30.
Flughafen Cancún, Mexiko
Capriartys Privatflugzeug
28. November 2012
Ortszeit: 9.00 Uhr
Unternehmen Jesaja – vierter Tag
Die Stirn gerunzelt, legte Helena ihren Sicherheitsgurt an. Seit dem vergangenen Abend hatte sie keine Vision mehr gehabt und fürchtete, dass es damit nun vorbei war.
Jensen, der als Letzter an Bord kam, verriegelte die Tür. Lawrence und die anderen drei Leibwächter saßen bereits an ihren Plätzen. Die Kabine des Bombardier-Privatjets war schmal. Die Fenster waren rund, die Wände mit Holz verkleidet. Die Hälfte der Ledersitze, sechzehn insgesamt, zeigten nach vorn, die andere Hälfte nach hinten. Sie waren in drei Sitzgruppen aufgeteilt. Durch die Mitte verlief ein Gang. Esther, mit einem neuen Maulkorb, saß zwischen Helenas Füßen in der mittleren Gruppe. Sie wirkte verunsichert, doch Helena streichelte sie, bis sie sich hinlegte.
Lawrence lächelte die hübsche junge Stewardess an. »Tomatensaft, bitte.« Er wandte sich Helena zu. »Was möchtest du?« Sie schüttelte zur Antwort den Kopf. »Es hat keinen Sinn, noch weiter verärgert zu sein«, sagte er bestimmt. »Die Sache ist erledigt. Wir fliegen nach Hause. Und du kannst diesen albernen Hund seinem Besitzer zurückgeben.«
Helena hatte den ganzen Morgen kein Wort gesprochen.
»Eines Tages wirst du mir danken«, fügte er hinzu.
Jensen setzte sich ganz nach vorn, mit dem Rücken zu Helena, und gab sich Mühe, sie zu ignorieren. Aber er konnte nicht anders und drehte sich noch einmal um. »Kaum zu glauben, dass Mexiko mir mal gefallen hat.«
Ein langer Seufzer kam über Helenas Lippen, und sie drehte sich zum Fenster und schaute auf die Rollbahn. Den letzten zwei Minuten nach zu urteilen, würde es ein langer, nervtötender Heimflug werden. Draußen jagte ein starker Wind eine Staubwand durch die Luft.
Lewis kam aus dem Cockpit durch den Gang. Der Pilot war Anfang vierzig und trug eine schwarze Hose und ein weißes kurzärmliges Hemd mit vier Streifen auf jeder Schulterklappe. Er schüttelte Lawrence herzlich die Hand und ging wie immer neben ihm in die Hocke, um ihm vor dem Start detaillierte Einzelheiten zu nennen.
Helena kannte den Piloten ihres Vaters gut. Er stammte aus Kanada und war vor sechs Jahren mit seiner Familie von Toronto nach Houston gezogen, um, wie er sagte, seinen Traumjob anzunehmen und eine Bombardier Global Express zu fliegen. Sie war der Inbegriff des Geschäftsflugzeugs und hatte von allen die größte Reichweite und Spitzengeschwindigkeit. Wer sich mit Verkehrsflugzeugen auskannte, wusste sie zu schätzen.
Helena hörte beim ersten Satz noch zu; dann blendete sie aus, und ihre Gedanken schweiften zu Wilson zurück. Sie hatte während der Nacht immer wieder über die letzten drei Tage nachgedacht. Es gab so viele unbeantwortete Fragen, so viele komplizierte Gefühle, die sie nicht verstand.
Die Triebwerke schnurrten, als der kleine Jet ans Ende der Rollbahn kam und auf die staubige Startbahn einbog. Nach einem plötzlichen Schub schoss er mühelos in den klaren, hellblauen Himmel. Es war keine Wolke zu sehen, als er über dem Golf von Mexiko in die Kurve ging und nach Nordosten in die Morgensonne flog. So weit das Auge reichte, war der sattblaue Ozean mit Schaumkronen bedeckt, und ein böiger Wind fegte gnadenlos die Gischt von den Wellen.
Helena lehnte sich zurück. Sie würde bald in Houston sein, wo das FBI auf sie wartete. Nicht um sie festzunehmen, sondern um ihr Fragen zu stellen, was passiert war und warum. Ihr Vater hatte alles geregelt; in der Hinsicht war er erstaunlich. Er hatte mit Hanson Manning eine Vereinbarung getroffen, der – offenbar unter Druck – zugestimmt hatte, dass Helena eine unfrei-willige Teilnehmerin des Flugzeugdiebstahls gewesen war. Texas Air würde die Versicherung beanspruchen, doch als Bestechung wechselte eine beträchtliche Summe den Besitzer. Da Manning ein harter Verhandlungsgegner war, würde er aus der Sache als Gewinner hervorgehen. Als überraschende Wende der Geschichte blieb Commander Visblat verschwunden, und die Anklage gegen Helena wegen Bordersville wurde fallen gelassen.
Lawrence hatte seiner Tochter immer wieder eingeschärft, keine illegale Handlung zuzugeben. Sie sollte entschieden abstreiten, dass sie ihre Waffe auf den Texas-Air-Piloten gerichtet und ihn aus dem Cockpit eskortiert hatte. Man würde behaupten, dass sie zu diesem Zeitpunkt gar keine Waffe gehabt habe, weil Wilson sie ihr abgenommen habe.
Der Jet erreichte die Reiseflughöhe, und die Stewardess nahm die Bestellungen fürs Frühstück entgegen. Helena beschäftigte sich, indem sie aufs Meer starrte.
Die Zeit verging.
Plötzlich verschwamm ihr die Sicht, und das Gefühl einer telepathischen Verbindung stellte sich ein. Die ganze Nacht hatte sie gehofft, dass es wieder geschehen würde. Aber diesmal war es anders: Ein blauer Dunst umgab das Bild, kein roter.
Wilson lehnte am Steuerrad eines Einmasters mit schwarzen Kevlarsegeln – einer Beneteau-Jacht. Die Wellen waren gewaltig. Während die Jacht in die dunkel türkisfarbenen Wellentäler stürzte, fegte der Wind mit Sturmstärke übers Deck. Die Gischt sprühte hoch in die Luft, wenn der Bug eine Welle teilte, und landete auf der anderen Seite in einem endlosen Kreis, immer und immer wieder.
Wilson fühlte das Ruder unter der Wucht des Windes zittern. Das Salzwasser brannte ihm im Gesicht. Es war belebend und beängstigend zugleich. Er hatte das Meer immer geliebt, aber noch nie so erlebt. Der Wellengang nahm stetig zu, und der Windmesser zeigte vierzig Knoten. Die Segel knarrten, das Boot krängte mächtig.
Helena verspannte sich, als sie die Szene verfolgte. Wenn Wilson einen Teil der Segel reffen würde, wäre das Boot leichter zu handhaben, aber sie hatte keine Möglichkeit, den Rat zu übermitteln. Die Beneteau stieg auf einen Wellenkamm, als Helena in der Ferne eine Insel aus dem Wasser ragen sah. Sie verschwand, sowie sich das Boot ins Tal neigte, um einen Augenblick später wieder zu erscheinen, als der nächste Kamm erreicht wurde.
Wilson hielt hart darauf zu.
Helena verkrampfte die Finger um die Armlehnen. Sie hatte das Gefühl, brutal auf und nieder zu gerissen zu werden. Dann war die Vision schlagartig vorbei. Sie machte die Augen auf und schaute sich ängstlich um. Zum Glück waren alle mit Essen beschäftigt. Helena sprang von ihrem Sitz auf und lief zum gegenüberliegenden Fenster. Wilson war nah – sie konnte es spüren. Da, in der Ferne, lag die Insel, auf die er zuhielt. Sie suchte mit Blicken das Wasser ab. Kein Segler war zu sehen. Er musste direkt unter ihnen sein.
»Dad«, begann sie zuckersüß und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. »Da drüben ist eine Insel, die ich mir gerne näher ansehen würde. Hast du was dagegen, wenn wir ein bisschen tiefer fliegen?« Lawrence wirkte abgeneigt, doch sie schaltete ihren töchterlichen Charme ein, ehe er ablehnen konnte. »Bitte, Dad, es würde mir viel bedeuten.« Ihre Stimme war wie Sirup. »Wir haben doch keine Eile. Nur fünf Minuten, ja? Mehr nicht.«
Lawrence drohte mit seinem Buttermesser. »Aber nur einen kurzen Blick, junge Dame!«
Helena schloss die Cockpittür, nahm sich ein Headset und setzte sich hinter die beiden Piloten. »Warren, da drüben liegt eine Insel.« Sie zeigte rechts aus dem Fenster. »Ich habe gerade mit meinem Vater gesprochen, wir würden sie uns gerne aus der Nähe ansehen.«
Captain Lewis war sehr entgegenkommend. »Sicher, Helena«, sagte er und schaltete die automatische Steuerung aus.
»Ich habe auch ein hübsches Segelboot gesehen«, meinte sie. »Vielleicht könnten Sie einen Vorbeiflug wagen. Das macht Ihnen doch nichts aus?«
Er drehte den Kopf zu ihr und sagte gutgelaunt: »Ganz sicher nicht. Es wird mir sogar Spaß machen.« Er übernahm das Steuer, um Fahrt zurückzunehmen. »Ich hörte, Sie haben in Mexiko ein kleines Abenteuer erlebt.«
»So kann man es nennen«, meinte sie ausweichend.
»Nun … es freut mich, dass Sie wieder in Sicherheit sind.« Er bedachte sie mit einem flüchtigen Lächeln.
Der Jet flog in sanften Kurven zum Meer hinab, das im Fenster immer deutlicher und blauer wurde. Als sie in einer weiteren Kehre nach Osten flogen, kam ein schwarzes Kevlarsegel in Sicht.
»Das ist es!«, sagte Helena aufgeregt. Die Jacht zog stark zur Seite geneigt durch die Wellen. An Deck war ein einzelner Mann zu sehen. Helena fasste an die Fensterscheibe, als wollte sie hinausgreifen.
Wilson hörte das Flugzeug erst, als es fast neben ihm war. Er wischte sich die Gischt von den Augen und sah es vorbeisausen, sehr tief und nur ein paar Hundert Meter entfernt. Er hatte auf tausend Dinge zu achten; stattdessen klebte sein Blick an der Hand, die gegen die Cockpitscheibe gedrückt wurde.
Er hatte keinen Zweifel, wem diese Hand gehörte.
Ein seltsames Gefühl der Sicherheit durchströmte ihn. Er wusste jetzt, dass Helena ihn überall finden würde, selbst hier draußen auf dem offenen Meer. In diesem Moment brach eine Riesenwoge, eine wahre Wasserwand, über den Bug der Nummer 23, hüllte Wilson ein und drohte ihn über Bord zu spülen. Die Wucht des Wassers trieb ihm den Atem aus der Lunge, doch sein Lächeln blieb.
Helena fühlte die Kälte der Scheibe an der Handfläche. Sie war glücklich und traurig zugleich. Die übersinnliche Verbindung zwischen ihr und Wilson war nicht zu leugnen, und das war beruhigend. Sie sehnte sich seine Nähe herbei.
Die Cockpittür schwang auf, und Lawrence erschien in der Öffnung. »Das reicht, Warren«, sagte er gebieterisch. »Man wartet auf uns.«
»Nein, Moment noch!«, widersprach Helena, um noch eine Sekunde herauszuschlagen.
»Ich sagte, das reicht!«, schnauzte Lawrence. »Zurück nach Houston.«
Wilson beobachtete, wie das Flugzeug aufstieg und dem Horizont entgegenflog. Nummer 23 tauchte in ein neues Wellental. Eine schäumende blaue Wasserwand rauschte über den Bug und raste das Deck entlang auf ihn zu, um seinen geschwächten Körper in den durchnässten Kleidern zu überschütten. Helena war wieder fort – und Wilsons Lächeln ebenfalls.