38.

Gizeh-Plateau, Ägypten
Unter der Chephren-Pyramide
21. Dezember 2012
Ortszeit: 0.51 Uhr
Unternehmen Jesaja – siebenundzwanzigster Tag

Das unterirdische Beben wurde heftiger. Spalte klafften in der Decke. In einem fort rieselte Staub herab. Die Öllampen fielen eine nach der anderen von den Wänden und wurden vom Abgrund verschluckt, wo ein leises Geräusch von ihrer Zerstörung zeugte.

Die ganze Welt schien aus den Fugen zu geraten.

Helena beugte sich über den blutüberströmten Wilson. Die Kugel steckte in der linken Brust und hatte sein Fleisch zerfetzt. Sie suchte nach dem Puls, konnte aber keinen ertasten. Gleichzeitig versuchte sie, ihn gegen den herabfallenden Sandstaub abzuschirmen. Eine der vier Brücken, die hinterste, scherte plötzlich aus der Verankerung. Sie knirschte, als die Schwerkraft ihre Masse in die Tiefe zog. Gleichzeitig schlossen sich polternd die vier Türen zum Labyrinth.

Helena zog den erschlafften Wilson näher an sich heran. Sie konnten nirgendwohin. Es gab keinen Fluchtweg. Alles bebte und schwankte unausgesetzt. Mit ohrenbetäubendem Krachen brachen die Brücken rechts und links in die Schlucht. Helena war so verängstigt, dass sie sich ermahnen musste, weiterzuatmen. Die Brücke, auf der sie saß, würde zweifellos als nächste abstürzen.

Plötzlich senkte sich Stille herab.

Selbst der Staubschleier in der Höhle schien auf der Stelle zu schweben. Das Beben war vorbei.

Helena hielt Wilson umschlungen und suchte nach einem Lebenszeichen. Sie war monatelang hinter ihm hergejagt, und jetzt lag er leblos in ihren Armen. Eigentlich kannte sie ihn kaum, und doch bestand eine unleugbare Verbindung zwischen ihnen, die jetzt für immer abreißen sollte.

Verzweifelt sah sie sich nach irgendetwas um, das ihr helfen könnte. Nichts befand sich in der düsteren Höhle als die Brücke, auf der sie mit Wilson saß, und die paar Öllampen, die sich noch an den Wänden gehalten hatten. In gewisser Weise glich ihr Entschluss, Wilson zu finden, dieser Brücke, dachte Helena. Sie hatte sich damit gegen sämtliche Schwierigkeiten behauptet, während alles andere in die Brüche gegangen war.

Sie betrachtete Wilsons Gesicht. »Du hast die richtige Tür gewählt, Wilson«, sagte sie tröstend. »Den richtigen Weg.«

Helena fuhr ungläubig zurück, als Wilson langsam die Augen öffnete.

Er atmete und sah sie mit unglücklichem Begreifen an. Wie war das möglich? Sein Hemd war blutdurchtränkt, die Brust aufgerissen.

»Aktiviere Nachtigall«, sagte Wilson und zuckte vor Schmerzen zusammen.

Augenblicklich entspannte sich sein Gesicht. Mit tranceähn-licher Benommenheit setzte er sich auf, riss sein Hemd auf und schob die Finger in die Wunde, wie um zwischen den Rippen etwas hervorzuziehen.

Helena krümmte sich bei dem Anblick, zumal das Blut unablässig aus der Wunde quoll. »Was aktivieren? Wie kann es sein, dass du noch lebst?« Sie wich zurück wie vor einem Geist.

Im flackernden Schein der Lampen suchte Wilson in der Wunde. Endlich zog er die Finger heraus, ohne Anzeichen von Schmerzen. Er wischte seinen Fund ab und hielt ihn hoch, dass sie beide ihn sehen konnten.

Es war eine große Silbermünze.

Helena beugte sich heran und versuchte zu begreifen, was passiert war.

Wilson drückte die Hautfetzen sorgfältig wieder an ihren Platz. Nach dieser kurzen Inspektion meinte er, dass seine Rippen gebrochen waren. Als er das blutige Geldstück noch einmal betrachtete, sah er die Delle, wo die Kugel es getroffen hatte.

»Was geht hier vor?«, flüsterte Helena. »Wie können Sie … wie?«

Wilson hielt die Münze zwischen den Fingerspitzen. Ein Ägyptisches Pfund – genau das, das sein Großvater ihm geschenkt hatte, seine Schicksalsmünze. Das Rätsel ihrer Beschädigung, über das Wilson sich oft den Kopf zerbrochen hatte, war gelöst.

»Sie sollten gar nicht mehr am Leben sein!«, sagte Helena.

»Die Kugel hat Farouks Geldstück getroffen«, erklärte Wilson. »Sie steckte in meiner Brusttasche.« Er war zwar benommen durch den Heilungsprozess, konnte sich aber gut an das Gesicht des kleinen Ägypters erinnern.

Helena sperrte ungläubig den Mund auf.

»Eine Münze in Ihrer Brusttasche getroffen?« Sie war wie vor den Kopf geschlagen. »Fühlen Sie irgendetwas?« Plötzlich verstand sie, was sie bei einer Vision gesehen hatte. Wilson besaß ein Mittel, mit Schmerzen fertig zu werden. Dadurch hatte er aus dem Krankenhaus fliehen können. Sie saß mit überkreuzten Beinen auf der Brücke und traute sich nicht, sich zu rühren, aus Angst, dadurch aus einem Traum zu erwachen.

Vorsichtig zog Wilson sich das Hemd aus und wischte sich damit das Blut ab. Er sah an sich hinab. Die Wunde blutete kaum noch.

»Fühlen Sie irgendetwas?«, fragte Helena noch einmal.

Wilson riss einen Stoffstreifen ab und wickelte die Münze darin ein. Das Ägyptische Pfund hatte ihn sein ganzes Leben begleitet, und hier war es – mitsamt der Delle von einer Kugel, die ihn das Leben gekostet hätte. Darüber nachzudenken war frustrierend kompliziert. Er steckte die Münze in die Hosentasche.

»Ich muss mich hinlegen«, flüsterte Wilson erschöpft. »Nur für eine Weile.« Er war bleich wie Elfenbein und glaubte, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

Helena nahm seine Hand und stützte ihn. Bis zu diesem Moment hatte sie vor lauter Bestürzung nicht klar denken können. Halb trug sie ihn zum Ende der Brücke, wo keine Gesteinssplitter lagen, und legte ihn an die Wand der Pyramide, setzte sich neben ihn und bettete seinen Kopf in ihren Schoß.

»Ich bin bei Ihnen«, sagte sie beruhigend. »Ich kann es nicht glauben. Ich bin so froh, dass Sie noch am Leben sind.« Sie war überwältigt von Dankbarkeit, dass ihr diese zweite Chance geschenkt wurde.

Wilson lächelte und hauchte kaum hörbar: »Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen«, und versank in Bewusstlosigkeit.

Fünf Stunden später erwachte Wilson aus seinem selbst verursachten Koma. Er lag noch genauso da, Helena saß mit geschlossenen Augen über ihn gebeugt. Ihr Atem strich über seine Stirn, und er genoss einen Moment lang die Nähe ihres warmen Körpers.

Sie schreckte hoch, als er seinen Omega-Befehl widerrief.

»Sie sind wach«, sagte sie schläfrig. Ihr Blick fiel auf ihre Armbanduhr. »Wir sind schon seit Stunden hier. Ich wollte Sie schlafen lassen.«

In Anbetracht der Umstände fühlte Wilson sich erstaunlich gut. Langsam hob er den Kopf und sah sich um. Der Staub aus der Luft hatte sich gesetzt, und es war düsterer geworden, weil die meisten Lampen erloschen oder in den Abgrund gestürzt waren.

Helena betastete Wilsons Brust. »Ihre Wunde?« Die Haut war zugewachsen; nur noch ein roter Rand war zu sehen. »Sie werden es nicht glauben …«

»Ich habe einen Heilungsbefehl benutzt«, sagte er.

Helena versuchte, nicht allzu überrascht auszusehen. »Kann das in Ihrer Zukunft jeder?«

Er setzte sich auf. »Nein.«

»So haben Sie auch den Autounfall überlebt, nicht wahr?«

Wilson nickte. »Das ist ein zerebraler Befehl. Die natürlichen Heilprozesse werden dadurch beschleunigt.«

»Und so können Sie auch bei Dunkelheit besser sehen? Durch einen ähnlichen Befehl?«

»Ja.«

Wilson schaute durch die Höhle, sah, dass die anderen drei Brücken verschwunden waren und auf ihnen eine dicke Schicht Gesteinssplitter lag. Die vier Eingänge zum Labyrinth fehlten ebenfalls; sie waren durch große Steinblöcke verschlossen. Die Höhlendecke gab es nicht mehr, wie in der Prophezeiung angekündigt.

»Das war ein Erdbeben«, sagte Helena. »Gleich nach dem ersten Schuss ging es los.«

»Und Visblat?«

Sie zeigte zur anderen Seite. »Er ist zurück ins Labyrinth gelaufen. Ich weiß nicht, ob er es nach draußen geschafft hat.«

Wilson befühlte seine Rippen und fand die kantige Vertiefung, wo die Münze hineingepresst worden war. »Ich kann nicht glauben, dass Visblat auf mich geschossen hat.«

»Er ist besessen«, meinte Helena. »Man sieht es ihm an den Augen an.«

»Visblat brauchte mich für irgendetwas. Das weiß ich. Sonst hätte er nicht so viel Ärger auf sich genommen, um mich zu schnappen. Ich verstehe das nicht.«

»Er wollte mich erschießen«, erklärte Helena und fuhr sich frustriert durch die Haare. »Ich konnte einfach nicht abdrücken.« Visblats furchterregender Blick trat ihr wieder vor Augen, und ihr brach der kalte Schweiß aus. »Ich weiß nicht, wie das passiert ist.« Ihr Atem ging flacher, als sie das Gesicht ihrer Mutter vor sich sah. »Ich war wie gelähmt«, murmelte sie.

Wilson hockte sich auf die Knie. »Sie können nichts dafür. Seine Augen wurden modifiziert. Sie hätten ihn nicht erschießen können, selbst wenn Sie gewollt hätten.«

»Er ist nur ein Mensch!«, erwiderte Helena zornig. »Ich hätte Sie doch beschützen können müssen.« Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt. »Ich wusste, dass er schießen würde, aber ich konnte nichts tun!« Sie spürte noch den Abzug am Finger, die Kälte des Stahls. Das war genau die Situation, die sie nie wieder hatte zulassen wollen.

Wilson tat sein Bestes, um die Sache mit Visblats optischen Trakenoiden zu erklären und was beim Militär getan worden war, um das Verfahren zu verfeinern. »Sie hätten gar nichts tun können«, versicherte er noch einmal, doch sie ließ sich nicht beruhigen.

»Das spielt alles keine Rolle. Ich hätte es nicht geschehen lassen dürfen.« Ihr Ton wurde plötzlich vorwurfsvoll. »Visblat aus der Zukunft, und Sie behaupten, Sie hätten ihn noch nie gesehen! Er schien Sie zu kennen! Wie viele Zeitreisende sind eigentlich hier?«

»Offenbar einige«, antwortete Wilson sarkastisch. »Und ich bin übrigens ziemlich sicher, dass ich mich an diesen Burschen erinnern würde … Schließlich ist er nicht gerade eine Schönheit.«

Wilsons Blick fiel auf die Grundmauer der Pyramide hinter ihnen. »Haben Sie das gesehen?«, fragte er. Eine glatte schwarze Scheibe aus einer Art Keramik war in Brusthöhe freigelegt worden. Während der folgenden Minuten untersuchte er minutiös die umliegenden Steinquader, um nichts zu übersehen.

Helena nährte derweil ihren Zorn. »Wie hieß denn das Codewort«, fragte sie, »das Barton Ihnen genannt hat?«

»Das habe ich erfunden.«

Sie sah ihn verwirrt an. »Erfunden?«

»Ja.«

»Es gibt gar kein Codewort?«

»Richtig.«

»Woher wussten Sie dann, dass Visblat log?«

»Ich kann Ihnen eines garantieren: Barton hat ihn bestimmt nicht hergeschickt. Wenn er das getan hätte, hätte Visblat gewusst, dass der Zufall ein Wegweiser des Schicksals ist. Diese dumme Bemerkung habe ich zwei Wochen lang zehnmal am Tag zu hören bekommen. Wie auch immer … Visblat behauptete, Bartons Leben würde davon abhängen, dass das zweite Portal offen bleibt. Das leuchtete mir nicht ein … auch jetzt noch nicht.«

Wie Helena ihn dort stehen sah, verspürte sie plötzlich das Verlangen, sich zu kneifen. Er war am Leben, direkt vor ihr, mit offenem Hemd und so großspurig, als wäre nichts geschehen. Seine Hose war an der linken Seite blutverkrustet, aber sonst sah er gut aus. Das war bemerkenswert.

»Mal sehen, was passiert, hm?« Furchtlos stieß Wilson gegen die schwarze Keramikscheibe. Ein lautes Knirschen war zu hören, als würden Felsen aufeinandermahlen.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Helena aufgeregt und blickte nach rechts und links. »Immer wenn Sie etwas anfassen, gibt es ein Erdbeben!« Sie sah zu den zackigen Rändern der Höhlendecke und wartete, dass etwas Schreckliches passierte.

Doch es rieselte nur harmlos aussehender weißer Sand aus zwei schrägen, zwei Meter langen Spalten im Mauerwerk. Innerhalb weniger Augenblicke bekam der Steinblock dazwischen Risse und zerbröckelte, bis ein dreieckiger Durchgang freigelegt war, aus dem ein kalter Luftzug wehte.

»Sie machen sich zu viele Sorgen«, meinte Wilson.

»Versprechen Sie mir nur, dass Sie nichts mehr anfassen, bitte.« Leise zischend entzündete sich eine weitere Reihe von Lampen und beleuchtete eine steile, schmale Treppe, die aufwärts in die Pyramide führte.

»Dann sollte ich Ihnen wahrscheinlich nicht von der Portalkammer erzählen«, sagte er. Ohne auf eine Reaktion zu warten, nahm er Helena an der Hand und zog sie den V-förmigen Treppenaufgang hinauf. Sie gingen mindestens hundert Stufen; dann bog der Gang nach links ab, wo ihnen ein grell weißes Licht entgegenschien.

Als sie bei dem dreieckigen Ausgang ankamen, spähte Wilson um die Mauerkante. Die Kammer besaß die Form einer Pyramide mit einer Basis von zehn Quadratmetern. Drinnen herrschte ein phosphoreszierendes, beinahe überwältigendes Licht. An jeder der vier Wände stand eine einzelne Hieroglyphe. Wilson kannte sie gut. »Norden, Süden, Osten, Westen«, sagte er. In der Mitte stand ein hohes Steinpodest in zylindrischer Form, darauf leuchtete eine Kristallpyramide.

»Die Aufgabe«, sagte Wilson, »besteht darin, die kleine Pyramide in eines dieser Löcher zu stecken.« Er zeigte auf die vielen rechteckigen Vertiefungen in der Steinsäule. Es waren über achtzig, sodass sie einem Schachbrett glich.

»Woher wollen Sie wissen, welches Sie nehmen müssen?«, fragte Helena.

Wilson stieg auf das Podest und machte sich bereit, die faustgroße Pyramide aus der Halterung zu nehmen. »Erlöse die Morgensonne«, zitierte er, was bedeutete, dass er wohl eines der zwanzig Löcher an der Ostseite nehmen musste. Wenn er die Kristallpyramide dort platzierte, würde das die Schumann-Frequenz senken und das Magnetfeld der Erde reduzieren. Wenn er sie im Westen platzierte, hätte es den gegenteiligen Effekt.

»Es gibt zu viele Möglichkeiten«, warnte Helena.

In gespannter Konzentration rieb Wilson Daumen und Zeigefinger aneinander und hob die glänzende Figur von ihrem Sockel. Sofort wurde die Kammer in ein rotes Licht getaucht.

»Es wird doch diesmal keinen Sturm geben? Mit Gewitter und dergleichen?«, fragte Helena ängstlich.

»Überhaupt nicht«, antwortete Wilson. Die Kristallfigur vibrierte in seiner Hand. Das Gefühl erinnerte ihn an die Kupferrolle, nur dass sie einen höheren Ton von sich gab.

»Können Sie das hören?«, fragte er. Dabei drehte er sie hin und her, und die Frequenz änderte sich jeweils. So schwenkte er sie über die Öffnungen an der Ostseite der Säule und hatte kurz darauf die Stelle ermittelt, wo das Kristall in der Tonhöhe der Kupferrolle sang. Seiner Schätzung nach 6,53 Hertz.

Instinktiv steckte er die Figur in die entsprechende Vertiefung.

Die roten Wände wurden pechschwarz, und ein unheimlicher weißer Lichtstrahl schoss aus dem Kristall zum Scheitelpunkt des Raumes. Geblendet taumelte Wilson rücklings vom Podest und landete vor Helenas Füßen. Die kurze Säule begann sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen, immer schneller und schneller; der Lichtstrahl schwenkte umher wie ein Suchscheinwerfer. Während sie an Geschwindigkeit zunahm, wurde das Pfeifen, das sie erzeugte, stetig lauter.

Plötzlich ging alles in Zeitlupe über.

Wilson, der das Geschehen von Chichén Itzá noch frisch im Gedächtnis hatte, packte Helenas Arm und stieß sie zum nördlichen Ausgang, doch sobald sie sich näherten, verschwand er vor ihren Augen.

»Da!«, Helena zeigte mit ausgestrecktem Arm.

An der Ostwand war ein neuer Ausgang entstanden. Beim zuckenden Licht des wirbelnden Minischeinwerfers rannte das Paar, von der Verlangsamung der Zeit verwirrt, in den schwarzen Gang, der sich aufgetan hatte. Kaum hatten sie ihn betreten, sauste hinter ihnen ein Granitblock herab.

Die Portalkammer war verschlossen.

Alles war still.

Der Boden neigte sich leicht zur Seite.

In der Ferne war ein schwacher goldener Lichtbogen zu sehen. Wilson strengte die Augen an, um zu erkennen, was das war. Dann sauste ein weiterer Steinblock hinter ihnen herab und verfehlte Wilson nur um Zentimeter.

Der Gang würde nach und nach einstürzen!

Das Paar rannte los. Die Zeit verrann so langsam, dass sie das Gefühl hatten, sich gar nicht zu bewegen. Mit jedem Schritt wurde es heller im Gang, und beim Laufen rieselte ihnen Sand ins Gesicht, der auch in Mund und Nase eindrang und aus feinen Rissen von der Decke fiel, wie sie sehen konnten.

»Schneller!«, rief Wilson.

»Das ist die aufgehende Sonne!« Helena zeigte auf den goldenen Schein am Ende des Ganges. Ihre Stimme war zu einem tiefen Dröhnen verzerrt.

Der Gang führte sie nach Osten aus der Pyramide hinaus.

Er schloss sich systematisch, als ein Steinquader nach dem anderen immer schneller herunterkrachte.

Wumm … wumm … wumm … wumm …

»Schneller, Helena! Schneller!«, brüllte Wilson und trieb sie vor sich her.

Eine Böe fauchte an ihnen vorbei, als sie mit einem Satz ins Freie sprangen und auf einem schmalen Sims landeten, während sich hinter ihnen der letzte Abschnitt des Gangs mit knirschendem Poltern schloss. Sie fanden sich an der Ostwand der Chephren-Pyramide wieder, auf dreiviertel Höhe, dicht unterhalb der Kalksteinverkleidung.

Die Zeit kehrte zu ihrer gewohnten Geschwindigkeit zurück.

Am Horizont stieg die Sonne in den klaren ägyptischen Himmel. Kein Lüftchen regte sich. Das geschäftige Kairo erstreckte sich vor ihnen. Zu beiden Seiten des Nils hob sich grünes Ackerland gegen die Monotonie der Wüste ab.

»Haben Sie gespürt, wie alles in Zeitlupe überging?«, fragte Helena. »Es war genau wie in Chichén Itzá.«

»Ja«, sagte Wilson. Er hatte sich bei der harten Landung die Ellbogen blutig geschrammt. Nun sah er zum Himmel auf, wo sich wie aus dem Nichts ein paar dunkle Wolken bildeten. »Ich glaube, wir müssen hier weg.«

Die Temperatur sank schlagartig, und die Luft wurde feucht. Es donnerte.

»Sie haben gesagt, es gibt diesmal kein Gewitter«, rief Helena.

Wilson blickte die Pyramidentreppen hinunter. »Das war gelogen. Und jetzt los!«

Nur zwanzig Sekunden später ging heftiger, sturmgepeitschter Regen über die Landschaft nieder und tauchte die Welt in dunstiges Grau. Die Luft war mit Feuchtigkeit gesättigt. Wilson und Helena kletterten Stufe für Stufe die Pyramide hinunter. Sturzbäche ergossen sich über die Steinblöcke und trieben die beiden zu größerer Hast.

»So hat es in Gizeh seit zehn Jahrhunderten nicht mehr geschüttet!«, rief Wilson. »Sonst regnet es hier höchstens drei Zentimeter im Jahr!« Die bekam das Plateau jetzt innerhalb von fünf Sekunden ab.

Es donnerte ununterbrochen.

Der Wind fegte in heftigen Böen über die Pyramidenwand.

Die Sturmwolken knisterten wie eine überlastete Batterie.

Der Himmel wurde immer dunkler.

Ein greller Blitz – Millionen Volt – schlug mit ohrenbetäubendem Knall in das Bauwerk ein. Das Regenwasser gab den Großteil der Ladung weiter.

Wilson und Helena wurden kopfüber in die Luft geschleudert und landeten im nassen Sand.