36.
Kairo, Ägypten
Gizeh-Plateau
20. Dezember 2012
Ortszeit: 23.57 Uhr
Unternehmen Jesaja – sechsundzwanzigster Tag
Das Knattern des Motorrads hallte zwischen den Mastabas. Man konnte sich leicht vorstellen, es sei die Stimme der Sphinx. Der Scheinwerfer leuchtete Wilson in die Augen, er streckte kläglich kapitulierend die Arme in die Luft. Der Fluchtweg war versperrt. Er schaute flüchtig an den Grabmauern hoch. Wenn er hinaufkletterte, würden sie ihn dann erschießen?
»Hierher!«, rief eine weibliche Stimme.
Der Scheinwerfer drehte sich ein wenig zur Seite, und der Motorradfahrer kam in den Blick. Helena klappte ihr Helmvisier hoch und klopfte ungeduldig mit der Hand auf den Sozius.
»Na los!«, rief sie. »Beeilung! Uns bleibt nicht viel Zeit!«
Wilson war sprachlos.
»Na los!«, rief Helena noch einmal.
Wilson kam zu sich, sprang hinter ihr auf den Sitz und griff ihr um die Taille. Sie trug schwarze Soldatenkleidung, ein kurzärmliges Polohemd, Hosen mit großen Taschen an den Oberschenkeln und Reitstiefel. An einer Kevlarweste mit vielen Taschen hatte sie zwei Schusswaffen festgeklettet.
»Ich habe überall nach Ihnen gesucht«, sagte sie.
»Zur Sphinx!«, rief Wilson. »Wir müssen zur Sphinx!« Helena schwenkte das Geländemotorrad gekonnt herum und fuhr im Zickzack in offenes Gelände – und in die falsche Richtung. »Da entlang!«, schrie Wilson. »Ich muss zur Sphinx!«
»Es sind überall Soldaten!«, rief sie.
Wilson schlang die Arme umso fester um sie. »Wenden Sie!«
An den Sanddünen blitzte Mündungsfeuer auf. Die anschließende Kugelsalve pfiff über ihre Köpfe hinweg. Zur gleichen Zeit traf das Vorderrad eine halb verdeckte Bodenrinne, riss das Motorrad in die Höhe und katapultierte die Besatzung über den Lenker, dass sie durch den Sand rollte.
Helena sprang katzengewandt auf, zog eine Waffe und feuerte wahllos drei Schüsse in die Dunkelheit, duckte sich hinter eine Mastaba und zog sich den Helm vom Kopf.
»Sie sind schon seit Wochen hier!«, sagte sie wütend. Der Motor der im Sand liegenden Maschine lief noch; der Scheinwerfer beleuchtete die großen Steinblöcke an der Ostseite der Chephren-Pyramide.
Ein Konvoi von drei Fahrzeugen – eine silberne Limousine und zwei schwarze Ford Bronco – raste eine Palmenallee hinunter auf das Gizeh-Plateau zu. Sonst fuhr niemand auf der Straße. Als sie die Anhöhe erreichten, war das Mündungsfeuer bei den Pyramiden zu sehen.
Visblat knurrte in sein Walkie-Talkie: »Was ist da los?«
»Wir haben sie eingekreist«, antwortete der Offizier mit gedämpfter Stimme. Im Hintergrund hallten Schüsse. »Sie werden uns nicht entkommen.«
Visblat war sofort auf hundertachtzig. »Stellen Sie das Feuer ein! Das ist ein Befehl! Er darf nicht verletzt werden!«
»Sie sind zu zweit!«
»Feuer einstellen!«, blaffte Visblat.
Immer wieder peitschten Schüsse durch die Nacht, und eine Leuchtkugel stieg auf. Um das erbeutete Nachtsichtgerät einer Benutzung zuzuführen, zog Wilson es Helena über die Augen und schaltete es ein.
Sobald Helena klar sah, spähte sie um den Granitblock.
»Ich lasse mich nicht festnehmen«, sagte sie entschlossen. »Das sage ich Ihnen. Ich schieße mir den Weg frei, wenn es sein muss, aber ich ergebe mich nicht. Niemals.« In diesem Moment legte sich eine unheimliche Stille über das Plateau.
Die Schüsse hatten seltsamerweise aufgehört.
»Ich muss zur Sphinx«, beharrte Wilson. »Das ist lebenswichtig.«
»Falls Sie es noch nicht bemerkt haben«, sagte Helena. »Da gibt es ein kleines Hindernis.« Sie schaute kurz zu den Männern, die sich in den Dünen verschanzt hatten. »Da sind ungefähr dreißig Soldaten, die mit Ihren Reiseplänen nicht einverstanden sind.«
»Ich gehe trotzdem!«
Helena starrte ihn durch das Nachtsichtgerät an.
»Sie gehen da lang«, sagte Wilson, zur Seite zeigend, »und ich gehe hier lang.«
Helena schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt, als sie gegen den Willen ihres Vaters um die Welt gereist war, um Wilson zu finden. Es war einfach zu gefährlich hier und es gab zu viele offene Fragen, als dass sie ihn ziehen lassen konnte. Helena steckte in der Sache drin – worum es sich auch handelte – und würde ihren Teil tun.
»Ich muss gehen!«, beharrte Wilson.
»Dann gehen wir zusammen«, sagte sie entschlossen.
»Es gibt einen geheimen Eingang«, erklärte Wilson. »Zwischen den Vorderpfoten der Sphinx steht ein Gedenkstein. Das ist der Eingang, und den muss ich nehmen.«
»Wir müssen ihn nehmen«, korrigierte Helena. Sie riss eine Klettverschlusstasche auf und holte eine Tränengasgranate heraus, ein hochexplosives britisches Modell von Pains Wessex. Es war dazu gemacht, den Gegner außer Gefecht zu setzen. »Wir bekommen nur eine Chance, von hier zu verschwinden«, sagte sie. »Sind Sie sicher, dass Sie wissen, was Sie tun?«
»Ganz sicher.«
»Nur die eine Chance!«, wiederholte sie und griff an den Stift, um ihn zu ziehen.
Wilson schwankte nicht. »Werfen Sie sie einfach!«
Helena deutete auf das umgekippte Motorrad. »Auf drei.« Mit einem metallischen Schnappen kam der Stift heraus. »Eins … zwei … drei!«
Die Granate wirbelte in die Richtung der Soldaten, so weit wie Helena werfen konnte, und explodierte in der Luft. Ein greller Blitz erleuchtete die Ruinenstätte, begleitet von einem verwirrenden Lärm; dann landete die aufgeplatzte Granate im Sand und verströmte eine Wolke aus giftigem Tränengas, die rasch größer wurde.
Der Granatenblitz erhellte den Fond von Visblats Limousine, als sie sich dem Plateau näherte. »Verdammt! Ich habe gesagt, Sie sollen das Feuer einstellen!«, sagte er und ließ den Sprechknopf los.
Sein Headset knisterte. »Sie versuchen zu entkommen!«
»Das ist Helena Capriarty, diese Schlange – sie muss es sein.« Visblat klopfte seinem Fahrer auf die Schulter und zeigte nach vorn. »Bringen Sie mich zur Sphinx. Schnell!« Er zog seine .44 Magnum aus der Jacke und prüfte das Magazin. Dann drückte er den Sprechknopf. »Schicken Sie Ihre Leute zur Sphinx! Sie sollen sie umstellen! Nicht schießen! Haben Sie mich verstanden? Sie versuchen, zur Traumstele zu kommen.«
Helena richtete das Motorrad auf, schaltete das Licht aus und wartete scheinbar eine Ewigkeit, bis Wilson hinter ihr aufgesessen war. Bei einer Drehung des Handgelenks jaulte der Motor auf; dann katapultierte er die Maschine durch den giftigen Rauch auf die Statue zu. Helena brannten die Augen, und sie hielt die Luft an, um nicht würgen zu müssen.
Überall waren Soldaten – einige krümmten sich, andere waren von dem Blitz geblendet, und niemand schoss. Sie waren kurzzeitig außer Gefecht. Helena beschleunigte, fuhr in eine kleine Senke und an der anderen Seite wieder hinaus.
Als sie aus den giftigen Dämpfen heraus waren, rasten sie auf den dachlosen Bau des Taltempels zu und wichen zwei weiteren Soldaten aus. Noch immer wurde nicht geschossen. Wieder sprang das Motorrad in die Höhe. Helena ging sofort in die Kurve, und sie flogen eine sandige Böschung hinunter zwischen die Ruinen, bis sie vor der Sphinx schlitternd anhielten.
Wilson reaktivierte sein nächtliches Sehvermögen und rannte zwischen den Löwenpranken hindurch. Die Sterne leuchteten hell. Die Sphinx war eine mächtige Statue mit vier Meter hohen Pranken, die man, so stellte Wilson fest, unmöglich erklettern konnte. Der einzige Weg zur Traumstele führte zwischen ihnen hindurch.
Helena ließ das Motorrad fallen, zog zwei identische Colt-Pistolen und wich nervös in die Sackgasse zurück. Wilson warf einen Blick zum Gesicht des Pharaos hinauf. Nase und Bart fehlten seit Jahrhunderten, und die übrigen Gesichtszüge waren stark verwittert. Doch die großen steinernen Augäpfel blickten drohend nach Kairo.
»Abu al-Hol«, flüsterte Wilson. Der Vater des Schreckens.
Helena war neben ihm, die Waffen auf die Lücke zwischen den Pranken gerichtet. »Ich hoffe, Sie wissen wirklich, was Sie tun.«
Eine vier Meter hohe Stele aus rotem Granit stand vor dem Brustbein der Sphinx. Sie war 1396 vor Christus errichtet worden. Die eingemeißelte Hieroglypheninschrift erzählte die Geschichte von Thutmosis IV., einem ägyptischen Prinzen, der im Schatten der Statue eingeschlafen war. Zu der Zeit war die Sphinx bis zum Hals im Sand versunken gewesen. Während der Prinz dort schlief, erschien ihm die Sphinx im Traum und beklagte sich, dass sie vom Sand verschlungen und zerrieben werde. Thutmosis solle Pharao werden, wenn sie zu ihrer einstigen Schönheit zurückkehren könne, indem er die Statue vom Sand befreite und den beschädigten Körper wiederherstellte.
Wie auf der Stele geschrieben stand, erfüllte Thutmosis seinen Teil der Abmachung und wurde innerhalb eines Jahres wie versprochen Pharao.
Wilson betrachtete die Vorderfront der Stele. Sie sah nicht so aus, als hätte jemand sich daran zu schaffen gemacht. Er strich mit den Fingern über die vielen, unterschiedlich großen Schriftzeichen, die die gesamte Oberfläche einnahmen. Wilson errechnete das Datum, berücksichtigte, dass es nach Mitternacht war, und legte danach fest, welche beiden Zeichen er zu suchen hatte. Das erste fand er schnell.
Ein ägyptischer Soldat rannte am Eingang der Sackgasse vorbei. Helena, die ihn gesehen hatte, ging neben Wilson in die Hocke und tippte ihm sacht auf die Schulter. »Sie sind hier«, flüsterte sie.
Nachdem er das zweite Zeichen gefunden hatte, griff er in seine Tasche und holt einen zerbrochenen Bleistift heraus. »Das ist nicht gut.«
Auf die Bemerkung drehte Helena den Kopf. »Was ist nicht gut?«
Er wählte das längere der beiden Stücke und warf das andere weg. »Mein Bleistift ist durchgebrochen.«
Wieder lief ein Soldat an der Öffnung vorbei.
»Was immer Sie da tun, tun Sie es schnell!«, flehte Helena.
Wilson steckte das angespitzte Ende in die Vertiefung, die den Mittelpunkt zwischen den beiden Zeichen bildete. Er drückte ihn so fest er konnte in den Granit, bis es leise klickte.
Jemand rief mit starkem Akzent: »Keine Bewegung! Ihnen wird nichts passieren!«
Wilson schlug mit der Faust auf die Stele. Nichts geschah! Dann rieselte feiner weißer Sand über die Front der Stele.
Visblat schritt auf eine Gruppe Soldaten zu, die sich am Fuß der Sphinx versammelt hatten. Obwohl Zeit eine entscheidende Rolle spielte, wollte er nicht rennen. Er würde dadurch nur unsicher wirken. Ein Offizier mit geröteten, tränenden Augen ging ihm entgegen.
»Sie sind in einer Sackgasse«, sagte er und zeigte auf die Vorderpranken der Statue. »Sie sind bewaffnet.«
Visblat streckte den Kopf um die Ecke, sah aber nur Dunkelheit. »Idioten. Ich hatte befohlen, sie nicht dort reinzulassen«, sagte er. »Geben Sie mir ein Nachtsichtgerät. Schnell!«
Helena erkannte das Gesicht sofort, das kurz um die Ecke starrte. Ihr Puls beschleunigte sich. »Visblat ist gekommen«, flüsterte sie nervös. »Er hält sich schon mindestens zwei Wochen hier auf.«
»Sie müssen mir noch ein wenig Zeit verschaffen«, erwiderte Wilson.
»Was meinen Sie, was ich tun soll? Ihn bitten zu warten?«
»Tun Sie irgendwas!«
Helena zielte auf den Tank des Motorrads und drückte ab. Mit einem mächtigen Schlag flog er auseinander, und Flammen schlugen in die Höhe.
Geblendet von dem Feuerball musste Wilson seinen Omega-Befehl widerrufen.
»Sie haben zwanzig Sekunden mehr!«, sagte Helena aggressiv.
Die Hitze des Feuers strömte in die Gasse zwischen den steinernen Löwenpranken. Wilson wandte sich wieder der Stele zu. Der Sand, der anfangs nur träge aus den Fugen gerieselt war, rann jetzt schneller und kräftiger. Dennoch schlug Wilson erneut gegen den Stein, um seinen Fluss zu beschleunigen.
Helena schob ihr Nachtsichtgerät in die Stirn. Hinter dem brennenden Motorradtank sammelten sich Soldaten und bereiteten einen Angriff vor. »Noch zehn Sekunden«, sagte sie und hob die Pistolen. »Dann haben wir ein dickes Problem.«
Der Sand strömte aus allen vier Rändern gleichzeitig. Wilson spürte hinter sich, wie das Feuer rasch kleiner wurde. Plötzlich gab es einen Ruck, und die Stele stürzte nach hinten um.
Ein pechschwarzer Gang hatte sich aufgetan.
Ohne zu überlegen, was er dort antreffen könnte, packte Wilson Helena am Arm und zog sie mit sich durch die Öffnung.
Sie prallten gegen glatte Steinwände und stürzten durch einen senkrechten Schacht. Der Fall erschien endlos. Den Magen halb auf der Zunge, sausten sie durch kalte Finsternis. Schwindelgefühl hielt sie gefangen, der Luftzug pfiff an ihren Ohren vorbei. Allmählich bekam der Schacht einen flacheren Winkel, der Fall wurde gebremst, und sie landeten taumelnd auf ebenem Grund.
Mit einem leisen Knall entzündete sich an der Wand eine Kupferlaterne, in der eine einzelne Flamme züngelte. Ein Stück weiter weg entzündete sich eine zweite. Und nach und nach flammten Lampen auf, so weit das Auge reichte, bis der schnurgerade Gang, der zur Pyramide führte, hell erleuchtet war.
Ein staubiger Dunst hing in der Luft.
»Beim nächsten Mal«, fauchte Helena, »sagen Sie gefälligst vorher, dass Sie mich in ein bodenloses Loch reißen, damit ich mich nicht zu Tode erschrecke!«
»Ich dachte, Sie würden sich freuen«, erwiderte Wilson, während er sich aufrappelte.
»Wenn Sie das komisch finden, dann …« Helena verschluckte die Beleidigung und begutachtete sich. Sie hatten Glück gehabt, dass sie so knapp entkommen waren, das war ihr klar. Sie steckte eine ihrer Pistolen weg und zog das Nachtsichtgerät vom Kopf. Doch es war zersplittert, und sie warf es beiseite. Plötzlich drang irgendein Geruch an ihre Nase. »Hier riecht es seltsam.«
Wilson war bereits losgelaufen. »Das kommt daher, dass wir seit mehr als viereinhalbtausend Jahren die Ersten sind, die den Gang betreten. Überlegen Sie mal – die Lampen funktionieren noch! Nicht zu fassen! Mein Vermieter schafft es nicht mal, den Aufzug reparieren zu lassen.«
Der geheime Eingang stand offen, und Dowling war verschwunden, stellte Visblat fest. Nachdem er ungeduldig gewartet hatte, bis das Feuer heruntergebrannt war, ging er um das zerstörte Motorrad herum und versuchte, ruhig zu bleiben. »Verankern Sie ein langes Seil«, sagte er und deutete auf die umgestürzte Stele. »Dann werfen Sie es in den Schacht. Lassen Sie niemand anderen hinein. Ich werde bald zurück sein.« Der Offizier bei ihm wirkte beunruhigt.
»Aber Herr! Sie dürfen da nicht hinein. Der Fluch von Abu al-Hol.«
Visblat drehte sich um und blickte ihn an. »Abergläubischer Narr«, sagte er. »Tun Sie, was ich sage. Verankern Sie das Seil, verstanden?«
Von unerklärlicher Angst gepackt, wich der Offizier einen Schritt zurück; er hatte Visblat in die Augen gesehen.
Der wandte sich ab und blickte in das Innere der Sphinx. Von tief unten schien ein wenig Licht herauf. »Tun Sie, was ich gesagt habe.«
Damit verschwand er in der Öffnung.
Der Gang, der unter dem Damm zwischen der Sphinx und der Chephren-Pyramide verlief, führte gut vierhundert Meter genau geradeaus. Am Ende mündete er in einer Kammer unter dem Totentempel. Wilson und Helena waren ein beträchtliches Stück durch die Dunkelheit gestürzt; es war unmöglich zu sagen, wie tief unter der Erde sie sich befanden.
»Am Ende des Ganges stehen wir vor vier Türen«, sagte Wilson, der ein flottes Tempo vorlegte. »Da beginnt das Chephren-Labyrinth.«
»Ein Labyrinth?«
»Ja.«
»Geht das schon wieder los, Wilson. Eine neue Pyramide, ein anderes Land.«
»Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?«
»Oh, das war ganz leicht.«
»Durch eine Vision?«
»Eine alte Frau hat in einer dieser Gassen auf Sie geschossen«, sagte sie.
»Ja … Kairo-Martha, die alte Hexe. Sie hätte mich fast umgebracht.«
Helena packte Wilson am Ärmel und hielt ihn auf. »Warum will ein Zeitreisender die Pyramiden der ganzen Welt besuchen? Bitte, sagen Sie es mir …«
»Die Chephren-Pyramide steht direkt auf einem natürlichen Energiespalt«, antwortet er und ging weiter. »Einem gigantischen Energieportal. Und ich bin hier, um es zu aktivieren.«
»Wie viele solcher Portale gibt es?«
»Drei. Dies ist das zweite.« Wilson schwieg einen Moment. Dann fragte er: »Wo ist Esther?«
»Sie ist wieder bei George«, sagte Helena. »Ich soll Sie übrigens grüßen.«
»Wie geht es ihm?«
»Er war damit beschäftigt, die Houstoner Polizei wegen irrtümlicher Festnahme und irrtümlicher Gewaltanwendung zu verklagen. Sollte er den Prozess gewinnen, springt einiges an Geld für ihn heraus. Wenn jemand sich aus einer üblen Klemme herauswinden und sie zu seinem Vorteil drehen kann, dann er.«
Wilson musste lächeln. »Sie sagten, Sie haben Visblat gesehen?«, fragte er, wobei ihm das Lächeln prompt verging.
»Zum ersten Mal vor einer Woche … zufällig auf der Straße in Kairo. Ich nehme an, dass Ihretwegen keiner nach Einbruch der Dunkelheit zur Sphinx durfte.«
»Die Traumstele kann nur bei Nacht geöffnet werden«, erklärte Wilson. »Bei Tag geht es nicht.« Es schien, dass Visblat wirklich über alles Bescheid wusste.
»Ganz Gizeh wimmelt von Soldaten«, erzählte Helena. »In den Medien hieß es, es sei wegen einer terroristischen Drohung. Sie sind kein Terrorist, oder?«
»Das hängt davon ab, auf welcher Seite Sie stehen.«
»Bitte … bringen Sie mich nicht noch mehr durcheinander.«
»Natürlich bin ich kein Terrorist.« Wilson hatte nicht den Mut zuzugeben, dass diese Frau ihm drei Wochen lang nicht aus dem Kopf gegangen war. »Trotzdem sind Sie bei mir nicht sicher«, sagte er. »Sie hätten nicht kommen sollen.«
»Sie brauchen mich«, sagte sie bestimmt.
Ein schwaches Kratzen, das zunehmend lauter wurde, störte plötzlich die Stille. Kurz darauf taumelte Visblat in den Gang, nur hundert Meter hinter ihnen.
Wilson und Helena wechselten einen alarmierten Blick.
»Vielleicht brauche ich Sie wirklich«, meinte Wilson, und beide rannten so schnell sie konnten.
Der Gang mündete in eine hell erleuchtete, sechseckige Kammer.
Der perfekt symmetrische Raum besaß eine hohe, spitz zulaufende Decke und Wände aus Sandsteinquadern. Er hatte fünf Eingänge – den, durch den sie gekommen waren, und vier weitere. Die sechste Wand war mit Hieroglyphen bemalt. Die safrangelben Zeichen waren schwarz umrandet und schienen auf einem Steinblock zu rotieren. Es sah verblüffend aus.
Dort stand also das Rätsel der Kammer.*

Wilsons Blick huschte zu den vier Ausgängen, über denen jeweils eine Gruppe von Symbolen stand. Die vielen Stunden des Lernens zahlten sich jetzt aus, als er mühelos die Frage übersetzte.
»Geh mit der Morgensonne«, sagte er.
Nacheinander sah er sich die Symbole über den Ausgängen an.

Sie waren leicht zu erkennen.
»Norden … Süden … Osten … und Westen«, sagte er.
Norden, die Richtung des lebensspendenden Wassers des Nils. Süden, wo die Papyrusstauden wuchsen. Osten stand für die Stadt, Leben und Nahrung. Westen, der Friedhof – in Ägypten lagen die Gräber immer auf der Westseite des Nils.
Durch feine Risse in der Decke rieselte Sand die Wände hinunter. Wilson wusste, was das bedeutete – Bartons Warnung war korrekt: Es dauerte nicht mehr lange, dann würde das Labyrinth einstürzen und alles unter sich begraben.
Helena sah Visblat durch den Sandstaubschleier heransprinten. »Beeilen Sie sich, Wilson!«, flüsterte sie drängend.
»Die Sonne geht im Osten auf«, murmelte Wilson. »Das heißt, die Strahlen gehen nach Westen. Das ist die Antwort … Westen!« Wilson zeigte auf den entfernten linken Ausgang, und zusammen hasteten sie eine endlos erscheinende Treppe hinunter. Dann ging es scharf nach rechts, und sie standen in der nächsten Kammer. Wie zuvor gab es vier weitere Ausgänge, jeder mit Hieroglyphen versehen. In die verbleibende Wand war ein Rätsel gemeißelt.

»Was heißt das?«, fragte Helena ungeduldig.
»Der Weg, dem du folgen musst«, übersetzte Wilson.

»Weisheit … Klugheit … Glaube … Macht.«
Visblat stürmte in die erste Kammer und schaute über die Wände.
»Geh mit der Morgensonne«, sagte er. Ohne zu zögern rannte er zu dem Ausgang, über dem »Westen« stand.
Der Weg, dem du folgen musst. Wilson wusste die Antwort sofort. Sie stand im Buch Jesaja. Die Antwort hieß »Glaube«. Es musste so sein.
Der Gang führte über unzählige Stufen aufwärts; dann bog er scharf rechts ab. Helena und Wilson nahmen immer zwei Stufen auf einmal. Als sie die dritte Entscheidungskammer erreichten, war Wilson außer Atem. Wieder hatten sie die Wahl zwischen vier Ausgängen, aber diesmal stand kein Rätsel an der Wand und keine Schriftzeichen über den Ausgängen. Das einzige Unterscheidungsmerkmal bestand darin, dass drei der Ausgänge erleuchtet waren und einer im Dunkeln lag.
»Das ist eine Frage des Glaubens«, sagte Wilson. Er packte Helenas Hand und rannte in den unbeleuchteten Gang. Bei völliger Dunkelheit war sein Omega-Befehl nutzlos, und so tasteten sie sich Meter um Meter voran, um Ecken und Stufen hinauf.
»Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun«, sagte Helena leise.
Visblat gelangte in die dritte Entscheidungskammer und lief ohne anzuhalten in den dunklen Gang. Voraus konnte er Helena flüstern hören, und er schrie in die Dunkelheit: »Mr. Dowling, Sie müssen mir zuhören. Sie müssen das Unternehmen abbrechen! Die Pyramide wurde manipuliert! Sie müssen aufhören! Sie machen einen Fehler!«
Die heisere Stimme Visblats hallte durch den Gang.
»Hören Sie nicht auf ihn«, riet Helena leise. »Er lügt. Ich kann es spüren.«
Wie konnte er ihnen so mühelos folgen?, überlegte Wilson.
In der Ferne tauchte ein Licht auf, klein wie ein Stecknadelkopf, und das Paar rannte aus Leibeskräften darauf zu. Mit jedem Schritt wurde es heller in dem Gang. Schließlich kamen sie in eine hell erleuchtete Kammer, die den vorigen glich. Hinter den vier Ausgängen war es finster.
Wilson las das Rätsel an der Wand.

»Du bist eingetreten. Du hast viele Schritte getan«, übersetzte er. »Wo bist du nun?« Hastig blickte er zu dem jeweiligen Türsturz.

»Osten … Westen … Oben … Unten«, las er.
Helena prüfte ihre Waffen. »Welcher ist es?«, fragte sie. »Entscheiden Sie sich!«
Wilson wusste, dass die Sphinx nach Osten blickte. Das hieß, als sie die erste Kammer betraten, blickten sie nach Westen. Von dort rekonstruierte er nach und nach ihren Weg.
Helena horchte auf Visblats Schritte, die durch die Stille näher kamen. Er rannte nicht mehr, lief stattdessen mit ausgreifenden Schritten. Helena richtete die Waffe auf den schwarzen Gang, den Finger nervös am Abzug. Ein feiner Schweißfilm bedeckte ihr Gesicht. Es waren seine Augen, die sie fürchtete, das war ihr klar, und der Gedanke, ihn wiederzusehen, machte ihr Angst.
Die Gänge hatten viele Male die Richtung gewechselt, und Wilson gab sich die größte Mühe, den Weg nachzuvollziehen. Seiner Einschätzung nach waren sie an den Ausgangspunkt zurückgekehrt, nur standen sie jetzt dreißig Stufen höher. Die Antwort musste lauten: oben.
Wilson griff nach Helenas Hand und rannte erneut mit ihr ins Dunkle. Er hätte gern die Zeit gehabt, seine Lösungsschritte noch einmal durchzugehen, um sicher zu sein, doch Visblat war zu dicht hinter ihnen. Sie waren keine zwanzig Schritte weit gekommen, als plötzlich der Boden unter ihnen wegsackte. Eine Falltür! Sie stürzten in rabenschwarze Dunkelheit.
»Wir müssen miteinander reden!«, rief Visblat und unterdrückte mit Mühe seinen hilflosen Zorn. »Sie müssen sich anhören, was ich Ihnen zu sagen habe!« Er betrat die vierte Entscheidungskammer, doch sie war leer. Als er das Scharren auf dem Sandstein hörte, wusste er, welchen Ausgang sie genommen hatten. Er ging kein Risiko ein, trat zurück und las die Hieroglypheninschrift; dann schaute er über die verräterischen Spuren auf dem sandigen Boden.
Helena und Wilson rannten aus dem runden Schacht in eine gleichfalls erleuchtete Kammer. Während ihres Sturzes hatte Helena eine Vision bekommen, die zweite in den letzten fünf Minuten. Inzwischen konnte sie durch Wilsons Augen blicken und gleichzeitig das eigene Bild wahrnehmen.
Mit heftig pochendem Herzen las Wilson die Schriftzeichen an der Rätselwand.

»Der feste Wille wählt den richtigen Weg«, flüsterte er. Vor ihnen lagen vier nicht bezeichnete, stockfinstere Ausgänge. Den Boden bedeckte bereits eine dünne Sandschicht. Plötzlich wurde Wilson klar, dass Visblat überall ihre Fußspuren vorfand. Zweifellos konnte er ihnen deshalb so mühelos folgen. Ohne ein Wort machte Wilson einen Schuhabdruck und wies Helena stumm darauf hin. Sie begriff sofort, und zu zweit hetzten sie zwischen den Ausgängen hin und her, sodass sich ein Durcheinander von Abdrücken bildete, das hoffentlich nicht zu entschlüsseln war.
Wilson sah noch einmal auf das Rätsel: »›Der feste Wille wählt den richtigen Weg.‹ Theoretisch kann ich hier nichts falsch machen.« Zögerlich zeigte er auf einen der dunklen Ausgänge.
Helena machte ein zweifelndes Gesicht. »Meinen Sie wirklich?«
»Sie haben recht, es ist der da!« Wilson ergriff ihre Hand, und sie sprangen erneut ins Dunkle.
Sowie das Paar die Kammer verlassen hatte, stolperte Visblat hinein und schlitterte über den sandigen Boden. Er verzog wütend das Gesicht, als er die vielen Fußspuren sah. Der Sand strömte in feinen Rinnsalen von der Decke und machte es noch schwerer, Wilsons Weg zu erkennen.
»Allmählich glaube ich, Sie wollen nicht kooperieren!«, brüllte Visblat.
Da ihm nichts anderes übrig blieb, las er die Inschrift. Angesichts der undurchsichtigen Frage bekam er einen trockenen Mund. Er hasste diese dummen Rätsel. Wie sollte er auf eine Lösung kommen?
Er verlegte sich auf die nächstbeste Chance und lauschte still. Irgendwann hörte er einen schwachen Laut aus einem der Gänge. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf seine Lippen.
»Meine Männer hätten Sie töten können!«, brüllte Visblat. »Dass Sie noch leben, haben Sie allein mir zu verdanken! Aber es spielt gar keine Rolle, Mr. Dowling!«
Visblats Gebrüll hallte durch den Gang – und zwei Sekunden später kam der Schall aus der entgegengesetzten Richtung.
Wie konnte das sein?, fragte sich Wilson.
Seine Frage wurde sofort beantwortet, als er um die Ecke bog und in eine riesige Höhle blickte. Sie war gut und gern zehnmal so groß wie der Rasenhof der Universität von Sydney, und der maß insgesamt ein Acre. Die Höhle musste mindestens zweihundert Meter breit sein. Ringsherum brannten Hunderte von Öllampen; ihre Flammen warfen ein geisterhaft flackerndes Licht an die groben Felswände. Unter ihm mündete der Gang auf eine Steinbrücke, die die Dunkelheit überspannte. Es gab noch drei solcher Brücken, zwei links und eine rechts neben ihm, die jeweils fünf Meter auseinanderlagen. Sie hatten kein Geländer.
»Vier Ausgänge, vier Brücken«, schloss Wilson. Das erklärte, warum er Visblats Stimme aus zwei Richtungen gehört hatte. Er ging bis ganz an den Rand und trat einen Steinsplitter in die Tiefe. Er hörte ihn nicht aufschlagen. Der Spalt war scheinbar bodenlos.
Alle vier Brücken führten über den Abgrund und endeten etwa fünfzig Meter entfernt an einer glatt gemauerten Wand. Nach der Größe der Steinblöcke zu urteilen, bildeten sie das Fundament der Chephren-Pyramide. Wilson sah, dass man nur auf eine der anderen Brücken gelangen konnte, wenn man in das Labyrinth zurückging – für einen Sprung waren sie jedenfalls zu weit auseinander.
Helena zog Wilson von der Kante zurück.
»Gehen Sie nicht da raus«, sagte sie.
»Was bleibt uns anderes übrig?« Er löste sich aus ihrem Griff und rannte über den Abgrund auf die andere Seite, wo er die Hände gegen die Steinquader presste, die sein Vorwärtskommen behinderten. Die Länge der Mauer entsprach der Außenseite der Pyramide. Aber wie komme ich hinein? Nirgends bot sich ein Hinweis. Keine Zeichen. Keine Hebel. Nur Steinquader.
Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Wand, doch nichts geschah.
Helena kam leichtfüßig neben ihn und richtete die Waffe nervös auf die Ausgänge des Labyrinths. Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich, als Visblats Stimme aus einem der benachbarten Gänge in die Höhle schallte.
»Warum wollen Sie mir nicht zuhören, Mr. Dowling? Warum?«
Helena zielte über den Lauf und versuchte herauszuhören, aus welchem Gang er kommen würde. Es war schwierig, weil seine Stimme von den Wänden widerhallte.
»Ich habe versucht, vernünftig zu sein!«, schrie Visblat. »Oh ja! Aber Sie wollen nicht kooperieren!«
Wilson drehte sich auf der Stelle um. »Ich bin bereit zu reden«, rief er zurück.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte Helena.
»Sagen Sie Miss Capriarty, sie soll die Waffe runternehmen!«, verlangte Visblat.
»Tun Sie es, Helena«, flüsterte Wilson.
Sie schüttelte den Kopf.
»Tun Sie es trotzdem.« Wilson drückte den Pistolenlauf zum Boden.
Visblat schlenderte ruhig ins Freie. Er stand am benachbarten Ausgang. Seine Waffe zeigte ebenfalls zum Boden. »Sie können die Hieroglyphen lesen, wie ich sehe. Sehr beeindruckend, Mr. Dowling. Sie haben in sehr kurzer Zeit sehr viel gelernt.«
Visblat sah ein wenig dünner aus als beim vorigen Mal, fand Wilson.
»Sie haben den falschen Weg gewählt«, erwiderte Wilson und grinste selbstbewusst.
Visblat grinste ebenfalls. »Nein, Sie, Mr. Dowling.«
Helena war wie erstarrt, als sie Visblats Augen sah. Ihr Puls raste, ihre Hände waren schweißnass. Sie hatte ein Gefühl im Magen, als würde ihr gleich alles hochkommen.
»Sie haben gesehen, wie der Sand von der Decke rieselt«, sagte Wilson. »Das Labyrinth wird bald einstürzen. Wenn Sie nicht aufpassen, werden Sie immer noch hier drinnen sein.«
»Es bleibt noch reichlich Zeit«, entgegnete Visblat.
Die beiden Männer sahen sich über den Abgrund hinweg an, der die beiden Brücken voneinander trennte, Wilson geschützt durch seine Sonnenbrille.
»Sie machen einen großen Fehler«, wiederholte der ehemalige Polizeichef. »Sie sollten mir vertrauen.«
»Hören Sie nicht auf ihn«, flüsterte Helena, die sich zum Sprechen zwingen musste.
»Sagen Sie mir, was Sie wollen«, rief Wilson, ohne auf die Warnung einzugehen.
»Das zweite Portal wurde manipuliert«, behauptete Visblat. Er klang jetzt ungewöhnlich ruhig, als wollte er seine Rolle oscarreif spielen. »Öffnen Sie es nicht. Gehen Sie direkt zum dritten Portal weiter.«
»Woher soll ich wissen, ob Sie die Wahrheit sagen?«
»Das können Sie nicht wissen.«
»Warum sollte ich Ihnen trauen?«
Visblat lächelte spöttisch. »Weil ich Sie längst hätte töten können, wenn ich gewollt hätte.«
Das überzeugte Wilson nicht so ganz. »Sie sollten Ihre Überredungskünste verbessern.«
Visblat bezwang einen Wutausbruch. »Das Portal wurde manipuliert«, wiederholte er.
»Woher wollen Sie das wissen?«
Es folgte eine Pause. »Ich weiß es eben.«
»Woher?«
»Was spielt das für eine Rolle?« Ein erregter Tonfall schlich sich in seine Stimme, als wäre es mit der Selbstbeherrschung gleich vorbei. Sein rechtes Auge zuckte, ebenso seine Hände und Finger. »Barton Ingerson ist der Grund, weshalb ich hier bin, Sie Narr!«
Wilson war sprachlos.
»Ja! Er hat mich geschickt, damit ich Sie aufhalte. Ha!« Der große Mann benahm sich, als hätte er eben beim Pokerturnier einen Royal Flush aufgedeckt. »Mehr Rechtfertigung ist nicht erforderlich, Mr. Dowling. Barton Ingerson hat mir gesagt, dass das zweite Portal manipuliert worden ist.«
»Sie kommen aus der Zukunft«, murmelte Wilson.
Als Antwort erklang ein irres Lachen. »Woher sollte ich sonst kommen …«
Wilson kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Beweisen Sie es.«
Und Visblat tat es.
»Sie sind ein Gen-EP-Kandidat, Mr. Dowling.« Visblat war wieder ganz ruhig, als hätte er die Frage erwartet. »Es waren nur vierzehn Tage Zeit, um Sie auf das Unternehmen vorzubereiten. Barton Ingerson wusste als Einziger, dass Sie in die Vergangenheit reisen würden. Die anderen Mitglieder des Mercury-Teams glaubten, Sie würden nur dreißig Minuten in die Zukunft versetzt.« Visblat machte die Sache Spaß, das konnte Wilson ihm ansehen. »Sie haben sich alle Mühe gegeben, in nur zwei Wochen alles zu lernen.«
»Wer hat Sie wirklich geschickt?«, fragte Wilson in bewusst zweifelndem Tonfall.
»Wie ich bereits sagte – Barton Ingerson.«
»Und Sie wurden hier Polizeichef?«
»Ich musste mir irgendwie die Zeit vertreiben. Sie haben mich sechs Jahre warten lassen, Mr. Dowling.«
»Trauen Sie ihm nicht«, flüsterte Helena, der die Schweißperlen von der Nase tropften.
»Halten Sie den Mund!«, brach es aus Visblat hervor.
»Barton und ich hatten ein Codewort für ein solches Szenario«, sagte Wilson. »Für den Fall, dass das Unternehmen abgebrochen werden muss. Nennen Sie es mir, und ich tue, was Sie sagen.«
Visblat verzog keine Miene.
»Was ist?«, forderte Wilson ungeduldig.
»Es gibt kein Codewort«, widersprach sein Gegner, dessen rechtes Auge wieder zuckte. »Und ich warne Sie, Mr. Dowling – ich kann solche Spiele nicht leiden.« Eine neuerliche Woge der Feindseligkeit türmte sich auf. »Wenn Sie das zweite Portal aktivieren, wird Barton sterben. Ja, Sie Narr! Sein Leben hängt davon ab, dass es offen bleibt.«
Allein die Vorstellung brachte Wilson ins Trudeln.
»Er lügt«, raunte Helena ihm zu.
Plötzlich war Wilsons Verstand vollkommen klar. Als hätten ihre Worte ihn von dem Gedankenwust befreit, der seine Denkfähigkeit behinderte. Sie hatte recht: Der Mann log.
»Glauben Sie, dass der Zufall ein Wegweiser für etwas ist?«, fragte Wilson.
Visblat schien verwirrt. »Was ist das für eine blöde Frage?«
»Ich wette, Sie kennen nicht mal Bartons Lieblingsplatz zum Angeln.«
Visblat streichelte den Lauf seiner Pistole, als wäre sie eine Katze. »Ich sagte es schon … wenn Sie nicht tun, was ich sage, wird Barton nie wieder angeln!«
»Waren Sie mal auf dem Mount Whitney?«
Visblat ging auf und ab. Er überlegte, wie lange er brauchen würde, durch das Labyrinth zu laufen und den richtigen Ausgang zu Wilsons Brücke zu finden, um ihm Verstand einzubläuen.
Wilson starrte in den schwarzen Abgrund zwischen den beiden Brücken. »Was dagegen, wenn ich Ihnen etwas zeige?« Er hob die Sonnenbrille und blickte seinem Gegner in die Augen.
Doch mit dieser Wirkung hatte er nicht gerechnet.
Ihm wurde es eng in der Brust, und die Knie wurden ihm weich. Er hatte Angst. Lähmende Angst. Das war ein deut-licher Hinweis, dass Visblats optische Trakenoide übermäßig verstärkt worden waren.
»Sie machen mich wütend, Mr. Dowling«, sagte Visblat, der reglos dastand, während der flackernde Lampenschein sein zorniges Gesicht beleuchtete. »Glauben Sie, ich bin empfänglich für etwas so Lächerliches wie eine Trakenoid-Reaktion? Ich bin besser, als Sie jemals sein können!« Visblat schätzte die Entfernung zwischen den Brücken ab. Da er einsah, den Sprung nicht schaffen zu können, trat er einen Schritt zurück und hob die Waffe.
Helena bezwang ihre Angst und hob ebenfalls die Waffe, zielte aber aus den Augenwinkeln, um direkten Blickkontakt zu vermeiden. Als hätte der große Mann ihren Trick bemerkt, richtete er seinen furchterregenden Blick auf sie.
»Na los, erschießen Sie mich! Aber Sie trauen sich ja doch nicht!«
Helena hielt den Blick abgewandt und zielte weiterhin nicht über den Lauf ihrer Waffe. Sie wollte abdrücken, doch irgendetwas hielt sie zurück. Dann merkte sie, dass es an der Vision lag, die sie von Wilson empfing. »Setzten Sie die Sonnenbrille wieder auf«, flüsterte sie. »Tun Sie es!«
»Wir können eine Vereinbarung treffen«, bot Wilson an.
In einem Wutausbruch riss Visblat die Arme hoch und schritt auf der Brücke auf und ab. »Dafür ist es zu spät! Von jetzt an machen wir es auf meine Art!«
»Sie brauchen mich«, sagte Wilson, »sonst wären Sie nicht hier.«
»Das zweite Portal ist manipuliert worden!«, brüllte Visblat. »Wie oft soll ich es denn noch sagen! Wir müssen direkt zum dritten Portal gehen! Ich werde Sie selbst hinbringen!« Er zögerte. »Aber dabei ist kein Platz für drei …«
Für Wilson ging alles in Zeitlupe über. Visblats Augen. Seine .44 Magnum. Helena an seiner Seite. Die kalte, schale Luft. Die zahllosen Ölflämmchen an der Höhlenwand. Irgendwie war ihm klar, was passieren würde. Ohne an seine eigene Sicherheit zu denken, trat er in die Schusslinie.
Die Waffe feuerte.
Wilson konnte das Projektil auf sich zufliegen sehen.
Die Kugel schlug dicht unter dem Herzen in Wilsons Brust ein und schleuderte ihn in Helenas Arme. Zusammen taumelten sie bis an den Rand des Abgrunds. Wilson rutschte über die Kante. Helena griff blitzschnell zu und bekam ihn zu fassen. Mit grimmiger Entschlossenheit hielt sie ihn fest, während sein Gewicht sie in die Tiefe zu ziehen drohte.
»Nein! Nicht er!«, rief Visblat voller Entsetzen. »O Gott!«
Laut knirschend wie Mühlsteine begannen die Höhlenwände zu wackeln. Ein Erdbeben rumpelte durch Gizeh – ein Vorspiel zum Einsturz des Labyrinths. Visblat blieb in seiner grenzenlosen Reue nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen. Er hatte seinen Rückfahrschein vernichtet. In einem Augenblick rasender Wut hatte er unwiederbringlich den einzigen Menschen getötet, der ihn aus dieser Welt mitnehmen konnte. Jetzt saß er in diesem Alptraum fest.
»Mein Gott, was habe ich getan?«, murmelte er und wankte aus der bebenden Höhle.
Zitternd vor Anstrengung zog Helena Wilson aus dem Abgrund. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, ihn wieder auf den Gehweg zu ziehen, doch es gelang ihr. Ringsherum bebten die Wände. Die Brücke wackelte. Steinsplitter fielen von der Decke. Helena blickte auf den reglosen Wilson. Sein Gesicht war bleich, seine Brust voller Blut.
Die Kugel war für sie bestimmt gewesen, das war klar.
Ein verzweifelter Schrei brach über ihre Lippen und hallte im Chor mit dem Rumpeln des Erdbebens durch den riesigen Raum. Sie drehte sich um und spähte in den Nachbargang nach diesem furchtbaren Mann, doch er war verschwunden. Sie hob die Waffe und feuerte hinein, einen Schuss nach dem anderen, um ihre Wut abzureagieren.
Warum habe ich gezögert?, fragte sie sich. Warum?
Schließlich war die Pistole leer.
Qualvolle Erinnerungen an das Geschehen vor zwölf Jahren stürmten auf sie ein. Ihre schlimmsten Ängste waren Wirklichkeit geworden. Die Geschichte wiederholte sich in leicht abgewandelter Form. Helena hatte versagt. Auch diesmal hatte sie versagt.
Inzwischen fielen größere Gesteinsbrocken von der Decke und polterten auf die Brücke. Das Beben wurde stärker.