14.

Houston, Texas
Hauptbahnhof
26. November 2012
Ortszeit: 14.59 Uhr
Unternehmen Jesaja – zweiter Tag

In Gedanken vertieft war Wilson sich der Umgebung kaum bewusst, als er die breite Treppe zum Seiteneingang hinaufstieg. Er fror und war müde. Er trug Kleidung, die nicht passte und zudem lächerlich bunt war. Und er war definitiv keine »Love Machine«. Er kam sich albern vor, sehr albern. Das war nicht das glanzvolle Unternehmen, das er sich vorgestellt hatte. Wie sein Großvater immer zu sagen pflegte: Wenn man vorher zu viel darüber nachdenkt, sind die Dinge selten so, wie man sie sich vorgestellt hat.

Ein klarer blauer Himmel umrahmte die Mauern des Bahnhofsgebäudes. Aus einiger Entfernung wirkte er wie ein Ort der Ruhe, stattlich, üppig, überlebensgroß. Doch die hohen Mauern nahmen eine Gemeinschaft menschlicher Verzweiflung in sich auf, die unmöglich zu beschreiben und für den unvorsichtigen Reisenden gefährlich war.

In Wilsons Kopf jagte ein Gedanke den anderen. Warum hatte die Polizei nach ihm gesucht? Warum kamen sie mit solch einem Aufgebot? Und die Reaktion des Dobermannweibchens war verblüffend. George Washington war ein erstaunlicher Typ. Eine ungewöhnliche Entdeckung in dieser verrückten Welt. Ehrlich auf hinterlistige Art – eine seltsame Mischung.

Der unverwechselbare Gestank menschlicher Exkremente stieg Wilson in die Nase, als er sich dem Treppenabsatz näherte.

Er blickte genauer hin.

Die Treppe endete zwischen drei düsteren Granitmauern, doch es war der Anblick der Leute dort, bei dem Wilson der Atem stockte. Hunderte lagerten zusammengekauert in einer Pappkartonsiedlung. Manche hielten sich mit Zeitungen warm, andere lagen unter schmutzigen Decken. Überall türmten sich Berge von Abfällen, zwischen denen schmale Pfade hindurchführten. Dazwischen standen alte Einkaufswagen, manche bis zum Rand gefüllt mit rätselhaften Dingen.

Ein kalter Wind pfiff über die Mauerkanten. Wilson betrachtete das Meer schmutziger, ungekämmter Köpfe, die seine Ankunft verfolgten. Ja, sie musterten ihn eingehend. Die Zukunft, das wusste er, war ganz anders. Er war sprachlos. Da hausten Frauen und Kinder in den Pappbauten. Ihre Blicke waren leer, als wäre kein Leben mehr in ihnen. Es war das Deprimierendste, was Wilson je gesehen hatte. Was war das für eine Welt, wo so vielen Menschen so wenig gelassen wurde? Eine tiefe Traurigkeit machte sich in ihm breit. Dann wechselte seine Stimmung. Er erinnerte sich, welche Macht ihm zur Verfügung stand. Wenn er die Schumann-Resonanz korrigierte, würden sie in Zukunft diese Art Leben hoffentlich nicht mehr führen müssen.

Ein Tuten in der Nähe – wahrscheinlich ein Zug – riss Wilson aus diesen Gedanken. Nachdem er einen Augenblick stehen geblieben war, sah er sich nun von ein paar fürchterlich stinkenden Männern umringt, die sich ihm genähert hatten, als er in Gedanken versunken war. Sie zupften an seiner Kleidung.

Einer sagte mit krächzender Stimme: »Geld, Mister. Gib mir ’n paar Kröten.«

Ein anderer: »Gib mir Knete, gib mir Knete.«

Wieder ein anderer: »Ich brauch Zaster, Mann, nur ’n Dollar oder zwei.«

Sie griffen nach seinen Taschen, schubsten ihn, stießen ihn. Er tat sein Bestes, um das Wenige, was er hatte – drei Dollarscheine und eine Kreditkarte – zu behalten, doch die Übergriffe wurden zudringlicher. Vor allem wollte Wilson seine Sonnenbrille behalten. Langsam zog er sich zurück. Doch je mehr er den Männern auswich, desto enger umstellten sie ihn. Er kam sich vor wie eine Beute in einer Meute hungriger Wölfe. Unweigerlich wurde ihm die Brille von der Nase geschlagen. Es gelang ihm noch, sie aufzuheben, und er setzte sie hastig wieder auf.

Doch seine Augen waren gesehen worden.

Ein alter Mann mit verfilztem, grauem Bart stand jetzt unter dem Bann einer trakenoiden Reaktion.

Alles ging in Zeitlupe über, als in den Augen des Alten eine Wut von beängstigender Intensität aufleuchtete. Die Männer bedrängten ihn immer heftiger, während Wilson zurückzuweichen versuchte. Aus der Ferne waren Pfiffe zu hören. Wilson wusste nicht, was sie zu bedeuten hatten. In dem wirren Gedränge hatte er bereits die Orientierung verloren. Dann bekam er einen Schlag auf den Kopf, und noch einen. Als er sich nach dem Täter umsehen wollte, schlug ihm einer die Faust ins Gesicht. Der Alte mit dem grauen Bart drosch auf ihn ein.

Graubarts Pupillen waren zusammengeschrumpft, genau wie bei dem Wachmann am Morgen zuvor. Der nächste Schlag traf Wilson an der Seite des Kopfes. Er konnte sich nicht gleichzeitig wehren und seine Brille festhalten. Er überlegte rasch, zog seine drei Dollarscheine aus der Tasche und stopfte sie dem Schläger ins Hemd.

Wie aufs Stichwort verlegte sich das Gerangel auf den neuen Besitzer.

Wilson löste sich aus der Menge, doch Graubart drängte ihm hinterher, angetrieben von dem unbezwingbaren Impuls anzugreifen. Obwohl ihm die anderen Bettler ins Hemd griffen und daran rissen, dass die Knöpfe absprangen, war Graubart nur auf eines aus: Wilson um jeden Preis zu fassen zu bekommen.

Ein Dollarschein rutschte aus seinem Hemd und segelte zu Boden. Augenblicklich stürzten sich einige Männer darauf wie Footballspieler auf den Ball.

Das war Wilsons Chance. Er rannte so schnell er konnte, sprang über zwei am Boden kriechende Bettler und entkam Graubarts ausgestreckten Händen.

Die schrillen Pfiffe kamen derweil näher.

Wilson landete auf den Füßen und war frei. Über Pappkartons sprintete er auf die Bahnhofstür zu und stieß wenigstens drei Bettler um, die ihm in die Quere kamen. Mit einem verzweifelten Satz hechtete er in die Drehtür, verlor das Gleichgewicht und rutschte auf dem Bauch in die leere Halle.

Schwer atmend, das Gesicht auf dem glänzend glatten Boden, blieb er liegen. Durch die schmutzigen Scheiben der Drehtür sah er vier kräftige, gut gekleidete Sicherheitsleute mit langen schwarzen Schlagstöcken. Im Mund hatten sie silberglänzende Pfeifen, durch die sie fortwährend bliesen. Jeder Vagabund, der sich der Drehtür nähern wollte, wurde gnadenlos niedergeschlagen.

Wilson blickte sich nach Graubart um, doch der war nirgends zu sehen.

Unerwartet sprach jemand ihn an. »Geht es Ihnen nicht gut?«

In der spiegelnden Glasscheibe konnte Wilson zwei Polizisten in schwarzer Uniform hinter sich sehen, mit gezogener Waffe. Während er sein Schnaufen mühsam unterdrückte und die Sonnenbrille zurechtrückte, drehte er sich zu ihnen um. Dabei spähte er hinter seinen dunkel getönten Gläsern nach dem nächsten Ausgang.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte der Sergeant noch einmal.

Wilson rieb sich den Hinterkopf. »Die Kerle wollten mich ausrauben.«

»Der Haupteingang ist viel sicherer«, empfahl der Sergeant und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. »Besser, Sie gehen von jetzt an dort rein.« Wilson ahnte nicht, dass in der Brusttasche des Polizisten das Fahndungsbild eines Flüchtigen steckte, das ihm genau glich.

Draußen auf dem Vorplatz schien alles wieder seinen gewohnten Gang zu nehmen, und Graubart war aus dem Blickfeld verschwunden. Vor der Tür standen Sicherheitsleute. Die Angreifer hatten sich in ihre Pappbehausungen zurückgezogen, um drei Dollar reicher.

Wilson stand vorsichtig vom Boden auf, und ein Polizist half ihm auf die Beine.

»Denen gefiel Ihr Aufzug nicht besonders, Love Machine«, merkte er erheitert an.

Wilson schaute neugierig an sich hinunter. »Das ist ein Geschenk.«

»Die Typen können ein bisschen heikel sein, was Mode angeht«, meinte der Polizist.

Der Sergeant steckte seine Waffe weg; dann zeigte er auf Wilsons Mundwinkel. »Sie bluten da ein bisschen.«

Wilson wischte sich über die Stelle und hatte einen blutigen Streifen in der Handfläche, worauf er den Ärmel auf die Lippe drückte, um das Blut zu stoppen.

»Sie müssen demnächst durch den Haupteingang kommen«, sagte der Sergeant noch einmal.

Wilson versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Ja, klar, den werde ich bestimmt nicht wieder benutzen.« Schweiß auf der Stirn, schlich er auf die Schalterhalle zu. Sobald er um die Ecke gebogen war, atmete er wieder heftiger. Er war mit den Nerven am Ende.

Vor dem Fahrkartenschalter stand niemand, und er klopfte ungeduldig gegen die Scheibe, bis eine korpulente schwarze Frau von ihrem Schreibtisch aufstand und zu ihm gewatschelt kam. Er legte die Kreditkarte in die Schalterablage.

»Einfache Fahrt nach Mexico City«, verlangte er und blickte nervös zur Wanduhr.

»Mexico City?«, wiederholte sie mit tiefer Stimme und beäugte ihn dabei mit einem Blick, den er als Zweifel deutete. Er wischte sich Schweiß und Blut vom Kinn und erwiderte ihren Blick so kühl wie ein Nachrichtensprecher.

»Gibt es ein Problem?«, fragte er.

Sie wandte sich kurz ihren Fingernägeln zu. »Nein … nein, kein Problem.« Die Frau tippte etwas in den Computer ein, wobei sie sehr darauf achtete, nicht zu fest auf die Tasten zu drücken.

»Geben Sie mir ein Erster-Klasse-Ticket, wenn’s recht ist.« Es kam ihm passend vor, ein bisschen heitere Gelassenheit auszustrahlen, um seine jämmerliche Lage zu überspielen.

»Der nächste Zug geht um 15.50 Uhr«, sagte die Frau. »Sie steigen in San Antonio um.« Träge nahm sie die Kreditkarte aus dem Fach. »Haben Sie einen Reisepass?«

In diesem Moment plärrte eine Stimme über den Lautsprecher: »Meine Damen und Herren …«

Bei dem Klang zog Wilson den Kopf ein wie ein Kind, das eine Ohrfeige erwartet.

»Der Zug nach Dallas fährt von Bahnsteig 21. Letzter Aufruf.« Er hallte durch das Gebäude und verklang.

Die Frau beugte sich zur Scheibe vor. »Ich habe gefragt, ob Sie einen Reisepass haben.«

Wilson blickte sich ängstlich nach Graubart um, sah ihn aber nirgends. Zum Glück war auch keine Polizei in der Halle. Wilson straffte die Schultern und fasste sich, so gut es ging. »Ja, ich habe einen Reisepass«, antwortete er.

»Kann ich ihn bitte sehen?«

Er griff in seine Taschen. »Äh … meine Frau hat ihn wohl eingesteckt. Sie kommt jede Minute.«

»Möchten Sie auch ein Ticket für Ihre Frau?«

Wilson brachte ein blutbeschmiertes Lächeln zustande. »Nein, Judy, meine Frau kommt nicht mit.« Er hatte das Namensschild der Fahrkartenverkäuferin gelesen.

Die Frau war von der Namensgleichheit unbeeindruckt und steckte die Kreditkarte in ein Lesegerät. Klick-klick, dann schob sie einen Zettel und einen Kuli unter der Scheibe durch.

»Das macht 210 Dollar.«

Wilson unterschrieb und gab beides zurück. Die Frau verglich die Unterschriften mit kritischem Blick – sie sahen ziemlich ähnlich aus – und griff dann nach dem Telefon. »Ich muss das genehmigen lassen.«

»Ihre Nägel sind sehr schön«, sagte Wilson.

Das Kompliment veranlasste sie, sofort ihre Finger zu betrachten, als müsse sie noch mal ein eigenes Urteil fällen. Die Nägel waren hellrot, sehr lang und bildeten einen starken Kontrast zu ihrer dunklen Haut.

Sie blickte auf. »Wirklich?«

»Ja, sehr elegant.«

»Das sind Porzellannägel.«

In dem Moment fiel ihr ein, wo sie das Gesicht dieses großen weißen Kerls schon mal gesehen hatte: im Fernsehen! Er wurde wegen Mordes gesucht oder so ähnlich. Ihre Finger umklammerten die Kreditkarte. Sie legte das Telefon zurück auf die Station und schob Kreditkarte und Ticket unter der Scheibe durch. Mit leicht schwankender Stimme sagte sie: »Bahnsteig achtunddreißig liegt in dieser Richtung.« Sie zeigte lächelnd ihre Zähne und wies nach links. Ihre Hand zitterte sichtlich.

»Vielen Dank«, sagte Wilson verhalten. »Sie sind sehr freundlich.« Er spürte ihre plötzliche Anspannung, und das Zittern war ein verräterisches Zeichen.

Nachdem die Frau gewartet hatte, bis ihr Kunde um die Ecke gebogen war, griff sie zum Telefon. »Geben Sie mir die Polizei«, sagte sie leise. »Es ist dringend.«

Wilson spähte durch die Bahnhofshalle. Mehrere gut gekleidete Leute liefen umher, und alles wirkte ruhig. Trotzdem fühlte er sich wie eine Katze in der Hundehütte. Irgendetwas stimmte nicht. Judy war plötzlich nervös geworden. Aber warum? Wieder wischte er sich Blut vom Mund. Vielleicht lag es an der Platzwunde.

Durch die hohen Fenster schien eine kräftige Nachmittagssonne in die Halle und erfüllte das Gebäude mit warmem Licht. Wilson versank in Erinnerungen. So vieles war in den vergangenen zwei Wochen geschehen …

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent

Enterprise Corporation, Mercury Building, 3. Etage

10. Mai 2081

Ortszeit: 19.45 Uhr

13 Tage vor dem Transporttest

Die untergehende Sonne warf scharfe Rechtecke auf die Wand des Besprechungsraums, und der Duft von frischen Blumen hing in der Luft. In der Mitte stand ein glänzender Eichentisch mit zwanzig hochlehnigen Chefsesseln. Eine prachtvolle Sammlung weltbekannter Rembrandts, Van Goghs, Picassos und Renoirs hing an den langen weißen Wänden.

Diese Leute haben viel zu viel Geld, dachte Wilson. Er hatte gut zwanzig Minuten gewartet, und so genussvoll der Blick auf die Gemälde auch war, so wenig hatten sie seine Besorgnis zerstreuen können. Dieser Raum war so gestaltet, dass Besucher sich eingeschüchtert fühlen sollten, und das funktionierte.

Wilson drehte eine neue Runde und versuchte zu erahnen, welcher absonderliche Vorfall als Nächstes käme. Vor jedem Sessel lag eine platingraue Schreibunterlage. In die Oberfläche war eine Weltkarte samt Längen- und Breitengraden eingraviert. Darüber stand der Name der Firma, als gehörte ihr der ganze Globus. »Enterprise Corporation«, las Wilson. Meine Güte, was waren die arrogant!

In diesem Augenblick schwangen die Türflügel auf, und ein Mann im weißen Kittel kam herein. Er streckte Wilson die Hand hin. »Sie sind also der Mann, von dem Karin mir so viel erzählt hat«, sagte Barton.

Wilson antwortete nicht.

»Meine Name ist Barton Ingerson. Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Mr. Dowling. Hatten Sie eine angenehme Reise?«

Wilson musterte den Mann, der vor ihm stand. Er hatte silbergraue, glänzende, füllige Haare, ein regelmäßiges, sonnengebräuntes Gesicht, klare Augen – hellbraun wie ein Fuchspelz – und ein entwaffnendes Lächeln. Er war schlank und gut proportioniert und trug eine weiße, dreiviertellange Jacke mit perfektem Sitz. Wilsons erster Eindruck von Barton war, dass er ein guter Kerl sein mochte; auf der anderen Seite konnte man in diesem Unternehmen nicht Karriere machen, wenn man kein harter Knochen war. Großen Firmen darf man nicht trauen, hatte Professor Author immer wieder gesagt.

Wilson las, was auf Bartons Jackenschildchen stand: Mercury-Team. Wie passend, den Namen des römischen Gottes zu wählen, war er doch für Eloquenz, Gewandtheit und Diebereien bekannt.

»Mr. Wilson?«, sagte Barton. »Hatten Sie eine angenehme Reise?«

»Ja … ich meine, nein«, antwortete Wilson und wich einen Schritt zurück, als hätte die Welt einen heftigen Schlenker vollführt. »Heute Morgen war ich noch in Sydney und habe mich prächtig amüsiert. Sydney ist in Pacifica, falls Sie es nicht wissen. Und jetzt wurde ich um den halben Globus verfrachtet, und ausgerechnet zu Enterprise Corporation!« Wilson zeigte mit dem Finger auf den Boden. »Und um die Sache noch schlimmer zu machen, die Frau, die Sie geschickt haben, damit sie mich herbringt, wollte mir nicht einmal sagen, warum. Sie hat mir gedroht, mir mein Stipendium wegzunehmen!« Wilson tippte sich an die Schläfe. »Was würden Sie denken, wenn Ihnen das passiert?«

»Karin durfte Ihnen nicht sagen, worum es geht.«

»Und das hat sie voll und ganz geschafft«, konterte Wilson.

»Ich kann verstehen, dass Sie verärgert sind, Mr. Dowling. Aber Sie werden gleich völlige Klarheit erhalten.«

Wilson fasste mit beiden Händen an die Rückenlehne eines Sessels, als wollte er ihn als Schild benutzen. »Ich verlange, dass Sie mir sagen, warum ich hier bin. Und bitte nennen Sie mich Wilson«, fügte er hinzu und ahmte spöttisch Bartons übertriebenen Charme nach.

»Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung«, sagte Barton. »Ich möchte mich nur mit Ihnen unterhalten.«

»Sie haben mich nicht den ganzen Weg hierher bringen lassen, nur um mich kennen zu lernen. Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.«

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Barton. »Ich möchte Sie zuerst etwas fragen: Sind Sie religiös?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Bitte, Mr. Dowling, ich …«

»Ich sagte doch schon, nennen Sie mich Wilson.«

»Sind Sie religiös, Wilson?«

»Warum sagen Sie mir nicht, ob Sie selbst es sind?« Wilson blickte auf Bartons Handheld und überlegte, was Religion mit seinem Hiersein zu tun haben konnte. Er sah keinen möglichen Zusammenhang.

Barton setzte sich gegenüber an den Tisch und bedeutete Wilson, Platz zu nehmen. »Bitte, Wilson, tun Sie mir den Gefallen. Beantworten Sie meine Frage.«

»Ich bin religiöser Fanatiker«, sagte Wilson und ließ sich in einen der bequemen Sessel sinken. »Ich habe die Absicht, eine eigene Kirche zu gründen. Das scheint mir eine gute Idee zu sein. Ja, meine eigene Kirche. Die Wilson-Kirche. Die Welt braucht den Wilsonismus.« Barton war deutlich anzusehen, dass er an diese Art Humor nicht gewöhnt war. »Warum stellen Sie mir eigentlich eine so blöde Frage?«

Barton verzog keine Miene. »Soviel ich weiß, studieren Sie Jura an der Universität Sydney. Wie läuft es so?«

»Gut.«

Barton blickte nicht auf. »Ihre Doktorarbeit zieht sich in die Länge.«

»Ich bin Perfektionist. Ich erledige die Dinge gern einwandfrei.«

Es folgte eine lange Pause. »Sie fliegen altmodische Flugzeuge, wie ich höre. Mit Propellern.«

»Kommen Sie, Barton!«, platzte Wilson heraus. »Gegen meine bisherige Erfahrung würde ich sagen, Sie sehen aus wie ein prima Kerl. Also, was soll ich hier? Sie haben doch alle Informationen über mich in Ihrem Computer.«

Barton sah von seinem Handheld auf. »Sie wollen also sagen, Sie sind nicht religiös?«

»Was soll diese Frage?«

»Antworten Sie einfach. Sind Sie religiös? Ich meine es ernst.«

»Nein, ich bin nicht religiös«, gab Wilson zu.

»Glauben Sie an Gott?«

»Ob ich an Gott glaube? Das ist ein bisschen zu persönlich, finden Sie nicht?«

Barton saß gleichmütig da und wartete auf Antwort.

»Um die Wahrheit zu sagen, weiß ich eigentlich gar nicht, was ›Gott‹ sein soll. Für meinen Geschmack gibt es zu viel Streit, wenn es um religiöse Dinge geht. Jeder hat eine andere Ansicht. Und nicht alle können recht haben. Aber … ja, wahrscheinlich glaube ich an Gott.«

»Das ist sehr interessant.« Barton tippte auf seiner Tastatur.

»Werden Sie mir jetzt sagen, was das alles soll?«

Die einzige plausible Erklärung, weshalb Wilson in einem Besprechungsraum des mächtigsten Unternehmens der Welt saß, war Professor Authors Omega-Programmierung. Hinter der mussten sie her sein. Und wo war der Professor jetzt? Wahrscheinlich saß er zu Hause in Sydney auf dem Sofa.

»Nun …« Barton, der gedankenversunken in die Ferne geschaut hatte, konzentrierte sich wieder auf den Augenblick und sagte: »Ihr Körper ist aus einem Baustein gemacht, den wir Gen-EP nennen. Das ist einzigartig, denn im Gegensatz zu anderen kohlenstoffbasierten Bausteinen kann ein Gen-EP in eine einfache molekulare Form zerlegt und dann wieder in die ursprüngliche Gestalt gebracht werden.«

»Und das bedeutet?«

»Ihr Körper kann zerlegt und wieder zusammengesetzt werden«, erklärte Barton.

»Und das wiederum bedeutet?« Es ging eindeutig um Authors Omega-Programmierung. Das Ganze war nur eine Masche, damit sie ein paar Tests mit ihm machen konnten.

»In molekularer Hinsicht ist der Körper unkompliziert«, sagte Barton. »Wir müssen ein Experiment vornehmen, um zu sehen, ob es möglich ist, Sie zu zerlegen und wieder zusammenzufügen.«

Wilson musste lachen. Er fragte sich, wieso Barton sich solche Mühe mit der Ablenkungsgeschichte gab. »Warum wollen Sie das überhaupt tun?«

»Ich muss beweisen, dass Zeitreisen möglich sind.« Barton kratzte sich nicht an der Nase, wich seinem Blick nicht aus, blinzelte nicht einmal. Er war ganz gelassen.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte Wilson.

»Mein völliger Ernst.«

»Aber durch die Zeit zu reisen ist unmöglich

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Die Relativitätstheorie besagt, dass Materie keine Lichtgeschwindigkeit erreichen kann. Deshalb kann es nicht gehen. Sagen Sie mir, warum ich wirklich hier bin.«

»Wieso kennen Sie sich mit dieser Frage aus?«

Wilson lächelte im Stillen. Professor Author posaunte ständig Einsteins Theorie in die Welt hinaus – aber jetzt war nicht die Zeit, seinen Namen fallen zu lassen.

»Keine Ahnung, woher ich so schlau bin«, antwortete Wilson. »Ist vielleicht genetisch bedingt.«

»Materie kann Lichtgeschwindigkeit erreichen«, sagte Barton. »Vergessen Sie, was Sie bisher zu wissen glaubten, und gehen Sie davon aus, dass es wahr ist, was ich sage.« Er schwieg eine Zeitlang, damit Wilsons Neugier wachsen konnte. »Das hört sich phantastisch an, nicht wahr?«

Barton ahmte Wilsons Körpersprache nach, und Wilson setzte sich anders hin, um zu sehen, ob der Wissenschaftler es auch tat. Er tat es tatsächlich. Also stand Wilson auf und ging ans Fenster. »Ich würde eher sagen, es hört sich lächerlich an«, widersprach er.

»Es wird sich für Sie lohnen, bei uns mitzuarbeiten«, sagte Barton.

Wilson fasste sich an die Brust. »Warum ich?«

»Das sagte ich schon. Ihr Körper ist aus einem seltenen Baustein gemacht, den ich im Moment nicht selbst erzeugen kann.«

In den nächsten zehn Minuten erklärte Barton, wie die Zeitreise ablaufen sollte, sprach über die Zeitdilatationsformel und darüber, dass sich gezeigt habe, dass der Raum gedehnt werden könne, um der Materie zu Lichtgeschwindigkeit zu verhelfen. »Das ist einfache Quantenphysik«, schloss er.

Wilsons unterdrückter Sarkasmus schrie auf: Oh ja, das hört sich ja sooo einfach an! Doch wenn er ernsthaft darüber nachdachte, konnte er nicht beurteilen, ob es stimmte oder nicht. Barton klang überzeugend. Und der Rembrandt an der Wand – allem Anschein nach ein echter – zwang ihn, in Erwägung zu ziehen, dass die Idee vielleicht doch nicht so abwegig war, wie sie zunächst erschien. Er zeigte auf das Gemälde. »Ist der echt?«

Barton blickte über die Schulter auf das Kunstwerk: ein Säugling in seiner Wiege, daneben die sorgende Mutter, darüber ein halbes Dutzend Engel, die im Dunkeln über ihn wachten.

»Ja«, sagte Barton. »Die heilige Familie. Rembrandt hat es 1635 in Holland gemalt. Es ist neu hier. Enterprise Corporation hat es von der Eremitage in St. Petersburg erworben.«

»Warum ich«, flüsterte Wilson für sich.

»Was sagten Sie?«, fragte Barton.

»Ich habe mit mir selbst gesprochen. Das ist doch erlaubt, oder?« Es folgte ein längeres Schweigen. »Sie wollen also beweisen, dass Sie einen Menschen durch die Zeit schicken können?«

»Ja.« Barton tippte auf seine Uhr. »Und die Ironie ist, dass die Zeit drängt.«

Ich werde erst mal mitspielen, dachte Wilson. »Haben Sie das schon mal gemacht?«

»Nein. Das wurde noch nie gemacht.«

Wilson schritt vor dem Fenster auf und ab. Offenbar war er das bevorzugte Meerschweinchen, wenn irgendjemand geheimnisvolle Experimente machte.

»Wir können ein finanzielles Arrangement treffen, das Ihre kühnsten Träume übersteigt«, sagte Barton. »Sie werden nie wieder arbeiten müssen. Sie werden dieses Stipendium gar nicht mehr brauchen.«

Wilson war klar, dass es Wertvolles nicht umsonst gab. »Was nützt einem Geld, wenn man nicht mehr am Leben ist, um es auszugeben?«

»Wir werden jede Vorsichtsmaßnahme ergreifen.«

»Können Sie für meine Sicherheit garantieren?«

Barton seufzte tief. »Nein.«

Wenigstens war er ehrlich. Wilson starrte aus dem Fenster. Die Sonne war ein oranger Glutball, der sich dem Horizont näherte. Ringsum war der Himmel eine glühende Farbenpalette. »Es tut mir leid, Barton, ich mag Sie – keine Ahnung, wieso –, aber ich mache dabei auf keinen Fall mit. Nichts wird mich umstimmen. Ich kenne meine Rechte. Ich möchte jetzt hinausgebracht werden.«

Barton ging zur Tür. »Treffen wir eine Vereinbarung, Wilson: Sie geben mir noch zwanzig Minuten. Entweder liefere ich Ihnen einen bestechenden Grund zur Mitarbeit, oder Sie können gehen. Ihr Stipendium bleibt unangetastet. Abgemacht?«

Perfekt. In zwanzig Minuten würde Wilson auf dem Heimweg sein und die ganze verrückte Geschichte hinter sich haben. Anders konnte es nicht kommen.

»Barton, Sie sind ein harter Verhandlungspartner«, sagte Wilson. »Aber Sie haben Glück, ich akzeptiere.«