32.
Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Mercury Building, Untergeschoss A5 – Mercury-Labor
17. Mai 2081
Ortszeit: 21.12 Uhr
6 Tage vor dem Transporttest
Der Abend war schon fortgeschritten, als Wilson und Barton im Firmengebäude ankamen. Noch in Wanderkleidung betraten sie das hochgesicherte Transportlabor. Barton sah gut aus; der Tag an der frischen Luft hatte bei ihm Wunder gewirkt.
»Da sind wir«, sagte er.
Wilsons Blick wurde sofort von der großen, durchsichtigen Kugel angezogen, die unter einem Punktstrahler dicht über dem Boden schwebte. Sie war von drei glänzenden Titanringen umgeben, die wie silberne Hula-Hoop-Reifen aussahen und auf komplizierte Weise um die Oberfläche zu kreisen schienen.
»Das ist die Imploder-Kugel«, erklärte Barton. »Oder der Transportbehälter, wie ich es nenne.« Ringsherum standen sechsundfünfzig Laserkanonen – Fünf-Terawatt-Partikelzerstäuber – in unterschiedlichem Winkel montiert, die alle auf die Mitte zeigten.
Der Anblick machte Wilson nervös. Nur ein Idiot würde sich in seine Moleküle zerlegen und auf dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde beschleunigen lassen. »Vielleicht bin ich wirklich der Richtige dafür«, sagte er. Er ging zwischen den Laserkanonen hindurch und berührte die glatte Außenfläche des Behälters. Sie fühlte sich warm an. »Das Ding vibriert!«
Barton nickte. »Es ist aus Kristall. Wenn es auf die richtige Temperatur erhitzt wird, oszilliert die Kohlenstoffverbindung. Das ist ein Schlüsselelement beim Zeitreiseprozess. Mit der Temperatur des Behälters können wir die Frequenz der Energie im Innern ändern und so die Zeit bestimmen, in die wir Sie schicken.« Barton legte die Hand auf einen der Titanreifen.
»Was hat die Vibration des Behälters damit zu tun?«
»Je höher die Frequenz, desto weiter reisen Sie in die Vergangenheit. Also je heißer der Transportbehälter, desto weiter reisen Sie zurück.«
»Ja, aber wie? Warum?«
Barton legte die hohlen Handflächen aneinander. »Die Erde ist von einem elektromagnetischen Feld umgeben. Der Zeitreiseprozess findet statt, indem man Energie durch das Magnetfeld schickt. Der Transportbehälter erlaubt uns, Materie in reine Energie umzuwandeln und diese Energie in das Magnetfeld zu schießen – und zwar dadurch.« Er zeigte auf ein rautenförmiges Gerüst, das am Ende des Raumes in der Luft hing. Dutzende dicker Stromkabel führten von dort zu einer Reihe Konduktoren. »Diese vier Titanrohre sind stark geladene Magnetpole, die in entgegengesetzter Richtung liegen. Wenn wir sie mit genügend Elektrizität versorgen – ungefähr zwanzig Petawatt –, öffnen die gegensätzlichen Kräfte einen Spalt im Magnetfeld der Erde. Das nennen wir einen Z-Pinch. Theoretisch ergibt sich ein Wurmlocheffekt. Abhängig von der Frequenz der Energie, die hineingeht – das ist der Zeitpunkt der Wiederherstellung.«
Wilson war einer Panik nahe. Nur Bartons Selbstvertrauen und die Ruhe in seinem Blick hielten ihn davon ab, völlig die Nerven zu verlieren.
Barton sagte: »Ihre individuelle Chromosomenstruktur erlaubt uns, Sie hiermit auseinanderzunehmen.« Er zeigte auf die Laserkanonen. »Sie werden Ihre Moleküle in Energie umwandeln, die als Quark-Gluonen-Plasma bekannt ist. Dann werden Sie mit einer verschlüsselten Frequenz in das Magnetfeld der Erde gesaugt.« Er zeigte auf das rautenförmige Gerüst. »Das ist der Inflator.«
»Sind Sie sicher, dass das funktioniert?«, fragte Wilson zweifelnd.
»Ich habe das nicht erfunden, nur gebaut«, antwortete Barton.
Das war es nicht, was Wilson hören wollte.
Der Leiter des Mercury-Teams lächelte. »Ich bin sicher, dass es gut geht.« Zum ersten Mal schien es, als wäre er unsicher.
Wilsons Mut befand sich im freien Fall. »Lullen Sie mich nicht ein, Barton. Wird es funktionieren oder nicht?«
Barton sah wieder gleichmütig aus. »Nichts ist sicher, Wilson. Aber ich versichere Ihnen von ganzem Herzen: Ich bin überzeugt, dass es funktioniert. Ich glaube, dass wir das Richtige tun. Das ist Bestimmung. Ich würde das nicht sagen, wäre ich nicht davon überzeugt.« Diesmal schwankte sein Gesichtsausdruck nicht.
Wilson starrte auf die Zeitmaschine. Weil er sie nicht durchschaute, jagte sie ihm Angst ein. Das war eine natürliche Reaktion, die sich jedoch nicht abstellen ließ.
Barton, der seine Angst spürte, sagte: »Ich muss etwas gestehen.« Er stand aufrecht und gelassen da. »Es gibt einen zweiten Gen-EP-Kandidaten – jemanden mit den gleichen genetischen Bausteinen wie Sie. Er war mein Ersatzmann für den Fall, dass die Lage sich anders entwickelt hätte.« Barton rieb sich das Kinn. »Ich sage Ihnen ausdrücklich: Ich bin überzeugt, dass Sie der Aufseher sind.«
»Ich bin dafür, dass wir den anderen Kerl rausschicken«, sagte Wilson trocken.
Barton schüttelte den Kopf. »Sie sind der Aufseher, Wilson. Ganz sicher.«
Angst und Neugier hielten sich bei Wilson die Waage. »Und wenn es doch nicht funktioniert? Ich meine … das Ganze.«
Barton überlegte kurz und sagte: »Es wird funktionieren. Das Buch Esther wurde …«, er suchte nach den richtigen Worten, »es wurde von Gott selbst geschrieben. Eine bessere Versicherung gibt es nicht.«
»Wir sollten trotzdem in Erwägung ziehen, den anderen Kerl zu schicken.«
Das Labor hatte eine dicke, leicht grünliche Glaswand. Dahinter befand sich der Hauptkontrollraum. Das Mercury-Team war da. Barton freute sich, sie zu sehen. »Es war ein sehr langer Tag«, flüsterte er. »Also passen Sie auf, was Sie sagen.« Er ging mit Wilson einen schmalen Flur entlang, bog zweimal nach links um eine Ecke und nickte ihm ermunternd zu, ehe er die Tür aufdrückte.
Zahlreiche dreidimensionale Hologramme schwebten in der Luft. Alle zwölf Mitglieder des Teams taten Dienst; einige standen, andere saßen. Auf jedem Bildschirm liefen Simulationsprogramme. Stiller Fleiß bestimmte die Atmosphäre.
Davin sah auf, offensichtlich überrascht. »Sie sind wieder da!«
»Wie läuft’s?«, fragte Barton.
»Wir sind fast fertig.« Davin steckte sich einen Schokoladenkeks in den Mund. Die halb leere Schachtel lag vor ihm auf dem Schreibtisch.
Lebhaft wie immer sprang Karin von ihrem Stuhl auf und hielt stolz ihr digitales Arbeitsblatt hoch. Ihre kastanienbraunen Haare waren tadellos, ihre Augen strahlten. Als Barton ihre Arbeitsergebnisse nahm, berührte er sacht ihre Hand und blieb in dieser Haltung. Es geschah ganz unauffällig, doch Wilson bemerkte es. Er sah auch den Blick, den die beiden tauschten. Es war ein zu langer, bedeutungsvoller Blick. Barton klatschte in die Hände und beendete den Moment zwischen ihnen.
»Das ist phantastisch!«, sagte Barton zu seinem Team. »Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen. Das war ein sehr schwieriges Projekt, und ich weiß die Opfer zu schätzen, die Sie gebracht haben.« Er legte eine kurze Pause ein. »Ich habe gute Neuigkeiten!« Alle hörten gespannt zu. »Ich habe Wilson Dowling als Transportperson gewählt. Bitte berücksichtigen Sie das bei Ihren Gleichungen. In sechs Tagen werden wir ihn auf eine Entdeckungsreise schicken.«
Es gab einen kurzen Applaus.
Andre trat mit düsterem Gesicht zu Barton und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich muss Sie sprechen, unter vier Augen.«
»Was gibt es für ein Problem?«, fragte Barton.
Davin zeigte sich durch das Verhalten des Jungen genauso irritiert.
»Aber gewiss, Andre, gehen wir nach draußen.« Barton zog die Tür auf und deutete auf den Flur. »Sie auch, Wilson.«
»Ich möchte allein mit Ihnen sprechen!«, beharrte Andre.
Barton blieb fest. »Kommen Sie bitte mit.« Er winkte beide durch die Tür und machte sie hinter sich zu. »Nun, was gibt es?«
»Ich kann das nicht vor Wilson besprechen«, sagte Andre. »Es geht um ihn.«
Barton verzog keine Miene. »Wilson, warten Sie bitte da drüben.«
Wilson entfernte sich ein Stück, während hinter ihm ein gedämpftes Gespräch in Gang kam. Zuerst blieb es ruhig, doch die Stimmen wurden lauter und bekamen einen angespannten Tonfall. Andre begann zu jammern und zu klagen; es klang hörbar verzweifelt. Wilson warf einen Blick über die Schulter. Barton stand mit verschränkten Armen da und war überhaupt nicht glücklich. Andre zeigte anklagend in Wilsons Richtung.
Tu mir einen Gefallen, Kind, dachte Wilson. Sag Barton, er soll den anderen Kandidaten nehmen, dann bin ich dir ewig dankbar. Er lehnte sich an die Wand und gab sich Mühe, nicht hinzuhören, was gesprochen wurde. Es gab so viel anderes, woran er denken konnte. Zeitreise zum Beispiel; er fragte sich, ob Schmerzen damit verbunden wären. Als er wieder hinübersah, hatten sich auch Davin und Karin zu der Flurabordnung gesellt.
Barton wirkte aufgebracht. »Es tut mir leid, Andre«, sagte er laut, »da gibt es nichts mehr zu diskutieren! Es bleibt dabei.« Er rief Wilson herbei. Dann zog er Andre das Mercury-Schild vom Kittel und sagte zu Karin: »Holen Sie mir Andres Arbeitsblatt. Sofort!«
Sie zögerte einen Moment, dann eilte sie ins Labor.
Wilson schlenderte gemächlich zu den anderen. Es stand nicht allzu gut um die Idylle im alten Mercury-Land.
Andre war blass geworden. »Sie machen einen Fehler«, murmelte er.
»Bringen Sie ihn weg«, befahl Barton.
Alle machten ein finsteres Gesicht, als Davin den Jungen wegführte. Andre sah Wilson in die Augen, als sie vorbeigingen; der Blick schrie seine traurige Wut heraus.
»Was ist denn los?«, fragte Wilson.
Barton war erregt. »Es scheint, wir haben dem jungen Burschen zu viel zugemutet.« Kurz darauf kam Karin und reichte Barton das digitale Arbeitsblatt. Barton prüfte sorgfältig die Seite; dann sagte er: »Karin, kümmern Sie sich um Wilson. Sorgen Sie dafür, dass er in sein Zimmer zurückkommt.« Damit ging er wie betäubt den Flur hinunter.
Wilson wandte sich Karin zu. »Worum ging es eigentlich?«
»Andre wurde aus dem Team entlassen«, erklärte sie kühl. »Er wurde erwischt, wie er das Überwachungssystem benutzte. Was für ein dummer Junge.«
Wilson verstand nicht, warum Barton ihm nicht davon erzählt hatte – sie hatten den ganzen Tag zusammen verbracht. Er musste doch davon gewusst haben.
»Andre war für das Team sehr nützlich«, sagte Karin bedauernd.
Einen Moment lang standen sie schweigend beieinander.
»Wie kommt es nur, dass wir beide immer auf einem Flur herumstehen?«, meinte Wilson, um die Stimmung aufzulockern, und dachte an ihre erste Begegnung an der Pacifica University.
»Ja, es scheint sich zu wiederholen, nicht wahr?«, erwiderte Karin. »War das Ihr erster Besuch im Transportlabor?«
»Ja.« Er blickte ihr ins Gesicht. »Dort sollen offenbar meine Moleküle mit Lichtgeschwindigkeit zerlegt werden. Danke übrigens, dass Sie mich hergebracht haben.« Seine Stimme triefte von Sarkasmus. »Mein Leben war vorher schrecklich langweilig.«
Sie ließ ein makelloses Lächeln sehen. »Kommen Sie mit rein, ich werde Sie herumführen.«
Karin zeigte ihm alles und stellte ihn den Teammitgliedern vor, die er noch nicht kannte. Sie war ein Muster professioneller Freundlichkeit. Es war bemerkenswert, dass sich niemand an Andres plötzlichem Verschwinden zu stören schien. Wilson stand an der Glaswand und schaute in das Labor, wo der Transportbehälter drohend unter einer Reihe Lampen leuchtete. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich unwohl.
»Sind Sie nervös?«, fragte Karin.
Wilson starrte die Kristallkugel an. »Wären Sie es nicht?«
Ihr Tonfall blieb heiter. »Das Mercury-Team wird Sie durch die Sache durchbringen.« Wie sie ihre glänzenden braunen Haare zurückwarf, bot sie ein Bild des Selbstvertrauens. »Ich finde, Sie sind sehr tapfer. Ich bin beeindruckt.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Ja, sehr tapfer.«
»Ich glaube, dumm trifft es eher.« Wilson kannte die Wahrheit über das bevorstehende Unternehmen und die Reise in die Vergangenheit; Karin würde ihm sicher beipflichten, wenn sie davon wüsste.
»Nein, eindeutig tapfer«, bekräftigte sie, als wollte sie auf die Lebensgefahr anspielen, die damit verbunden war.