6.
Sydney, Pacifica
Frazer House, Universität Sydney
10. Mai 2081
Ortszeit: 11.01 Uhr
13 Tage vor dem Transporttest
Heller Sonnenschein fiel durch den holographischen Fernseher an der Wand von Wilsons Arbeitszimmer. Durch das computergenerierte Bild wirkten die spärlichen Abmessungen des Zimmers größer. Es hatte keine Fenster, und die Luft war kühl. Wilson saß im künstlichen Sonnenschein in einem alten Ledersessel. Ringsherum stapelten sich Bücher, Hunderte, und lagen auf jeder verfügbaren Fläche einschließlich des Fußbodens.
Im Hintergrund erklang klassische Musik.
Wilson klappte den Roman zu, den er gerade gelesen hatte, und betrachtete den Einband. Ohne sich zu erheben, legte er das Buch weg und griff wahllos ein anderes. Als er sah, dass er eine ledergebundene Ausgabe von Dickens’ Geschichte aus zwei Städten erwischt hatte, leuchteten seine Augen auf. Das hatte er schon immer lesen wollen.
Wilson schlug die erste Seite auf und las die ersten Worte laut.
»Es war die beste und die schlimmste Zeit …«
Während er die Seiten überflog, rührte er in seinem Sessel kein Glied. Ab und zu verriet sein Gesicht den Anflug eines Lächelns und manchmal ein leichtes Stirnrunzeln, als er Tausende perfekt gesetzter Worte in sich aufnahm. Im Laufe von zwei Stunden las er ohne Unterbrechung und war restlos in das Buch vertieft.
Ein Klopfen an der Tür störte seine Konzentration. Er ignorierte das Geräusch, doch es wiederholte sich ein wenig lauter. Widerstrebend, mit leicht tauben Beinen stand er auf und fädelte sich durch das Labyrinth von Bücherstapeln und Möbeln zur Tür, um nachzusehen, wer da war.
Als er die Tür aufmachte, traf sein Blick auf ein breites Lächeln und gelbliche, schiefe Zähne. Der Besitzer dieses unschönen Grinsens, Bernie Muhandis, Kurier und Postbote der Universität, stand stolz in seiner grauen Uniform da, neben sich einen dreirädrigen Handwagen mit Briefen und Päckchen. Da er aus Mittelasien stammte, hieß er eigentlich Bagwan mit Vornamen, aber den hatte er in Bernie umgeändert, als er nach Pacifica auswanderte; man passte viel besser nach Australien, wenn man ein Bernie und kein Bagwan war, hatte er sich gesagt.
»Valentinstag!«, sagte Wilson wie immer und streckte die Arme aus, als erwartete er den ganzen Inhalt des Handwagens.
Bernie hob abwehrend die Hände. »Mr. Wilson, es ist ganz sicher nicht Valentinstag! Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen?« Obwohl Bernie seit fünfunddreißig Jahren in Pacifica lebte, sprach er noch mit starkem Hindi-Akzent.
»Was haben Sie diesmal für mich?«, fragte Wilson erwartungsvoll und beäugte die Päckchen.
»Diesmal ist nichts für Sie dabei, mein Freund, nicht mal ein Brief.«
»Warum haben Sie dann geklopft?«
»Ich finde gerade heraus, was Sie vorhaben«, antwortete er. Wilson machte den Versuch, ihm die Sicht zu versperren, doch Bernie streckte den Kopf an ihm vorbei und spähte in das kleine Arbeitszimmer. »Du meine Güte, es ist wahr! Die halbe Bibliothek ist auf Ihren Namen ausgeliehen! Sie müssen verrückt sein.«
»Ich stelle nur ein paar Recherchen an.«
Bernie legte seine dunkelhäutige Hand auf Wilsons Schulter. »Mr. Wilson, niemand, nicht einmal so ein unglaublicher Mensch wie Sie, kann so viele Bücher lesen. Was führen Sie hier drin im Schilde?«
Wilson schaute hinter sich. »Ich lese gern, das ist alles.«
Bernie kicherte. »Wie Sie wollen, geheimnisvoller Wilson. Ich weiß, dass Sie nur so tun, als würden Sie die vielen Bücher lesen. Also erwarten Sie nicht, dass ich sie für Sie abgebe, wenn Sie fertig sind. Sie werden einen Laster bestellen müssen.«
Es stimmte: Wilson hatte mehr Bücher, als ein normaler Mensch in einem Monat lesen konnte. Doch zuletzt hatte er sich ohne Schwierigkeiten durch zwei bis drei am Tag durchgekämpft. Seine Aufnahmefähigkeit war erstaunlich gewachsen.
Bernie zeigte auf seinen Postwagen. »Jedenfalls ist keine Valentinskarte für Sie dabei«, sagte er fröhlich.
»Nächsten Februar bekomme ich jede Menge Karten, Sie werden sehen«, sagte Wilson zuversichtlich.
»Wahrscheinlich bekommen Sie keine einzige, genau wie dieses Jahr.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie auf dem Postweg verloren gegangen sind.«
»Ich verstehe Ihr Problem«, erwiderte Bernie als Auftakt zu ein paar väterlichen Ratschlägen. »Sie sind zu wählerisch beim schönen Geschlecht. Das ist meine fachkundige Meinung. In meinem Land waren früher arrangierte Ehen üblich. Grandios! Das ist die bei weitem beste Methode für junge Männer und Frauen, sich zu begegnen und zu verlieben. An manchen Orten gibt es das noch, wissen Sie. Das ist eine überlegene, sehr viel zivilisiertere Art, junge Leute zusammenzubringen. Einem Mann wie Ihnen würde das guttun.« Bernie lächelte, sodass seine hässlichen Zähne wieder erschienen.
»Hört sich sehr modern an«, sagte Wilson ruhig.
»Auf diese Weise habe ich meine Frau kennen gelernt«, fuhr Bernie fort. »Was war sie ein hübsches Ding! Hinreißend!« Er geriet ins Schwärmen. »Mein Vater kam zu mir und sagte: Ich habe ein Mädchen für dich gefunden. Und er hatte recht.« Bernie legte die Hand aufs Herz und warf den Kopf zurück wie Julie Andrews in The Sound of Music.
Wilson sah auf die Armbanduhr und konnte kaum noch verbergen, dass er gelangweilt war. »Bagwan«, sagte er mit Nachdruck. »Hören Sie, ich würde gerne noch weiterplaudern, aber ich habe viel Arbeit.« Er deutete ins Zimmer. »Muss noch viele Bücher lesen.«
»Ich rede wohl zu viel«, sagte Bernie verlegen.
»Nein«, widersprach Wilson. »Ich bin nur sehr beschäftigt. Beim nächsten Mal müssen Sie mir alles erzählen. Ich bin schon sehr gespannt.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein …«, rief Bernie, während die Tür sich vor ihm schloss.
Dann öffnete sie sich wieder, und Wilson erschien.
»Ach, und Bagwan«, sagte er, »nächstes Mal klopfen Sie nur, wenn die verloren gegangenen Valentinskarten für mich da sind.«
Bernie grinste. »Sie sind ganz schön frech, Mr. Wilson.«
Wilson blickte ein zweites Mal auf die Uhr, und dabei fiel ihm etwas ein. Er war spät dran für seinen Vortrag bei Jenny Jones! Der Unterricht hatte schon begonnen.
Er stieß einen Schwall Schimpfwörter hervor, während er ins Zimmer eilte und sich durch die Bücherstapel schlängelte. Er schnappte sich sein Ausweiskärtchen vom Tisch, huschte nach draußen, knallte die Tür hinter sich zu und sauste an Bernie vorbei den Gang entlang.
»Ihretwegen komme ich zu spät, Bagwan!«, rief er über die Schulter. »Jenny wird sauer auf mich sein!«
»Dann ist ja alles, wie es sein sollte, Mr. Wilson«, rief Bernie zurück.
Der Universitätshof bestand aus einem Acre gepflegten Rasens. Er war auf allen Seiten von Fußgängerwegen umgeben. Die Leute lagen auf Decken im Freien und genossen die Herbstsonne. Einige lasen, andere plauderten. Die Atmosphäre war ruhig, beinahe idyllisch, bis Wilson über die Steinmauer sprang und quer über die Grünfläche sprintete, wobei er Leuten auswich oder über sie hinwegsprang.
Ein Sensor ertastete den Sicherheitsausweis, und die Glastüren öffneten sich, als er sich näherte. Schnaufend rannte er durch die leeren Korridore. Seine Schritte hallten. Noch einmal sah er auf die Uhr; dann stolperte er durch die Doppeltür und spürte sofort den Blick sämtlicher Studenten, die von den gestaffelten Sitzreihen herabsahen. Die digitale Tafel war mit Notizen bedeckt, und Jenny Jones – die böse Hexe des Westens – stand neben dem Podium, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Nett, dass Sie kommen«, war ihr nicht einmal lauwarmer Empfang.
Jenny war eine attraktive Brünette von fünfunddreißig Jahren mit einem Hochschulabschluss in Rechtswissenschaften. Sie war geistreich und rechthaberisch, hatte eine gute Figur und ein kokettes Lächeln – und wenn es nach Wilson gegangen wäre, würde er diese Schlange in seinem ganzen Leben nicht wiedersehen.
Wilson konnte ihr ansehen, dass sie sauer war, ehe er sich den gut fünfzig Studenten zuwandte, die ausdruckslos in seine Richtung blickten. In der vierten Reihe fiel sein Blick auf Jennys Freund. Es schien, dass Alfy – Alfred Souza – wieder beim Unterricht hospitierte.
Wilson konnte Alf so gut leiden wie das Gefühl, wenn einem mit der Zange die Nägel ausgerissen werden. Das war durchaus vergleichbar, fand Wilson. Alf zu sehen war höchstens noch ein bisschen schlimmer.
Warum?
Jenny und Wilson hatten mal eine feste Beziehung gehabt. Professor Author sagte, Wilsons Gefühle, die er noch immer für sie hatte, beruhten allein darauf, dass Jenny gut im Bett sei. Doch Wilson war sich da nicht so sicher. Es musste mehr sein als das. Wilson hatte sich entschieden, Jenny jetzt, wo sie nicht zusammen waren, zu verachten – es ging nur so oder so, meinte er; einen Mittelweg gab es nicht. Was die Dinge so komplizierte, war der Umstand, dass sie nicht nur gemeinsam eine Doktorarbeit über Handelsrecht schrieben, sondern auch gemeinsam unterrichten mussten. Deshalb verbrachten sie zehn quälende Wochenstunden im Hörsaal vor Studenten des ersten Jahres.
»Der Auftritt ist wichtig«, verkündete Wilson vor der Klasse. »Ein gelassener Auftritt. Passen Sie auf, denn ich zeige Ihnen jetzt, wie man nicht in Panik gerät, wenn ein Kollege sauer auf einen ist.« Wilson gab Jenny einen Klaps auf die Rückseite, um sie vom Podium wegzuschieben.
»Du Mistkerl«, flüsterte sie.
»Hör auf, du liebst das doch«, flüsterte er zurück.
Während Wilson sich das Mikrofon richtete, sagte er: »Beachten Sie, wie ruhig ich bin.« Seine Stimme kam jetzt aus den Lautsprechern. Einen Moment blickte er Jenny in die Augen und machte sie schmal, um noch einmal Salz in die Wunden zu streuen; dann wandte er sich an sein Publikum. »Aber Spaß beiseite, Leute«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Es gab einen schrecklichen Unfall mit einem Eislaster. Er brach durch meine Bürotür, und ich musste mich nach draußen schlecken.« Er rieb sich den Bauch und stieß einen leisen Rülpser aus, der durch den Hörsaal hallte. »Aber das tue ich gern für Sie.«
Die Studenten grinsten, nur Jenny und ihr Freund schienen für seinen Humor unempfänglich.
Wilson blickte auf die Notizen an der Tafel. Er kannte sich in dem Stoff aus.
»Handelsrecht«, sagte er. »Knien wir uns einfach mal rein. Wie stellen wir sicher, dass zwei Länder mit unterschiedlichen Gesetzen und Rechtssystemen einen Streit lösen können, wenn er sich ergibt? Eine spannende Frage …«
Karin Turnberry saß in der dritten Reihe. Sie hatte zwanzig Minuten lang geduldig auf Wilson gewartet. Ein Witzbold, dachte sie, wie interessant. Nachdem sie den vermutlichen Gen-EP-Kandidaten eindeutig identifiziert hatte, stieg sie zuversichtlich die Stufen hinunter zum Podium.
»Mr. Dowling, mein Name ist Karin Turnberry.« Sie deutete auf die Doppeltür zur Rechten. »Ich muss Sie für einen Moment sprechen.«
Wilson sah fragend zu Jenny hinüber, als wäre das ein übler Streich; dann blickte er die Fremde an, die vor ihm stand. Er hatte sie noch nie gesehen; andernfalls würde er sich erinnern. Sie war attraktiv und hatte eine kurvenreiche Figur, die in einem weißen Overall steckte, der – abgesehen von der Farbe – militärisch anmutete.
Wilson ging dicht an Jenny heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Eine Stripperin! Willst du mich auf den Arm nehmen?« Doch angesichts ihrer feindseligen Reaktion war ihm klar, dass sie nichts damit zu tun hatte.
Wilson drehte sich wieder zu der Fremden um in dem Bewusstsein, dass die Studenten jede seiner Bewegungen verfolgten. Die Frau streckte die Hand aus und hielt ihm eine Geschäftskarte hin. Darauf standen in geprägten Buchstaben zwei Worte: Enterprise Corporation.
»Bitte, Mr. Dowling«, sagte Karin. »Ich mache es ganz kurz.«
»Ich bin sofort wieder da«, sagte er verwirrt zu den Studenten.
Jenny schäumte. »Soll ich warten, Wilson?«
»Mach schon mal weiter«, flüsterte er.
Wilson folgte der kurvenreichen Brünetten auf den leeren Flur. Enterprise Corporation konnte nur eines bedeuten: Ärger.
»Wie war noch mal Ihr Name?«, fragte er, da er beim ersten Mal nicht richtig zugehört hatte, und auf der Karte stand kein Name.
»Ich heiße Karin Turnberry«, sagte sie in professionellem Tonfall. »Ich arbeite für Enterprise Corporation.«
Wilson hielt die Karte hoch. »Dezent … das gefällt mir.«
Karin musterte ihn von oben bis unten, umkreiste ihn einmal und zog dabei ein kleines schwarzes Gerät aus der Tasche. Es hatte eine optische Linse an der Vorderseite. »Erlauben Sie, dass ich mir Ihr linkes Auge mal ansehe?«, bat sie freundlich. »Es dauert nur einen Moment.«
Die Bitte war so ungewöhnlich, dass Wilson einen Schritt zurückwich. »Warum wollen Sie das?«
»Einfach nur ein genetischer Test. Dauert bloß eine Sekunde.«
Wilson brauchte keinen Doktortitel, um zu erkennen, dass sie log. Eine Frau wie sie wurde nicht einfach nur durch die Gegend geschickt.
»Mr. Dowling?«, sagte sie ungeduldig und unterbrach den Strom seiner Gedanken.
Er spähte auf den kleinen schwarzen Apparat. »Erklären Sie mir, warum.«
»Dazu ist jetzt keine Zeit.«
»Sie haben vielleicht nicht die Zeit. Aber glauben Sie mir, ich habe jede Menge Zeit. Und ich bin es, der mitten aus einer Vorlesung geholt wurde.« Er zeigte auf die Tür. »Also, tun Sie mir den Gefallen …«
Karin zog pflichtbewusst ein digitales Dokument aus ihrer Mappe und reichte es ihm. Es war von der Universität Sydney und an ihn adressiert. Es hatte nur drei Zeilen und regte eindringlich an, auf Miss Turnberrys Wunsch einzugehen. Er konnte zwischen den Zeilen lesen: Sein Stipendium würde zurückgezogen, wenn er nicht kooperierte. Die Situation erschien nicht mehr ganz so zufällig.
»Ich brauche nur ein paar Minuten Ihrer Zeit«, versicherte Karin mit entwaffnendem Lächeln und deutete auf eine Bank an der Wand. »Ich versichere Ihnen, es geht ganz schnell und ist völlig schmerzlos.« Da Wilson keine Wahl hatte, setzte er sich. Karin stellte sich zwischen seine Beine, um behutsam mit dem Zeigefinger sein Kinn anzuheben. »Schauen Sie geradeaus.«
Ein roter Lichtstrahl drang in sein linkes Auge, doch er war kurz abgelenkt durch Karins Parfüm und die Nähe ihres Körpers. Plötzlich war das Licht erloschen, und Karin trat zurück, den Blick fest auf ihr Display gerichtet. Ihrem Gesicht war nichts anzusehen, weder Gutes noch Schlechtes.
In dem Moment klingelte ihr Telefon. Karin zog den hauchdünnen Empfänger von ihrem Gürtel und blickte auf die Anzeige. Es war Barton, der wahrscheinlich wissen wollte, wie die Sache lief. Karin schaltete den Anruf weg, sah auf und begegnete Wilsons Blick.
»Was halten Sie davon, mit mir zu unserer Zentrale zu reisen?«, fragte sie. »Reisen Sie gern?«
Wilson überlegte, was diese Frau in seinem Auge gesucht haben könnte. Es war ihm völlig unbegreiflich. »Was für ein Gerät ist das?«, fragte er.
Karin steckte den geheimnisvollen Computer wieder in die Handtasche. »Enterprise Corporation braucht Sie, Mr. Dowling.«
»Tatsächlich? Aber ich brauche Enterprise Corporation nicht.«
»Es wird sich für Sie lohnen.«
Wilson kicherte. »Das ist lächerlich.«
Ihr Tonfall wurde nachdrücklicher. »Ich bedaure, Mr. Dowling, aber Sie haben keine Wahl.«
Wilson blickte sich mit gespielter Überraschung um. »Bitte, Karin«, rief er aus und schaute sie wieder an. »Nennen Sie mich einfach Wilson. Jedes Mal, wenn Sie Mr. Dowling sagen, habe ich das Gefühl, mein Großvater steht hinter mir.«
»Meine Anweisung lautet, Sie zur Zentrale zu bringen«, sagte sie entschlossen.
»War nett, Sie kennen zu lernen«, war seine abweisende Antwort. »Schönen Tag noch.« Wilson ging auf die Tür des Hörsaals zu, doch Karin trat ihm in den Weg.
»Ich habe eine Klasse zu unterrichten«, sagte Wilson.
»Sie kommen mit mir.«
»Fehlanzeige.« Er ging an ihr vorbei.
Karin griff nach seinem Arm. »Stellen Sie sich vor, Sie brauchen nie wieder zu arbeiten.«
Bei Wilson schrillten die Alarmglocken. Enterprise Corporation musste von seinem Geheimnis erfahren haben!
»Kommen Sie mit mir zum Hauptsitz in Amerika. Am Flughafen wartet ein Privatshuttle. Ich muss Sie mit Barton Ingerson bekannt machen. Er ist ein bedeutender Mann.« Sie schenkte Wilson ein Lächeln, das mehr als ein bisschen verführerisch war. »Wir haben den besten Wodka an Bord. Ich versichere Ihnen, es lohnt sich. Und ich mixe einen phantastischen Wodka-Martini.«
Sie weiß, dass ich Wodka trinke, dachte Wilson.
»Enterprise Corporation kann sehr großzügig sein«, meinte sie. »Oder ganz das Gegenteil, falls nötig.«
Ihm schien, als würden seine schlimmsten Ängste wahr: Es drehte sich eindeutig um Professor Authors Omega-Programmierung. Ihm brach der kalte Schweiß aus.
»Sind Sie einverstanden?«
»Ich komme liebend gern mit«, sagte Wilson mit gekünsteltem Lächeln.
Karin wirkte erfreut. »Gut. Sehr schön.«
»Ich bin noch nie in einem Privatshuttle gewesen.«
»Es wird Ihnen gefallen. Die Reise dauert nur vier Stunden.« Ihrem Tonfall nach waren sie jetzt die besten Freunde. »Die Sterne sind wirklich sehenswert.« Airbusshuttles waren die neuste Form des Überschalltransports. Sie beschleunigten knapp außerhalb der Ionosphäre ins All, um den Flug zu verkürzen. Die bei weitem schnellste Art, um von A nach B zu gelangen, von einer Seite der Welt zur anderen. Man konnte also auch bei Flügen am Tag die Sterne funkeln sehen.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Wilson, der seine wahren Gefühle verbarg. Ich werde ihn umbringen, wenn ich ihn in die Finger kriege, dachte er. Er hat mich da reingezogen.
»Es wird Spaß machen, und wir werden Martinis trinken.« Karins Smalltalk war noch ärgerlicher als ihre Verhandlungsmethoden. »Wir treffen uns in einer Stunde am Hauptausgang«, sagte sie. »Da wartet ein Wagen auf uns.« Karin schaute auf ihren Handheld. »Ich weiß, dass Sie gern zu spät kommen, Wilson. Also ist es besser, Sie sind in einer Dreiviertelstunde dort.«
Es schien, als wüsste sie alles über ihn.
Wilson überlegte einen Moment. »Können Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte er dann und zeigte auf die Hörsaaltür. »Es würde mir eine Menge bedeuten.«
Karin zögerte, ehe sie antwortete: »Das wird sicher möglich sein.«
»Es ist nur eine kleine Bitte. Gehen Sie rein und sagen Sie der Dozentin, Miss Jones, dass ich heute nicht mehr zurückkomme. Sagen Sie ihr, dass ich mit Ihnen wegfahre. Sie wird froh sein, wenn Sie erfährt, was los ist. Erzählen Sie ihr von dem Shuttle.« Karin warf ihre schulterlangen Haare mit einer Bewegung zurück, die bei Wilson die Stripperin-Assoziation hervorgerufen hatte.
»Werde ich tun«, sagte sie selbstbewusst.
Wenn Wilson sich Jennys Reaktion auf diese Neuigkeit vorstellte – und auf die Frau, die sie ihr überbrachte –, kam er zu dem Schluss, dass es auch am finstersten Himmel einen Lichtblick gab.