20.

Über dem Golf von Mexiko
Saab 340 Turboprop
27. November 2012
Ortszeit: 7.52 Uhr
Unternehmen Jesaja – dritter Tag

Die Triebwerke dröhnten im Hintergrund. Die Kabine zitterte leicht.

In dem kleinen Waschraum wischte Wilson sich die Rasierschaumreste aus dem Gesicht. Er hatte wieder ein wenig Farbe bekommen und sah besser aus, fand er. Noch nicht hundertprozentig wiederhergestellt, doch auf einem guten Weg. Er strich sich mit nassen Händen die Haare zurück. In der Hauptkabine hatte er einen Reisekoffer gefunden, der wahrscheinlich dem Piloten gehörte, hatte ein weißes Oberhemd darin entdeckt und es angezogen. Es passte wesentlich besser als die lächerlichen Klamotten von George. Vor allem war es eine Erleichterung, aus dem Love-Machine-T-Shirt herauszukommen.

Wilson betrachtete sich im Spiegel. Seit seiner Ankunft war alles wie ein Traum gewesen; dennoch war es keiner. Eines war sicher: Ohne seine Omega-Programmierung wäre er längst tot, so viel stand fest. Es schien, dass der Wurf seiner Schicksalsmünze damals in der Wohnung von Professor Author sich als die klügste Entscheidung seines Lebens erwies. Was für eine Ironie.

Seine Gedanken schwenkten zeitweise zu Helena zurück wie eine Kompassnadel nach Norden. Ihre Rolle bei dem Abenteuer war unerwartet ins Spiel gekommen. Und doch sagte ihm der Name Esther – der des Dobermanns –, dass alles so war, wie es sein sollte.

Wilson runzelte die Stirn. Helenas telepathische Verbindung verstand er noch nicht ganz. Sie sagte, ihre Visionen hätten vor zwei Monaten begonnen, er war aber erst seit knapp drei Tagen hier. Dennoch glaubte er ihr, ganz unwillkürlich, trotz der widersprüchlichen Fakten. Alles an ihr, besonders der Ausdruck ihrer Augen, zeigte ihm, dass sie die Wahrheit sagte. Schmunzelnd fiel ihm wieder ein, wie sie entsetzt den Mund aufgesperrt hatte, als er meinte, sie solle nicht gegen eine Bohrinsel fliegen. Aber was das betraf, bestand keine Gefahr: Der Autopilot war eingeschaltet, und so tief flog die Maschine nicht.

Wahrscheinlich war Helena die energischste Frau, der er je begegnet war, und das wollte etwas heißen, wenn man bedachte, wie Jenny Jones und Karin Turnberry sich aufführten. Helena konnte einen in Rage bringen, und wie sie diese Waffe handhabte, war beunruhigend, gelinde gesagt.

Wilson überlegte, wie es zu der telepathischen Verbindung gekommen sein konnte. Vielleicht hatte seine molekulare Rekonstruktion ihn empfänglicher dafür gemacht, oder seine Omega-Programmierung hatte es ausgelöst. Beides klang nach einer möglichen Erklärung. Aber im Grunde tappte er im Dunkeln – er konnte nur raten. Konnte Barton gewusst haben, dass das alles passieren würde? War es möglich, dass in dieser Welt alles durch die Prophezeiung in der Qumran-Rolle vorherbestimmt war?

Er suchte in seinem Gedächtnis nach einer Antwort …

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent

Enterprise Corporation, Mercury Building, 2. Etage

11. Mai 2081

Ortszeit: 11.14 Uhr

12 Tage vor dem Transporttest

Barton saß an seinem Schreibtisch. Hinter ihm an der Wand prangte das Firmenlogo von Enterprise Corporation. Alles im Raum war ein Muster an Ordnung und Perfektion. Digitale Arbeitsunterlagen waren präzise gestapelt, seine Lasermarker lagen aufgereiht auf der Tischplatte. Der mit Teppichboden ausgelegte Teil war in geraden Strichen gesaugt, die Fenster und Tischflächen glänzten ebenso wie Bartons Schuhe. Selbst die Pflanzen entlang der Wände waren gleich groß und in demselben gepflegten Zustand. Es war tatsächlich ein bisschen störend, so als ob nichts berührt werden dürfte oder sollte, damit die Perfektion erhalten blieb.

»Sagen Sie mir, was Sie denken«, forderte Barton ihn auf.

Wilson hielt es für das Beste, nicht wahrheitsgemäß zu antworten. Sie begegneten sich erst zum zweiten Mal. Das erste Gespräch hatte sechs Stunden gedauert, worauf Wilson den Rest der Nacht kein Auge zugetan hatte, weil er sich Sorgen machte und alles immer wieder von Neuem überdachte.

»Sie werden verstehen, dass das eine Menge Informationen sind, die ich zu verarbeiten habe«, sagte Wilson ein wenig müde. Sein Blick wanderte zu einer prachtvollen Glaskugel auf dem Sideboard, die halb so groß war wie ein Basketball. Er wusste, er sollte sie nicht anfassen, doch aus Faszination streifte er seine Hemmungen ab, hob sie hoch und spielte damit herum, als wäre sie billiger Nippes.

»Bitte, gehen Sie vorsichtig damit um«, bat Barton und rutschte bis an die Sesselkante, als wollte er gleich aufspringen, um die Kugel aufzufangen.

Wilson nahm sie in beide Hände. Als er sie näher betrachtete, fielen ihm die zahllosen Lichtbrechungen darin auf, die aussahen, als steckten in der Kugel geheimnisvolle Kräfte. Es war ein fesselnder Anblick.

»Das ist der DuPont-Preis. Ich habe ihn für …«

»… die Erfindung des Ozonregenerators bekommen«, vollendete Wilson den Satz.

»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Barton verblüfft. »Das ist kaum bekannt.«

Wilson musste lächeln. »Durch schlichte Genialität.«

Da er meinte, Barton genug gequält zu haben, setzte Wilson die Kugel zurück in ihren Ständer und zeigte auf die feine Schrift, die ins Glas geätzt war. »Hier steht es: Ozonregenerator. Sie sind ein bisschen aufgeregt, nicht wahr?«

»Verzeihung.« Barton schaute verlegen. »Es ist nur so, seit Sie gestern Abend die hebräischen Schriftzeichen entziffert haben … nun, ich wunderte mich …«

Nach einigem Nachdenken war Wilson darauf gekommen, wieso er die alte Schrift hatte lesen können. Vor drei Wochen hatte er Strongs Konkordanz der King James Bibel überflogen, ein Nachschlagewerk, das man beim Übersetzen alter Texte gebrauchte. Darin waren alphabetisch alle vorkommenden Wörter aufgeführt und mit Nummern versehen. Vor allem bot die Konkordanz erschöpfende Einzelheiten über die hebräischen, aramäischen und griechischen Texte, denen die Wörter entnommen waren, einschließlich einer Darstellung der Buchstaben und Symbole.* Wie es schien, hatte Wilson die Informationen in einem verblüffenden Ausmaß unbewusst aufgenommen – und dafür war zweifellos seine Omega-Programmierung verantwortlich.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Barton.

»Was gemacht?«

»Die alten Texte gelesen.«

»Ich sagte bereits, ich habe sie nicht gelesen. Es ist abwegig zu glauben, dass ich es könnte.«

Barton rieb sich das Kinn. »Dann haben Sie bewundernswert gut geraten.«

»Wann bekomme ich meinen Vertrag?«, fragte Wilson, um das Thema zu wechseln. Er hatte mit Barton ein finanzielles Arrangement ausgehandelt und wollte es schriftlich, um sicher zu sein, dass das Angebot ernst gemeint war.

Barton sah auf die Uhr. »Er wird heute Nachmittag fertig sein.«

Die Unterhaltung währte noch zehn Minuten, in denen Barton darlegte, was geschehen sollte. Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. »Sie werden die Köpfe des Mercury-Teams kennen lernen. Die Taktiker. Das sind die Wissenschaftler, die Sie durch die Zeit schicken werden.« Ein kurzes Läuten drang aus Bartons Handheld. Er holte scharf Luft und stand auf. Ohne Erklärung legte er den Finger an die Lippen und winkte Wilson, ihm zu einer Tür zu folgen. Sie führte in ein schickes Badezimmer aus schwarzem Marmor und glänzendem Holz mit einem großen rechteckigen Whirlpool, von dem man nach draußen in den Wald blickte.

Wilson trat hinter ihm ein, war aber misstrauisch.

Barton schloss leise die Tür. »Das Läuten, das Sie gehört haben, verrät mir, wann mein Büro abgehört wird. Jemand versucht, unser Gespräch zu belauschen.«

»Sie haben also Geheimnisse vor den anderen«, meinte Wilson herablassend.

»Im Badezimmer gibt es keine Abhörvorrichtung.«

»Das ist gut.« Wilson blickte auf die schwarze Porzellantoilette. »Privatsphäre kann nicht hoch genug geachtet werden, auch nicht bei Enterprise Corporation.«

Barton lehnte sich gegen das Waschbecken. »Wilson, ich glaube, es ist wichtig, dass wir von jetzt an ehrlich miteinander sind.« Er wirkte mit einem Mal gestresst, was gar nicht zu seiner Rolle passte. »An diesem Punkt wird die ganze Sache nämlich kompliziert.«

»Ist es möglich?«, erwiderte Wilson lachend. Er lachte immer, wenn er nervös wurde. »Was könnte abenteuerlicher sein als das, was Sie mir bereits offenbart haben? Man findet nicht jeden Tag heraus, dass die Qumran-Rollen Bauanweisungen für eine Zeitmaschine enthalten.«

Barton rieb sich das Kinn. »Die Wissenschaftler des Mercury-Teams wissen eigentlich nicht, was vor sich geht. Sie glauben, dass ich Sie nur um ein paar Minuten in die Zukunft schicke.«

Wilson wurde misstrauisch. »Aha.«

»Aber das wird nicht der Fall sein, sollten wir zu einer Einigung kommen.«

Wilson setzte sich auf den Toilettendeckel. »Was haben Sie stattdessen vor?«

Der Wissenschaftler blickte ihm direkt in die Augen. Er bot wieder ein Bild kühlen Selbstvertrauens. »Ich werde Sie in die Vergangenheit schicken.«

Wilson lächelte im Stillen. Bartons Art, mit ihm zu sprechen, wirkte viel verlockender als seinerzeit Authors betrunkenes Geschwafel. »Sie meinen das ernst, nicht wahr?«

Barton schürzte die Lippen. »Wie ernst es mir damit ist, haben Sie wahrscheinlich noch gar nicht begriffen.«

»Jetzt aber mal Scherz beiseite«, sagte Wilson. »Ich bin auch dafür, dass wir ehrlich sein sollten. Sagen Sie mir einfach die Wahrheit. Worum geht es wirklich?«

Barton rieb sich das Kinn wie immer, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Ich habe vor, Sie fünfundsiebzig Jahre in die Vergangenheit zu schicken.«

Wilson schauderte unwillkürlich; um es zu überspielen, lehnte er sich an die Wand und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Gehen wir mal davon aus, Sie könnten mich tatsächlich in der Zeit zurückschicken – was ich ernsthaft bezweifle. Wie werde ich dann an mein Geld kommen? Was meinen Sie? Sie werden da noch gar nicht geboren sein.«

»Sie werden irgendwann in die Gegenwart zurückkehren«, sagte Barton vollkommen ruhig. »Sie werden Ihr Geld von mir bekommen, die eine Hälfte jetzt, die andere später.« Er schwieg kurz. »Ich erwarte nicht, dass Sie sofort zustimmen. Begrifflich ist die Sache sehr schwer zu verstehen, das ist mir klar. Ich habe selbst meine Schwierigkeiten damit.«

Wilson kratzte sich am Kopf. »Warum fünfundsiebzig Jahre zurück? Sie müssen einen bestimmten Grund haben.«

»Allerdings.« Barton überlegte eine ganze Weile, ehe er fortfuhr. »Das Ziel ist, einen geheimen Auftrag zu erfüllen.«

Wilson grinste breit. »Oh, ein geheimer Auftrag! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Lassen Sie mich raten. Sie wollen, dass ich in der Vergangenheit jemanden umbringe, wie im Film, wenn der Mörder jemandes Urgroßmutter und ihren Stammbaum auslöscht.«

Barton fand das gar nicht lustig. »Nichts dergleichen, Wilson. Ich schlage vor, Sie hören mir zu und sparen sich die Witzeleien.« Es folgte ein längeres Schweigen, bei dem sich die Männer anblickten und keiner als Erster weggucken wollte. Schließlich sagte Barton: »Das Mercury-Team weiß nichts von diesem Unternehmen. Sie glauben, ich versuche, die Theorie der Zeitreise zu beweisen.« Er zögerte. »Ich weiß, das klingt alles sehr ungewöhnlich …«

»Eigentlich passiert mir das dauernd.«

Barton überhörte die Bemerkung. »Es hat mit dem dreiundzwanzigsten Buch des Alten Testaments zu tun, dem Buch Jesaja.«

»Ich dachte, die Baupläne stünden bei Esther, dem siebzehnten Buch.«

»Wilson, man errichtet kein Zeitportal, wenn man nicht einen sehr guten Grund hat, es zu benutzen. Das können Sie verstehen, nicht wahr?«

»Und was ist der Grund?«

»Einen Auftrag zu erfüllen. Einen Auftrag, der im Buch Jesaja beschrieben ist. Das ist der Grund, warum das alles passiert, warum meine Welt und nun auch Ihre auf den Kopf gestellt wurde.«

Unerwartet drang eine Stimme aus dem Nebenraum.

»Entschuldigen Sie … hallo!«

Barton riss die Tür auf. Am anderen Ende des Büros stand ein Teenager im braunen Trainingsanzug. Barton blieb äußerlich ruhig, doch Wilson konnte spüren, wie sehr er durch die Unterbrechung erschüttert war.

»Andre … was tust du hier?«, fragte Barton.

Der Junge kam zu ihm. »Ich muss meiner Mutter sagen, wann sie mich abholen soll.«

Wilson suchte in Andres Gesicht nach einem Anzeichen, dass er ihr Gespräch belauscht hatte, doch er sah nur Unschuld in den jugendlichen Zügen.

»Sag ihr, wir sorgen dafür, dass du nach Hause kommst, einverstanden?«, bot Barton an. »Du kannst auch hier übernachten. Wie fändest du das?«

»Geht klar.«

»Andre, ich möchte dir Wilson Dowling vorstellen.«

Wilson rang sich eine Floskel ab. »Nett, dich kennen zu lernen.« Sie schüttelten sich die Hand, und Wilson ließ sofort los – der Junge hatte schweißnasse Hände, die beinahe tropften. Hieß das, er verbarg etwas? Oder waren seine Hände immer feucht?

»Ich hatte gehofft, Sie kennen zu lernen«, bekannte Andre mit Stolz. »Es war meine Idee, Sie aufzuspüren. Ich war es, der daran gedacht hat, einen natürlichen Gen-EP zu beschaffen.«

»Erwarte nicht, dass ich dir danke«, scherzte Wilson, während er sich die Hand abwischte.

»Andre ist einer der gescheitesten jungen Leute, die wir bei Enterprise Corporation haben«, sagte Barton, wobei er absichtlich übertrieb. »Er ist neu im Mercury-Team.«

»Wo ist dein Laborkittel?«, fragte Wilson.

»Den bekomme ich morgen«, sagte Andre, der ihn anstarrte.

Eine unbehagliche Stille setzte ein, während die drei im Kreis standen und einander anschauten. Wilson wollte nichts sagen, um das Gespräch nicht zu verlängern.

Schließlich wies Barton zur Tür. »Wir sehen uns in einer Stunde im Besprechungsraum, Andre. Wie hört sich das an?«

»Ich werde so lange zu Davin gehen«, sagte Andre. »Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Sir.«

Barton wartete, bis Andre gegangen war; dann dirigierte er Wilson ins Badezimmer und machte hinter sich die Tür zu. Das Büro wurde vielleicht weiter abgehört. Barton stand neben dem Waschbecken und schaute durchs Fenster ins Grüne. Wilson hatte schon bemerkt, wie analytisch der Wissenschaftler war, und nahm an, dass er soeben die Entfernung zur Tür, die Stärke des Holzes und ihre Lautstärke beim Sprechen abschätzte, und ob Andre sie von der Stelle aus, wo er gestanden hatte, gehört haben konnte.

»Meinen Sie, er hat etwas mitbekommen?«, fragte Wilson.

»Da kann man nicht sicher sein.«

»Erzählen Sie mir mehr über den Auftrag«, bat Wilson, der weitermachen wollte.

»Ja, der Auftrag.« Barton blickte zur Tür; dann senkte er die Stimme. »Im Buch Esther wird angegeben, wie man durch die Zeit reist. Im Buch Jesaja steht, warum das geschehen soll. Als ich den Esther-Text zum ersten Mal übersetzt habe, wurde mir klar, dass ich eine phantastische Entdeckung gemacht hatte. Dann fand ich die Verknüpfung mit Jesaja, und mein Leben war nicht mehr dasselbe.« Er öffnete die Tür zum Büro, spähte hinaus und schloss sie wieder. »Das Buch Jesaja ist ein machtvolles Dokument, ein sehr machtvolles. Seit über zwei Jahren halte ich es vor allen geheim und entschlüssele von Hand den Text so schnell ich kann.«

»Aber mir verraten Sie jetzt alles?«

»Ein Mensch ist eine Ausnahme. Der Jesaja-Text nennt ihn den Aufseher.«

Wilson war verwundert. »Den Aufseher worüber?«

Barton verschränkte die Arme. »Der entschlüsselte Text erzählt von der Berufung eines Mann, der das Gleichgewicht wiederherstellen wird.« Sein Blick wurde intensiver, als suchte er in Wilsons Augen nach dem Gen-EP-Merkmal. »Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie dieser Aufseher sind.«

Wilson grinste nervös. »Das bin ich ganz bestimmt nicht.«

»Es ist möglich.«

»Ich kann es nicht sein … ich komme aus Sydney!«

»Trotzdem.«

»Niemand aus Sydney ist Aufseher. Ein Surfer vielleicht … aber ein Aufseher? Nie im Leben.«

»Sie haben das Gen-EP-Merkmal, und das heißt, dass wir Sie durch die Zeit senden können. Und das Buch Jesaja beschreibt den Aufseher als einen Mann ohne Religion.«

Wilson wartete auf mehr, doch Barton sagte nichts.

»Das ist alles?«, fragte Wilson.

Barton nickte.

»Mehr haben Sie nicht? Das war’s?«

»Ich gebe zu, ich kann nicht völlig sicher sein, dass Sie es sind. Aber von den Milliarden Menschen auf der Erde haben Sie die richtigen genetischen Merkmale. Das muss etwas bedeuten. Meine Meinung ist die: Wenn es uns gelingt, Sie in die Vergangenheit zu senden, müssen Sie der Genannte sein.«

Wilson konnte nicht anders, er kicherte. »Wie passend – ich stehe direkt neben dem Klo! Wissen Sie, ich glaube, das ist ein Zeichen! Sie haben selbst gesagt: Es gibt keine Zufälle.«

Wilson ging auf den schwarzen Fliesen nervös auf und ab. Er würde wahrscheinlich auch diese Nacht nicht einschlafen können. »Die ganze Geschichte ist höchst seltsam. Das ist Ihnen klar, oder?« Was ihm am meisten Sorge machte, war, dass ihm die Sache gefiel – die Vorstellung, jemand Besonderer zu sein. Ein Abenteuer zu erleben.

»Stellen wir uns mal vor, Sie könnten mich tatsächlich in die Vergangenheit schicken«, sagte er. »Ich soll niemanden umbringen, wenn ich dort bin, sagen Sie. Aber was soll ich dann für Sie tun?«

Barton rieb sich die Schläfen. »Ich habe noch nicht alle Informationen entschlüsselt, aber so viel kann ich Ihnen schon sagen: Der Aufseher ist dazu bestimmt, in der Zeit zurückzureisen, um drei Energieportale zu aktivieren, die den Fluss der magnetischen Energie durch die Erdatmosphäre regulieren.«

Wilson kam nicht mehr mit. »Äh … und das heißt?«

»Sie sind wie große Uhrwerke, die die Zeit steuern.«

»Ich soll fünfundsiebzig Jahre in die Vergangenheit reisen, um ein paar große Uhren in Gang zu bringen? Das ist doch lächerlich!«

»Sie können sich darüber lustig machen, so viel Sie wollen, aber was Sie sagen, ist im Wesentlichen korrekt. Das ist der Auftrag von Jesaja … ein Auftrag, der in der Qumran-Rolle prophezeit wurde.«

Wilson setzte sich wieder auf die Toilette. Ihm war, als müsste er sich gleich übergeben. »Warum müssen die magnetischen Kräfte der Erde reguliert werden, oder was immer Sie da gesagt haben? Und sagen Sie es in der Laien-Version.«

Ein Leuchten trat in Bartons Augen. »Es wird Ihnen gefallen. Haben Sie sich je gefragt, warum jeder Tag kürzer erscheint als der vorige? Warum die Zeit umso schneller vergeht, je älter Sie werden?«

»Ja.«

»Sie verstehen, was ich meine?«

»Ja. Jeder empfindet das so.«

»Genau. Der Grund ist der: Die Magnetfrequenz in der Erdatmosphäre nimmt zu. Und als Folge davon läuft die Zeit schneller.«

»Die Atomuhr-Theorie besagt, dass Zeit konstant ist.«

Barton verzog spöttisch das Gesicht. »Eine Atomuhr ist in derselben Weise beeinträchtigt wie alles andere. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir nehmen zwei hoch präzise Atomuhren, die auf dieselbe Zeit eingestellt werden, stellen eine neben Ihnen auf den Boden, die andere in ein Airbus-Shuttle, fliegen sie dreimal mit Höchstgeschwindigkeit um die Erde und bringen sie hierher zurück. Wenn wir die Geräte vergleichen, werden wir feststellen, dass die Atomuhr, die um die Erde geflogen ist, langsamer gelaufen ist als die, die neben Ihnen gestanden hat. Ein paar Hundert Nanosekunden langsamer – genauso viele, wie Einsteins Zeitdilatationsformel vorhersagt.«**

»Und was beweist das?«

»Das beweist, dass Zeit dehnbar ist. Sie kann sich ausdehnen und zusammenziehen.«

»Also gut, Barton. Was passiert, wenn die Zeit schneller läuft?«

Barton rieb sich das Kinn. »Wenn die Zeit eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht, wird die ganze Welt und alles, was darin lebt, wahnsinnig. Die Folgen sind unabsehbar, sowohl psychologisch wie biologisch und in globaler Hinsicht. Ob Sie es glauben oder nicht, der Auftrag von Jesaja besteht darin, die Zeit auf das erforderliche Maß zu bremsen und uns alle zu schützen.«

Wilson wollte nicht zu sehr darüber nachdenken, was er da hörte. So viel Information konnte er nicht verarbeiten. »Und ich bin der Aufseher?«, fragte er in einem Tonfall, der die Absurdität der Behauptung deutlich machen sollte.

»Ja. Ich glaube, dass Sie es vielleicht sind.«

Es war das Vielleicht, das bei Wilson hängenblieb. Nacheinander ging er seine Optionen durch. Eins: Barton war total verrückt. Zwei: Enterprise Corporation war doch hinter der Omega-Programmierung her – aber das hielt er für eher unwahrscheinlich. Drei: Professor Author hatte ihm das Gehirn püriert, und er bildete sich das alles nur ein. Und schließlich vier: Barton sagte die Wahrheit. Wilson dachte einen Moment nach. Das erschreckendste Szenario war Option vier.

»Verhandeln wir noch einmal neu«, verlangte Wilson. Es war Zeit, die Hürde höher zu legen, um zu sehen, wie Barton reagierte. »Erinnern Sie sich an den Rembrandt in Etage drei? Das schlafende Baby mit seiner Mutter? Das Gemälde lege ich auf die Bezahlung drauf.«

Über dem Golf von Mexiko

Saab 340 Turboprop

27. November 2012

Ortszeit: 7.55 Uhr

Unternehmen Jesaja – dritter Tag

Ein plötzlicher Ruck riss Wilson in die Wirklichkeit zurück.

Er setzte die Sonnenbrille auf, trat aus dem Waschraum und ging zurück ins Cockpit. Die Turbulenzen schienen stärker zu werden, und er musste sich gegen die Bewegungen des Flugzeugs stemmen. Er tätschelte Esther den Kopf, als er an die schmale Türöffnung kam. Der Hund wirkte unter den gegebenen Umständen recht zufrieden und völlig unbeeindruckt von dem, was vorging.

Die Morgensonne war vom Horizont verschwunden, stattdessen türmten sich Wolkenberge auf. Das Wetter war rasch umgeschlagen. Helenas Fingerknöchel waren weiß vor Anspannung, während sie die Turboprop einem Sturm entgegensteuerte. Sie hatte Mühe, die Fassung zu wahren.

Wilson glitt an ihr vorbei und sprang in den Pilotensitz.

»Das wurde aber auch Zeit!«, fuhr sie ihn an.

Wilson schnallte sich an. »Das sieht nach einem Höllenspaß aus.« Das Flugzeug hüpfte und sackte mitunter hundert Fuß ab.

»Ich dachte, Sie kommen gar nicht wieder!«

Manchmal flogen sie so tief, dass Wilson den Schaum auf den Wellen sehen konnte. »Vielleicht sollte ich jetzt das Ruder übernehmen«, sagte er trocken. »Wo Sie gar keinen Pilotenschein haben.«

Helena schoss ihm einen funkelnden Blick zu. »Der Sturm war plötzlich da! Es war unmöglich, das Flugzeug ruhig zu halten. Und dann kommen Sie und machen Witze.«

»Sie haben Esther zu Tode erschreckt. Sehen Sie nur, das arme Tier ist völlig durcheinander.« Wilson zog den Steuerknüppel sanft zurück, und die Saab 340 gewann rasch an Höhe.

Helena verstand nicht, was Wilson tat. Sie war vierzig Minuten lang unter dreihundert Fuß geblieben. »Was ist mit dem Radar? Wir müssen doch unter dem Radar bleiben.«

»Wir sind jetzt von allem meilenweit weg.« Wilson schaute über die Armaturen. »Hier draußen gibt es keinen Radar, das versichere ich Ihnen.«

»Wissen Sie, wie stressig es ist, so tief zu fliegen?«

»Sie haben das großartig gemacht.«

Helena nahm ihre Waffe und drückte sie Wilson an die Schläfe. »Es ist Zeit, dass Sie mir meine Fragen beantworten!« Sie zwang seinen Kopf zur Seite.

»Glauben Sie nicht, dass es bessere Mittel gibt?«, erwiderte er.

»Von jetzt an stelle ich die Fragen, und Sie geben Antwort! Also, wer sind Sie eigentlich? Und was tun wir hier?«

Wilson deutete auf die wogende Wolkenformation. »Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: Der Sturm ist gefährlich, sehr gefährlich. Solches Wetter kann gewaltige Abwinde erzeugen.« Wie aufs Stichwort schlug ein Blitz ins Wasser ein, und das grelle Licht zuckte durch die Kabine. »Ich werde uns von hier wegbringen, okay?«

»Wechseln Sie nicht das Thema!«

Die Mündung an der Schläfe, lenkte Wilson das Flugzeug nach rechts, nach Westen, einem klareren Himmel zu, und die Turbulenzen ließen langsam nach. Natürlich war ihm klar, dass die Kursänderung die Treibstoffsituation kritischer machte.

»Hören Sie, ich weiß, wie Sie sich fühlen«, sagte er.

»Ich will eine Antwort! Zwingen Sie mich nicht, etwas Dummes zu tun!«

»Nur damit ich es richtig verstehe – Sie halten es nicht für dumm, mir eine Waffe an den Kopf zu drücken?« Wilson hatte schon genug Schwierigkeiten. Er war mehr als tausend Kilometer von seinem Ziel entfernt und hatte ein Treibstoffproblem, und er hatte noch nicht herausgefunden, wie der Navigationscomputer zu bedienen war. In Houston war die Polizei aus unerfindlichen Gründen hinter ihm her, und er hatte vor zwei Tagen knapp einen Auffahrunfall überlebt. Es reichte ihm jetzt. Verärgert schob er den Lauf der Waffe beiseite. »Wenn Sie mich erschießen, wer soll dann das Flugzeug landen? Sie?«

Mit dieser schlichten Logik ließ er Helena eine Weile schmoren.

»Sie erinnern mich an meine Exfreundin«, sagte er schließlich.

Helena biss die Zähne zusammen, um einen frustrierten Aufschrei zu unterdrücken. »Wohin fliegen wir?«, fragte sie.

Wilson deutete auf die Waffe. »Gehen Sie mit anderen Leuten immer so um?«

»Mit Idioten ja!«

»Verhandlungen mit Ihnen müssen die Hölle sein. Arbeiten Sie in dieser Branche?«

»Werden Sie mir sagen, was ich wissen will?«

»Nein.«

Während der nächsten Viertelstunde redete Helena kein Wort und rührte sich nicht. Das einzige Geräusch im Cockpit war das Dröhnen der Motoren. Wilson nutzte die Gelegenheit, um herauszufinden, wie der Navigationscomputer funktionierte. Es dauerte einige Zeit, aber schließlich gab er die Koordinaten ein und berechnete den Treibstoff. Es würde eng werden. Doch sie konnten es schaffen, wenn das Wetter schön blieb.

Froh, dass die Aussichten besser wurden, wandte er sich Helena zu und sagte: »Ich heiße Wilson Dowling. Ich komme aus Australien. Wir fliegen mit einer Saab Turboprop fünftausend Fuß über dem Meeresspiegel in südwestlicher Richtung nach Mexiko.«

»Wohin in Mexiko?«

»Zur Halbinsel Yucatán.«

Helena blickte ihn zum ersten Mal an, seit er ihren Revolver weggeschlagen hatte, und musterte sein Profil. Er hatte sich rasiert und trug jetzt ein weißes Oberhemd und eine schwarze Hose. Diese Kleidung saß viel besser. Er sah wahrscheinlich sogar gut aus, aber im Augenblick war sie eher geneigt, ihm das übel zu nehmen.

»Warum dorthin?«, fragte sie.

»Das ist alles, was ich Ihnen verrate.«

Sie schnaubte ärgerlich. »Gerade haben Sie sich mal einen Moment lang ordentlich benommen!«

Beim Anblick weiterer Wolken vor ihnen drückte Wilson einen Knopf des Bordcomputers, und das Flugzeug stieg automatisch auf, was ihre Flugentfernung vergrößerte. Dadurch hatte er kaum noch die Möglichkeit, Helena vorher irgendwo abzusetzen. Sie würde mitkommen müssen – eine unangenehme Entwicklung.

»Ich will nach Chichén Itzá«, sagte er.

»Zu der Ruinenstadt?«

»Nein, zu der Imbissbude.«

»Es spielt keine Rolle, auf welchem Flugplatz wir landen. Die Behörden werden uns auf jeden Fall stellen. Das mag sich für Sie komisch anhören, weil Sie ein Idiot sind, aber ich bin ziemlich sicher, dass Texas Air das Flugzeug zurückhaben will.«

»Wir landen auf keinem Flugplatz«, erwiderte er. »In der Mitte der Ruinenstadt gibt es einen grasbewachsenen Platz. Der sollte für eine Landung lang genug sein.«

»Sind Sie verrückt?«

»Ich bin sehr wohl imstande, das Flugzeug zu landen, ohne uns umzubringen. Haben Sie ein bisschen Vertrauen.«

»Haben Sie ein bisschen Vertrauen!« Sie verdrehte die Augen und warf sich in ihren Sitz zurück. »Was mache ich hier eigentlich?«

Helena saß da und starrte ins Leere.

»Und um es noch einmal deutlich zu sagen, es hat mir nicht gefallen, wie Sie mir die Waffe an den Kopf gehalten haben. Tun Sie das nie wieder«, sagte er bestimmt.

Helenas Gedanken wanderten zu ihrem Vater und was er jetzt wohl gerade dachte. Seine einzige Tochter war in eine Flugzeugentführung verwickelt. Er würde wütend sein, würde fluchen, dass sie es mit ihrer Aufsässigkeit zu weit getrieben hatte – und er würde krank sein vor Sorge, sie könnte endgültig unzurechnungsfähig sein.

Helena drehte sich zu Wilson um. »Während Sie weg waren, hatte ich eine Vision, wie Sie sich im Waschraum im Spiegel betrachten. Was haben Sie da gedacht?«

Wilson gab sich Mühe, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen. »Ich habe über die Ereignisse nachgedacht, die mich hierher geführt haben.«

Irgendetwas sagte Helena, dass er die Wahrheit sprach; sie spürte es. Sie atmete tief durch. In gewisser Weise war es, als würde sie Wilson kennen, und obwohl er sie ständig ärgerte, empfand sie ein unerklärliches Vertrauen. Es gab keine Grundlage dafür, doch sie vertraute ihm. »Ich schlage Ihnen einen Handel vor: Sie sagen mir die Wahrheit, und ich helfe Ihnen.«

Wilson wollte sich auf keinen Handel einlassen. Er wollte Helena sicher aus seinem Leben heraushalten, damit er sich auf seinen Auftrag konzentrieren konnte.

Helena steckte ihren Revolver in die Jacke und ließ den Blick über das Cockpit schweifen. »Was Sie tun, muss wichtig sein. Sonst hätten Sie kein Flugzeug gestohlen.«

»Ich habe es gestohlen, weil die Polizei hinter mir her war.«

»Ja, aber auch, um irgendwohin zu fliegen. Sie haben einen Grund dafür, das weiß ich genau.«