knopf zu wagen, doch Jasper bewachte ihn, als würde sein Leben davon abhängen.
»Er wird sterben«, wimmerte Barton.
GM betrachtete ungerührt die leuchtenden Partikel im Transportbehälter.
Andres Stimme drang in die Stille. »Drei … zwei … eins … Zündung.«
Im Labor fing das rautenförmige Gerüst schwach zu glühen an. Dann, mit einem blendenden Lichtblitz, jagten die Partikel aus der Imploderkugel durch den Raum. Das Innere der Raute schimmerte wie Quecksilber.
Die Konduktorenbänke gingen auf volle Leistung.
Fünf Petawatt. Zehn Petawatt. Fünfzehn Petawatt.
Die Zeit verzerrte sich.
Wumm.
Das Magnetfeld öffnete sich, und das Quark-Gluonen-Plasma verschwand.
Dann wurde das Labor in Dunkelheit gehüllt. Kurz darauf flammte die Notbeleuchtung auf, und man sah, wie die Titanringe um den Transportbehälter schwerfällig zum Stehen kamen.
Jasper starrte mit offenem Mund auf die leere Kristallkugel. »Was ist passiert?«, fragte er. Er wandte sich Karin wegen einer Antwort zu, doch sie zuckte nur die Schultern.
»Das elektromagnetische Feld hat sich von selbst geöffnet«, stellte Davin ratlos fest. Er konnte es auch nicht begreifen.
»Sie meinen, der Transport hat stattgefunden?«, fragte Jasper aufgebracht.
Andre studierte die Anzeigen. »Ja … er hat stattgefunden.«
»Wie ist das möglich?«, stieß Jasper hervor. »Keiner hat den Knopf gedrückt. Wie kann das sein?«
GM drehte sich zu den Wachmännern um. »Lassen Sie den Mann los«, sagte er.
Als der Leiter der Forschungsgruppe wieder auf den Beinen stand, verwendete er große Sorgfalt darauf, seine Kleidung zu richten und sich die Haare glattzustreichen.
GM lächelte schlitzohrig. »Das war sehr beeindruckend, Barton. Sie haben den EF-Schalter mit einer Automatik versehen, nicht wahr? Wie immer haben Sie sich auf das Unerwartete vorbereitet.«
»Und das war genau das Richtige. Vielen Dank, GM«, sagte Barton.
»Wir müssen über die Situation sprechen«, sagte GM ernst. »Und wohin uns das geführt hat.«
»Ja.«
»Sie müssen müde sein«, sagte der alte Mann milde. »Gehen Sie schlafen. Wir werden gleich morgen früh darüber reden. Dann können Sie mir alles erklären.«
»Es tut mir leid, dass ich Informationen vor Ihnen zurückgehalten habe«, sagte Barton ernst. »Ich hatte keine andere Wahl.«
Zu seinem Enkel sagte GM: »Wie es scheint, wurden wir ausgetrickst, Jasper. Barton ist nicht ohne Grund unser bester Wissenschaftler.«