26.

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Mercury Building, Untergeschoss A5 – Mercury-Labor
15. Mai 2081
Ortszeit: 23.10 Uhr
8 Tage vor dem Transporttest

Andre war mächtig stolz, dass er jetzt den Laborkittel des Mercury-Teams trug. Für ihn war das ein Zeichen seines hohen Intellekts und ein Erfolg in seiner Karriere. Allein im Labor stand er vor einer Konduktorenbank, die zu dem Collider-Imploder-Mechanismus gehörte. Davin war längst zu Bett gegangen und hatte Andre zwanzig Aufgaben übertragen, die bis zum Morgen zu erledigen waren.

Die hufeisenförmige Konduktorbank, die permanent summte, war zehn Meter lang und drei Meter hoch. Dutzende weißer fiberoptischer Anzeigen leuchteten in gleichmäßigem Rhythmus an der Frontseite.

Andre war gerade mit der Feineinstellung des Sendemechanismus fertig geworden – der kritische Punkt, an dem die Konduktoren die Leistung auf das Maximum erhöhten, um den Inhalt des Transportbehälters in Partikel zu zerlegen. Er funktionierte jetzt reibungslos. Stirnrunzelnd hakte er wieder eine Aufgabe auf seiner Liste ab.

Das Labor war halb so groß wie ein Hallenfußballfeld. Die gewölbte schwarze Decke war am Rand drei Stockwerke und in der Mitte sechs Stockwerke hoch. Im Falle eines katastrophalen Fehlers – einer Explosion etwa – würde der Raum hydraulisch in sich zusammenstürzen, sodass das Gebäude imstande wäre, die Kraft einer Atomexplosion von vier Megatonnen zu absorbieren. Es war ein Meisterwerk der Ingenieurskunst.

Um vom Rest des Gebäudes unabhängig zu sein, hatte das Labor ein eigenes Belüftungssystem und Stromnetz. Es war zweifellos das ausgeklügeltste Testgelände der Welt. An der Westseite verlief eine dicke Glaswand. Hinter der bombensicheren Scheibe befanden sich diverse Kontrollbereiche und Beobachtungsstände – zu dieser Uhrzeit alle unbesetzt. In jeder Himmelsrichtung gab es einen Notausgang.

Über den Boden ausgebreitet lagen die Komponenten, aus denen nach den Plänen der Schriftrollen die Zeitmaschine zusammenzusetzen war. Weniger als die Hälfte war bislang verbaut worden.

Andre war tief in Gedanken, als ihn jemand unvermittelt an der Schulter fasste. Erschrocken sprang er zur Seite.

»Entspann dich, junger Mann«, sagte Jasper Tredwell. »Ich bin’s nur.« Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug aus italienischer Wolle und eine rote Seidenkrawatte. Eine Nelke in dem gleichen Rot steckte am Revers.

»Sie haben mich zu Tode erschreckt!«, keuchte Andre. Nervös spähte er nach irgendwelchen Begleitern, doch Jasper schien allein zu sein. »Was tun Sie hier, Mr. Tredwell? Sie dürfen sich im Transportbereich nicht aufhalten.« Bis der letzte Test abgeschlossen war, hatte nur das Mercury-Team Zutritt.

»Mach dir meinetwegen keine Gedanken«, flüsterte Jasper. »Du bist es, der gegen die Vorschriften verstoßen hat.« Seine schwarzen Lederschuhe scharrten leise über den weißen Zwischenboden.

»Ich habe nichts Falsches getan«, widersprach Andre abwehrend.

»Das sehe ich anders.«

In dem Jungen stiegen Zweifel auf. »Aber … was habe ich denn getan?«

»Du erfüllst deinen Teil der Abmachung nicht.«

»Ich habe doch alles getan, was Sie verlangt haben. Ich habe …«

Jasper wechselte das Thema. »Ist das die Zeitmaschine?« Er blickte zu einem dunklen Bereich in der Mitte des Raumes. Dort stand unter einem Tuch verborgen ein eiförmiges Gebilde von doppelter Mannshöhe.

Andre folgte Jaspers Blick. »Ja, das ist die Imploder-Kugel. Sie ist aus Kristall. Das Mercury-Team hat sechs Monate gebraucht, um sie zu bauen. Eine erstaunliche Konstruktion. Ohne die Baupläne aus dem Esther-Buch wäre das überhaupt nicht möglich gewesen.«

»Was sind das für Dinger?« Jasper zeigte auf Titanreifen, die auf dem Boden lagen.

»Inflator-Spulen. Sie rotieren außen um die Imploder-Kugel. Wir leiten mehrere Petawatt Strom hinein, und sie bilden ein schwaches Magnetfeld, das die Elektronenmaterie in der Kapsel hält. Dann kommt das sogenannte Z-Pinching.« Andre ballte die Fäuste. »Die Materie in der Kapsel wird stark verdichtet, damit sie plancksche Temperatur erreicht, die Kerne gegeneinanderprallen und ihre Protonen und Neutronen in Teile zerlegt werden, die als Quark-Gluonen-Plasma bekannt sind. Daraufhin steigt die Temperatur auf über zehn Billionen Grad. Übrigens sind das die gleichen Bedingungen, die eine Mikrosekunde vor dem Urknall herrschten.«

Jasper schaute gelangweilt. »Wann wird das alles fertig sein?«

»In den nächsten zwei Tagen, glaube ich. Mr. Tredwell, was soll das alles? Sie dürfen hier nicht rein, das wissen Sie.«

Jasper machte schmale Augen. »Ich bin bereits hier.«

»Sie bringen uns beide in Schwierigkeiten.«

Jasper drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht im Kreis. »Das ganze Zeug muss ein Vermögen gekostet haben.« Er wandte sich wieder dem Teenager zu und kam zum Punkt. »Ich brauche mehr Informationen.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

Jasper trat näher. »Warum ist Mr. Dowling im Vitrinensaal?«

Andre überlegte kurz. »Ich weiß es nicht.«

Jasper beugte sich über ihn. »Ich habe ihn die Schriftrollen lesen sehen.«

»Wilson kann sie nicht lesen«, behauptete Andre kategorisch. »Auf gar keinen Fall.«

»Warum ist er überhaupt noch hier?«

Andre wurde nervös. »Ich bin zu Barton gegangen und habe ihn auf das EEG aufmerksam gemacht, wie Sie gesagt haben. Ich habe ihm gesagt, dass Dowling von der nächsten Phase ausgeschlossen werden sollte. Aber er wollte nicht auf mich hören.«

»Du warst nicht beharrlich genug.«

»Ich glaube eher, ich habe ihn zu sehr gedrängt. Wir müssen vorsichtig sein, Mr. Tredwell. Aber es spielt keine Rolle. Magnus Kleinberg hat die Tests glänzend bestanden. Barton hat also noch einen anderen Gen-EP-Kandidaten. Wir können den Prozess nicht noch weiter verzögern.« Dann kam ihm ein Gedanke. »Nur aus Interesse: Wie haben Sie Wilson im Vitrinensaal gesehen?«

»Über das Überwachungssystem.«

»Das dürfen Sie nicht benutzen, Mr. Tredwell«, protestierte Andre.

Jasper zuckte die Achseln. »Das kümmert mich nicht.«

»Data-Tran zeichnet genau auf, wer sich Zugang verschafft. Wer beim Spionieren erwischt wird, wird strafrechtlich verfolgt. Sogar Sie.«

»Nicht ich«, widersprach der distinguierte Herr. »Aber du solltest dir Sorgen machen.«

Andre war verwirrt. »Wie meinen Sie das?«

»Ich habe dein Passwort benutzt.«

Der Junge wurde blass. »Warum haben Sie das getan?«

Jasper trat einen Schritt zurück. »Wir haben eine Abmachung, junger Mann, und du erfüllst deine Hälfte nicht.« Jasper war vollkommen gelassen. »Keine Angst, Andre, ich sorge dafür, dass deine kleine Indiskretion mit dem Überwachungssystem nicht bemerkt wird. Vergiss nicht, ich habe meinen Einfluss geltend gemacht, um dich bei Enterprise Corporation unterzubringen. Das gibt mir gewisse Rechte an dir. Aber du musst deine Gegenleistung erbringen.« Jasper blickte den Jungen eindringlich an. »Barton hat etwas vor – und ich will wissen, was es ist. Deine Aufgabe ist es, mir dabei zu helfen.«

»Aber warum haben Sie mein Passwort benutzt?«

»Andre, man will uns austricksen. Erkennst du das nicht?« Jasper rückte wieder näher heran. »Hör zu, junger Mann, ich will, dass du Erfolg hast. Du sollst es bis ganz nach oben schaffen. Eines Tages könntest du der Leiter des Mercury-Teams sein, wenn du deine Karten richtig ausspielst.«

Andre verstand sich auf Karten – es war Zeit, sein Ass aus dem Ärmel zu ziehen. »Barton hat neulich etwas erwähnt, das mich überrascht hat«, sagte er unschuldig. »Etwas von einem Auftrag …«

Karin zog ihren Firmenausweis durch den Leser, und die Tür öffnete sich klickend. Sie hörte Stimmen aus dem angrenzenden Raum und erstarrte. Das Labor sollte eigentlich unbesetzt sein. Leise schloss sie die Tür. Sorgfältig in Deckung bleibend, bog sie um die Ecke zu dem Beobachtungsstand, um von dort durch die Glaswand zu spähen. Im Labor standen Jasper Tredwell und Andre Steinbeck. Sie redeten miteinander.

Was tun sie da?, wunderte Karin sich.

Sie wusste, dass selbst den Tredwells der Zutritt zum Transportbereich verboten war. Leider war die Glaswand dreißig Zentimeter dick, und Karin konnte nicht hören, was gesprochen wurde. Aber da es ihre Art war, jede Chance zu nutzen, konzentrierte sie sich auf die Körpersprache der beiden.

»Barton war im Badezimmer«, sagte Andre, »und unterhielt sich mit Mr. Dowling. Ich weiß, das ist ein merkwürdiger Ort dafür. Ich habe gelauscht. Barton sagte etwas von verschlüsselten Daten im Buch Jesaja.« Der Teenager kratzte sich am Hinterkopf. »Vielleicht hat er wirklich etwas vor. Etwas Seltsames. Das Buch Jesaja hat nichts mit den Bauplänen für die Zeitmaschine zu tun.«

»Warum hast du mir das nicht sofort erzählt?«, sagte Jasper verärgert.

Wie aufs Stichwort schwammen Andres Augen in Tränen. »Es tut mir leid, Mr. Tredwell. Wirklich. Ich hatte Angst.« Er schniefte. »Wenn Barton wüsste, dass ich Ihnen das verrate, würde er mich bestimmt rauswerfen.« Der Junge wischte sich die Augen und gab sich Mühe, es nicht zu übertreiben. »Ich würde alles verlieren, wofür meine Mutter und ich so hart gearbeitet haben.«

Jasper durchschaute das Schauspiel sofort; er war selbst ein Meister der Täuschung. Doch wenn es seinen Zwecken diente mitzuspielen, hatte er nichts dagegen. »Vergiss nicht, Andre, dass ich der beste Freund bin, den du hier hast.«

»Ich weiß, Sir. Wirklich.«

»Nun reiß dich zusammen.« Jasper deutete auf die Silhouette der Transportkapsel. »Du hast recht daran getan, es mir zu sagen. Das Buch Jesaja, sagst du? Offenbar steht etwas Wichtiges drin. Du musst für mich herausfinden, was es ist, Andre. Es bleibt nicht viel Zeit.«

»Nur noch acht Tage bis zum Transport«, sagte Andre.

»Ganz recht. Berichte mir so schnell wie möglich.«

»Aber ich habe nicht einmal genug Zeit, um alle Aufgaben zu erledigen, die mir aufgetragen wurden. Und jetzt noch diese … ich weiß nicht …« Das war seine Art zu fragen: Was ist für mich drin?

Jasper lächelte verschlagen. »Wenn man Barton etwas tut, das nicht zum Besten der Firma ist, fliegt er aus dem Team. Dann steht es ohne Chef da. Und du wirst gut positioniert sein, Andre. Und mit meiner Hilfe – wer weiß?« Das war die Antwort eines Politikers, der nichts versprach, aber alle Hoffnungen weckte.

Karin beobachtete, wie Jasper zum hinteren Ausgang ging. Zu ihrer Verwunderung führte Andre einen Freudentanz auf, sobald Tredwell verschwunden war, und stieß die Fäuste in die Luft, als hätte er soeben das große Los gezogen.

Da war etwas Seltsames im Gange, und Karin war entschlossen, dahinterzukommen.