2.
Houston, Texas
Memorial Apartments, 16. Etage
25. November 2012
Ortszeit: 7.11 Uhr
Unternehmen Jesaja – erster Tag
Warmes Sonnenlicht flutete durch das hohe Erkerfenster.
Helena lag auf der Bettdecke. Ihr Flanellpyjama war vom unruhigen Schlaf verdreht. Sie hob das Glas Wasser vom Nachttisch, warf sich eine rote Pille in den Mund und spülte sie hinunter. Ich hasse Pillen, dachte sie. Die am Abend machten sie schlapp und müde, die am Morgen sollten sie munter machen.
Als sie sich den ausgewachsenen Pony hinters Ohr schob, fiel ihr der ungewöhnliche Traum ein, der sie in der Nacht gequält hatte. Sie nahm ein Kissen und drückte es an sich wie eine Lieblingspuppe. Die Bilder waren grotesk und dabei sehr realistisch gewesen.
Das Telefon klingelte. Die Nummer auf dem Display gehörte der Familie. Helena fasste sich, ehe sie abnahm. Sie tat ihr Bestes, um munter zu klingen.
»Guten Morgen, Dad.«
»Wie geht es dir, meine Liebe?«
»Ausgezeichnet.« Das Gegenteil war der Fall. »Und dir?«
»Gut, gut.« Das sagte Lawrence immer.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja, ja. Kann nicht klagen. Ich rufe nur an, um zu fragen, wie es dir geht.«
»Mir geht’s gut«, sagte sie knapp. Sie wünschte sich sehr, ihm erzählen zu können, was sie gerade durchmachte, aber sie wusste, das würde alles nur verschlimmern.
»Kommst du heute ins Büro?«, fragte er.
Helena war seit mehr als einer Woche nicht mehr da gewesen; zögernd antwortete sie: »Ja, wahrscheinlich.«
»Großartig!« Er klang freudig überrascht. »Wir können die Pläne für das Recida-Village-Projekt abschließen. Freitag ist letzter Termin. Das weißt du, nicht wahr?«
»Hast du mich deshalb angerufen? Um mir zu sagen, ich soll zur Arbeit kommen? Das ist ungeheuerlich!«
Lawrence’ Stimme wurde hart. »Helena … entspann dich.« Es folgte ein langes Schweigen. »Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht so reagieren würdest. Das war nicht der Grund meines Anrufs.«
»Und was ist der Grund?«
Wieder herrschte Schweigen. Dann sagte ihr Vater freundlich, als hätte er sich eigens Zurückhaltung abgerungen: »Ich wollte fragen, wie es mit deinen Therapiesitzungen bei Dr. Bennetswood läuft.« Seine Stimme klang vorsichtig.
Die Frage ließ Helenas Zorn auflodern, doch diesmal hielt sie ihn zurück. Schließlich sagte sie: »Es geht mir schon viel besser. Wirklich.« Das war keine überzeugende Antwort, und sie wusste es.
»Wann gehst du wieder zu ihm?«
»Am Freitag, denke ich.«
»Schläfst du?«
»Nicht viel.«
Erneutes Schweigen.
»Glaubst du, die Sitzungen nützen etwas?«
»Was soll das werden, Dad? Ein Verhör?«
In entschiedenem Tonfall erwiderte er: »Warum bist du immer so ausweichend?«
»Du hast dich noch nie für meine Therapie interessiert«, sagte sie. »Ich weiche nicht aus.« Auf ihren Vater wütend zu sein war keine Lösung. »Ich muss jetzt los, Dad. Wir sehen uns im Büro.« Ohne auf eine Antwort zu warten, legte sie auf. Das war die einfachste Methode, mit der Situation fertig zu werden.
Helena verbrachte die nächsten paar Minuten damit, ihre Unterhaltung Wort für Wort durchzugehen. Es ärgerte sie, dass ihr Vater anrief, um über Geschäftliches zu reden und sofort nach ihrer Behandlung zu fragen, als sie sich darüber aufgeregt hatte. Er hält mich für verrückt. Er hat keine Ahnung, was ich durchmache. Niemand will mir helfen. Sie berichtigte sich: Niemand kann mir helfen.
Sie warf das Kissen beiseite und sprang aus dem Bett.
Sie fühlte sich allein.
Die Aussicht aus dem sechzehnten Stock war herrlich: der weite Rasen des Emerald Parks gesprenkelt mit Bäumen, durchzogen von schwarz geteerten Fahrradwegen. Die Morgensonne stand tief am Himmel und warf lange Schatten nach Westen. In der Ferne markierte eine Gruppe Wolkenkratzer das Geschäftsviertel Houstons.
Helena blieb am Fenster stehen und schaute hinaus. Sie wollte Antworten, mehr nicht. Die Antwort darauf, warum sie diese hartnäckigen, unerklärlichen Träume hatte.
Sie wusste nicht, dass der Grund für ihre verrückten Halluzinationen nur ein paar Kilometer entfernt um sein Leben rannte – Wilson Dowling, der durch die Zeit in Helenas Welt gereist war. Dadurch sollten die Dinge noch viel verrückter werden.
Helena wandte sich ab und stieg die Stufen zum Badezimmer hinauf, knöpfte den Pyjama auf und ließ ihn auf den Boden fallen. Helena Rainsford Capriarty betrachtete sich im Spiegel. Rainsford war der Mädchenname ihrer Mutter, und Helena nannte ihn mit Stolz, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Ihre Haare waren blond, ziemlich hell im Ton und schulterlang geschnitten – wie bei ihrer Mutter –, und ihr Lächeln enthüllte makellose weiße Zähne. Sie warf kritische Blicke auf ihre nackte Haut, um nach einer Unvollkommenheit zu suchen. Doch da war nicht viel zu finden. Jahrelanges Schwimmen und Joggen hatten ihren 29-jährigen Körper in Bestform gebracht. Doch ihre gute Form war geerbt, wie alles andere auch. Sie aß, was ihr schmeckte, einschließlich Junkfood. Sie drehte sich um und musterte ihre Rückseite. Ein paar Stunden pro Woche auf dem Laufband waren nötig, befand sie.
Es duftete nach frischen Blumen, als sie in die Glaskabine griff und das Wasser aufdrehte. Es schoss heiß aus dem Duschkopf und hüllte die Kabine in Dampf, noch bevor Helena hineinstieg. Sie gab nicht gern zu, dass sie Probleme hatte – nie. Darum drehte sie die Dinge so, wie sie ihr passten. Sie hatte keine Probleme, nur Fragen. Nach der gleichen Methode beurteilte sie sich als resolut, nicht stur. Willensstark, nicht aufbrausend. Lebhaft, nicht überspannt.
Während das dampfende Wasser auf ihre Schultern prasselte, überdachte sie ihre Situation. Die Träume machten es unmöglich, zur Ruhe zu kommen. Manchmal waren die Visionen furchterregend. Seit Wochen hatte sie nicht mehr als drei Stunden an einem Stück geschlafen. Sie stellte das Wasser ein bisschen heißer ein, sodass es sie fast verbrühte. Der Schlafmangel machte sie reizbar, und jeder in ihrer Umgebung bekam das zu spüren. Ihre Beziehung mit Jensen war in die Brüche gegangen; infolgedessen war ihr Sexualleben auf dem Nullpunkt.
Ein paar Minuten später kam Helena in einem schwarzen Flanellmorgenmantel aus dem Bad, die Haare ordentlich zurückgekämmt. Dr. Bennetswood vertrat die Theorie, dass ihre Halluzinationen durch posttraumatischen Stress verursacht seien. Wenn sie emotional Abstand nahm, verstand sie, dass das für ihn ein logischer Schluss war, doch sie wusste, dass er sich irrte. Es war eine bewusste Entscheidung, den Vorfall mit ihrer Mutter auszublenden. Helena hatte ihr Leben unter Kontrolle – so glaubte sie – und nahm es jedem übel, der etwas anderes andeutete.
Ein Frühstückstablett stand jetzt auf ihrem Nachttisch – Müsli, frisches Obst, Vollkorntoast. So stand es jeden Morgen um 7 Uhr da.
Helena flüsterte: »Vielleicht werde ich verrückt.«
»Du bist nicht verrückt«, widersprach unerwartet eine weibliche Stimme.
Helena fuhr erschrocken herum.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, Bambina.« Julia Jimenez hatte einen spanischen Akzent und eine lebensbejahende Einstellung. »Aber dir fehlt Unterhaltung. Deshalb bin ich hier.« Julia war eine gemütlich wirkende Frau, klein und kräftig. Obwohl Ende fünfzig, hatte sie noch immer lange dunkle Haare mit ein paar grauen Strähnen, die sie zu einem ordentlichen Knoten frisiert hatte. Sie trug ein schwarzes Dienstbotenkleid mit einer schlichten weißen Schürze.
Julia arbeitete schon seit über zwanzig Jahren für die Capriartys. »Ich habe schon auf dich aufgepasst, als du noch ein Baby warst«, sagte sie immer. »Du hattest hübsche Pausbäckchen.« Als Helena damals von zu Hause ausgezogen war, hatte Lawrence entschieden, dass Julia seine Tochter begleiten solle. Das war jetzt gut drei Jahre her. Julia hatte keine eigenen Kinder und behandelte Helena, als gehöre sie zur Familie. Helena empfand genauso, doch Julia konnte ihr häufig auf die Nerven gehen, und manchmal war die Stimmung gereizt. Sie kannten sich zu gut, um auf Förmlichkeit Wert zu legen, und so wurde es manchmal hitzig.
Helena reagierte unvermittelt. »Warum machst du das jedes Mal?«, rief sie. Es war zermürbend, wenn Julia erschien, ohne sich vorher bemerkbar zu machen. Helena tat ihr Ausbruch sofort leid. »Bitte entschuldige.« Verlegen schlug sie die Hände vor den Mund. »Ich wollte dich nicht anschnauzen.«
Julia zog Helena in den Arm. »Du kannst nichts dafür, was los ist. Es ist nicht deine Schuld.« Helena wurde steif wie ein Brett; sie mochte es nicht, angefasst zu werden. Peinliches Schweigen setzte ein, bis Julia sie losließ und auf das Tablett zeigte. »Du musst essen, si?«
Helena strich ihren Morgenmantel glatt. »Ich gehe heute zur Arbeit.«
»Du gehst zur Arbeit?« Julia wirkte überrascht.
Helena nickte. »Das habe ich vor.«
»Du musst dich entspannen. Schlafen. Sieh dir was im Fernsehen an.«
»Heute nicht. Ich gehe zur Arbeit.« Helena ging eilig ins Ankleidezimmer. Sie zwang sich, an das Recida-Village-Projekt zu denken. Ihr Vater hatte recht – sie hinkte weit hinterher. Das war okay. Sie mochte es, unter Druck zu stehen; das befreite sie von dem Übel, zu viel nachzudenken.
Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ich sehe müde aus, stellte sie fest. »Aber damit ist es gleich vorbei«, flüsterte sie. »Make-up schafft alles.« Sie setzte ihren eiskalten Blick auf. Ich kann das.
Helena suchte sich ihre Sachen zusammen, stieg die Stufen hinunter und warf sie aufs Bett. Als sie sich die Bluse anzog und zuknöpfte, blickte sie zur Uhr: 7.27. Wenn der Verkehr nicht so dicht war, konnte sie um Viertel nach acht im Büro sein.
Ganz plötzlich fühlte sie sich desorientiert.
Zuerst war es nur ein leichtes Schwindelgefühl, aber dann wurden ihre Beine schlapp, und sie fand sich auf den Knien wieder, die Hände auf den Teppich gestemmt, um nicht umzukippen. Ein roter Dunst beherrschte ihr Blickfeld. Dann bekam sie lebhafte Halluzinationen. Es war beängstigend. Sie wehrte sich gegen die Bilder, doch je heftiger sie sich dagegensetzte, desto klarer wurden sie.
In dem roten Dunst sah Helena sich selbst auf der Flucht. Entsetzt riss sie die Augen auf, um das vertraute Schlafzimmer vor sich zu sehen. Es war schwer, sich zu konzentrieren. Die Bilder schoben sich vor die Wirklichkeit.
Wie kann das sein?
Ein Polizist verfolgte sie! Helena rannte um ihr Leben.
Wie ist das möglich?
»Hilfe!«, rief sie und presste sich die Hände vors Gesicht, wie um die Bilder auszulöschen. »Hilf mir!«
Julia hörte sie und rannte zurück ins Schlafzimmer.
Der Polizist holte auf, mit gezogener Waffe! Helena bekam kaum noch Luft. »Ich sehe Dinge …«, jammerte sie, als sie Julia hinter sich spürte. »Jay Jay, ich sehe Dinge. O Gott!« In ihrer Vision kletterte sie einen hohen Maschendrahtzaun hinauf und ließ sich auf die andere Seite fallen.
Julia hielt sie fest. »Atme, Bambina. Atme!« Sie wiegte die zitternde junge Frau. »Bei mir bist du sicher, Bambina, du musst nur atmen.« Sie wiederholte das Mantra mit gleichmäßiger, ruhiger Stimme.
Die Worte klangen in Helenas Ohren und beruhigten sie.
Sie lief über eine stark befahrene Straße – eine Schnellstraße. Die Autos rasten an ihr vorbei, verfehlten sie nur um Zentimeter. Sie taumelte, stürzte hin, schrie vor Angst. In diesem Moment begriff sie, dass sie durch die Augen eines anderen sah, durch die Augen eines Mannes. Sie sah seine Beine und Füße. Er wischte sich übers Gesicht. Seine Hand war blutig.
Dann schleuderten Wagen auf ihn zu.
Der sichere Tod.
So plötzlich die Vision begonnen hatte, so plötzlich setzte sie wieder aus, und der rote Dunst verschwand.
Helena öffnete versuchsweise die Augen.
»Er ist tot«, flüsterte sie, als würde sie alles begreifen.
»Wer?«
»Der Mann.«
»Welcher Mann?«
»Der Mann, den ich gesehen habe.«
Julia zog die kraftlose Helena aufs Bett und deckte sie zu, als wollte sie sie mit dem weichen Bettzeug beschützen.
Mit kräftiger, zuversichtlicher Stimme, die ihre Besorgnis verbarg, sagte Julia: »Du bist hier sicher, Bambina.« Sie zog die Bettdecke glatt und steckte sie unter der Matratze fest. »Das ist nur ein schlechter Traum. Si. Wir werden nicht mehr darüber sprechen.«
Helena starrte an die Decke. Bisher hatte sie nur im Schlaf geträumt, doch jetzt kamen die Träume auch, wenn sie wach war. Seltsamerweise fühlte sie sich gelassen. Was sie gesehen hatte, war so wirklich gewesen. Und wenn es wirklich war, konnte sie damit umgehen.
Julia öffnete eine orangefarbene Glasflasche und schüttete sich zwei weiße Kapseln in die Hand. »Nimm die. Davon wirst du schlafen.«
Helena drehte sich weg. »Nein, ich will keine Pillen.«
Julia blieb eisern. »Du musst.«
»Nein, Jay Jay, ich will sie nicht!« Helena brauchte Zeit zum Nachdenken. Sie kannte die Stelle, wo sich der Unfall ereignet hatte. War es möglich, dass alles, was sie gesehen hatte, wirklich passiert war? Hatte sie eine telepathische Verbindung zu jemandem? War sie Hellseherin?
Julia hielt das Telefon hoch. »Dann rufe ich Dr. Bennetswood an!«
Helena sah die resolute Miene ihrer Haushälterin. Julia meinte es ernst. »Ich schlucke die Pillen«, sagte Helena, nahm sie und steckte sie in den Mund.
Julia legte das Telefon wieder hin. »Dann rufe ich nicht an, aber ich sollte! Du schläfst jetzt, si?«
Helena trank einen großen Schluck Wasser. »Si.«
»Gut.«
Als Julia sich umdrehte, spuckte Helena die Pillen unters Kopfkissen. Sie brauchte jetzt einen klaren Kopf. Über ihre Visionen gab es etwas herauszufinden.
Auf einen Schalterdruck schoben sich die automatischen Vorhänge über das Fenster und schlossen den hellen Morgen aus. Das Zimmer wurde fast stockdunkel. Julia zog sich einen Sessel ans Bett, setzte sich und strich Helena sanft über die Stirn. Das hatte sie immer getan, als ihr Schützling noch klein gewesen war.
Dabei führte Helena sich das Bild der Schnellstraße vor Augen. Sie wusste, wo der Unfall passiert war; sie war sich ganz sicher – in der Nähe der Westheimer-Überführung. Helena seufzte tief und machte die Augen zu. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich in vieler Hinsicht entspannt.