15.

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Enterprise Corporation, Mercury Building
10. Mai 2081
Ortszeit: 20.21 Uhr
13 Tage vor dem Transporttest

Wilson folgte Barton Ingerson durch ein Labyrinth von Gängen und Treppenfluchten an verschiedenen Kontrollstellen vorbei ins Innere des Gebäudes. Sie gingen fünf Minuten lang. Barton hatte kein Wort gesagt, seit sie den Besprechungsraum verlassen hatten – es schien, als gäbe er sich keine Mühe mehr, freundlich und zuvorkommend zu sein. Das Schweigen war zermürbend.

Schließlich blieb der Wissenschaftler stehen und drückte die Handfläche auf ein rechteckiges Sicherheitsfeld. Ein grünes Licht leuchtete auf, und eine Stahltür hob sich vom Boden. Sie betraten einen kleinen, leeren Raum. Wilson wusste nicht, was er erwarten sollte, als die Tür sich zischend hinter ihnen schloss. Er spürte irgendetwas Ungewöhnliches und rieb nervös die Finger gegeneinander. Die Luft war pulvertrocken.

Barton trat vor die Tür an der gegenüberliegenden Wand. »Wir befinden uns in einer Luftentfeuchtungskabine.«

Das würde es erklären – aber warum? Als die zweite Stahltür sich hob, schlug Wilson eine seltsame Energie entgegen. Er fühlte ein Flimmern in der Brust, ein Beben im Herzen. Das Licht war so grell, dass Wilson die Augen zusammenkniff. Er wurde in einen großen, hell erleuchteten Kuppelraum gezogen. Reihenweise Glastische – Vitrinen – standen dort sorgfältig ausgerichtet wie gleichmäßig gekippte, riesige Dominosteine.

In den Vitrinen lagen Hunderte bräunlicher Dokumente aus Pergament und Leder, flachgedrückt von Glasscheiben. Manche besaßen eine eigentümliche Form, andere waren stark beschädigt. Jeder Quadratzentimeter ihrer spröden Oberfläche war mit alten Schriftzeichen in schwarzer Tusche bedeckt. Es waren hebräische Buchstaben.

Barton beendete das Schweigen. »Die Schriftrollen vom Toten Meer. Die neununddreißig Bücher des Alten Testaments. Das ist der Grund, warum wir beide hier sind.«

Wilson legte die Hände auf einen der Glastische.

»Diese Schriftstücke sind über zweitausenddreihundert Jahre alt«, sagte Barton. »Man kann sagen, sie sind die bedeutendsten Dokumente der Weltgeschichte.«

Wilson kannte die Schriftrollen und ihre Bedeutung genau. Er hatte viel darüber gelesen. »Ich dachte, sie lägen im Rockefeller Museum in Jerusalem.«

»Das ist richtig«, bestätigte Barton. »Und es liegen auch Pergamente im Schrein des Buches.« Der Schrein des Buches in Jerusalem war eigens zur Aufbewahrung sakraler Schriften errichtet worden. »Beide Institutionen haben Kopien – zeitweise zumindest. Diese hier sind die Originale.«

Wilson betrachtete einen hebräischen Text. »Wie ist das möglich?«

»Das Rockefeller Museum gehört der Enterprise Corporation«, antwortete Barton. »Und die übrigen Rollen sind aus dem Schrein des Buches entliehen – wir sind dessen größte Gönner. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass sich die komplette Schriftrollensammlung außerhalb des Nahen Ostens befindet, seit sie 1947 in den Höhlen am Toten Meer entdeckt wurde.«

Ohne es zu wissen, blickte Wilson auf das Buch Jesaja. Die Rolle war acht Meter lang und nur fünfundzwanzig Zentimeter breit. Sie lag in einer einzigen Vitrine. Da er wusste, dass Hebräisch von rechts nach links geschrieben wurde, ging er an das rechte Ende und betrachtete die Schriftzeichen. Die Ausführung war unglaublich. Wilson holte tief Luft. Er spürte, dass eine Energie davon ausging, die in seinem Kopf zu summen schien. Die Schriftrollen mussten echt sein. Eine andere Erklärung gab es nicht.

»Sie wurden von einem Beduinen entdeckt«, sagte Barton, »von einem Jungen namens Mohammad. Er suchte nach einer verirrten Ziege. Das Gebiet bei Jericho, nordwestlich des Toten Meeres, ist als die Wüste von Judäa bekannt. Der Junge warf einen Stein in eine Höhle zwischen den hohen Felsen. Zu seinem Erstaunen hörte er den Klang von Tonscherben in der Tiefe. Bei weiterer Nachforschung fand der Junge mehrere große Krüge mit Lederrollen, die in Leinen gewickelt waren. Die Krüge waren luftdicht verschlossen gewesen, und der Inhalt befand sich nach mehr als 1900 Jahren in ausgezeichnetem Zustand. Diese Höhle bekam die Nummer eins unter den Qumran-Höhlen.«

Es wurden insgesamt elf Höhlen entdeckt, die mehr als vierzigtausend Fragmente in unterschiedlichem Erhaltungszustand enthielten. Sie gehörten zu über fünfhundert einzelnen Abschriften der neununddreißig Bücher des Alten Testaments.*

Wilson stellte sich das Bild vor … die felsige Wüste in Israel, den Hirtenjungen in der traditionellen Beduinenkleidung, die hohen Tonkrüge mit den alten Schriftrollen. Er fragte sich, was der Junge gedacht haben mochte, als er in die dunklen Höhlen hinuntergeklettert war.

Barton fuhr fort: »Die Schriftrollen wurden von heiligen Männern geschrieben, der Bruderschaft von Khirbet Qumran, zwischen 200 vor Christus und 68 nach Christus. Die Legende behauptet, diese Männer seien Heilige gewesen, die auf die Erde gekommen seien, um die Lehren Gottes aufzuzeichnen, gelehrte Männer von unermesslicher Weisheit, die sich der Keuschheit, der Armut und der Lehre Gottes verpflichtet hatten. Sie arbeiteten vierzehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.« Barton schwieg kurz. »Es hieß, ihren Lohn würden sie nach dem Tod empfangen.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Ihr Leben ist in der Damaskusschrift und den Gesetzesvorschriften dargelegt, die ebenfalls hier liegen.«

Wilson stellte sich vor, wie die hochgebildeten Männer aussahen, ihre geschorenen Köpfe, die blasse Haut, wie sie in fließenden weißen Gewändern an ihrer Staffelei saßen und das Wort Gottes niederschrieben.

»Das Faszinierende an diesen Schriften ist ihr Alter«, sagte Barton. »Es sind die ältesten noch existierenden Bibelhandschriften, von denen wir wissen.« Er hielt kurz inne. »68 nach Christus drangen römische Soldaten in die heilige Siedlung von Qumran ein, als direkte Folge des ersten jüdischen Aufstands von 66 nach Christus, als das jüdische Heer, geführt von Josephus, die zwölfte Legion besiegte, die Garnison in Jerusalem. Für die Römer war das eine demütigende Niederlage. Ihre Soldaten wurden allesamt erschlagen, und die Standarte der zwölften Legion, ein Adler aus massivem Gold, wurde erbeutet. Kaiser Nero war erzürnt über die jüdische Vergeltungsmaßnahme und setzte die ganze Macht Roms ein, um sich zu rächen. Er schickte Vespasian, seinen besten Heerführer, und die fünfte, zehnte und fünfzehnte Legion, mehr als 16.500 Berufssoldaten, damit sie Judäa überrollen und die Herrschaft über die Region zurückgewinnen. Während dieser Ereignisse wurden die Schriftrollen in den Höhlen versteckt. Dort blieben sie unangetastet – zweitausend Jahre lang.«

Römische Legionen mit dem Auftrag, Judäa zurückzuerobern, die alles vernichten, was ihnen in den Weg kommt – einschließlich der Siedlung von Qumran, der Heimat der Schriftrollen. Wilson starrte auf die Schriftzeichen auf dem Pergament, und unerklärlicherweise entnahm er den Worten ihren Sinn.

Es hätte ihn erschrecken müssen. Stattdessen kam es ihm ganz natürlich vor.

Er las einen Namen laut: »Tobit …« Wilson schlenderte zu einer anderen Vitrine. »Leviticus …« Und zu einer weiteren. »Psalmen …« Er konnte den hebräischen Text mühelos lesen!

»Sie haben soeben drei Schriftrollen benannt«, sagte Barton verblüfft. »Woher können Sie das?«

Wilson war fassungslos. Er wusste es selbst nicht.

Barton näherte sich der Vitrine mit fragendem Blick. »Woher können Sie das?«, fragte er noch einmal.

Wilson stand schweigend da, mit ratloser Miene. »Ich weiß auch nicht …«

»Sie haben es jedenfalls nicht erraten können.« Die Vitrinen waren nicht beschriftet.

»Ich weiß es nicht!« Wilson rieb sich die Augen. »Das muss ein Zufall gewesen sein.«

»Meiner Erfahrung nach gibt es so etwas nicht«, erwiderte Barton ernst. »Der Zufall ist nur ein Wegweiser des Schicksals.« Unerwartet zeigte er ein warmes Lächeln.

Wilson schritt die gesamte Länge der Jesaja-Vitrine ab und blieb am Textende stehen. Er wollte Abstand von Barton. Er konzentrierte sich auf die Buchstaben und übersetzte mühelos: »Denn wie der neue Himmel und die neue Erde, die ich schaffen will, vor mir bestehen werden, spricht der Herr, so wird euer Geschlecht und euer Name bestehen bleiben. Neumond um Neumond …«

Er konnte den Text verstehen!

Wilson fuhr zu Barton herum. »Was haben die Qumran-Rollen mit Zeitreisen zu tun? Oder wollen Sie mich nur mit Ihrem Geld beeindrucken?«

Barton zeigte zur anderen Seite des Raumes. »Die Antwort liegt dort – im Buch Esther.«

In der letzten Reihe lag in einer Vitrine eine sehr gut erhaltene Schrift, wahrscheinlich die am besten erhaltene der ganzen Sammlung.

Wilson trat näher heran. »Ich dachte, das Buch Esther fehlte bei den Qumran-Funden.** War das nicht das einzige Buch des Alten Testaments, das nicht bei den anderen lag?«

»Ich muss schon sagen, Sie stecken voller Überraschungen, Wilson.« Barton schien beeindruckt. »Sie haben vollkommen recht. Es wird allgemein angenommen, dass das Buch Esther in Jerusalem gefunden wurde. Aber das ist nicht der Fall. Es ist ein wohl gehütetes Geheimnis, dass auch eine Abschrift in den Höhlen am Toten Meer gefunden wurde.«

»Warum sollte man daraus ein Geheimnis machen?«

»Weil Esther die umstrittenste der Schriften ist … und in mancher Hinsicht auch die bedeutendste.«

Wilson legte die Hände auf die Glasscheibe und las in dem vollständig erhaltenen Text. Es war tatsächlich das Buch Esther, wie Barton gesagt hatte.

»Und wieso ist es die bedeutendste Schrift?«, fragte Wilson.

»Weil das Geheimnis der Zeitreise darin enthalten ist. Verschlüsselt in dem Text befindet sich die detaillierte Beschreibung, wie man ein Zeitportal baut und es mit Hilfe des Magnetfelds der Erde benutzt.«

Wilson starrte Barton an, als hätte er einen Verrückten vor sich. In diesem Moment, als er vor den legendären Qumran-Rollen und dem Buch Esther stand, das eigentlich gar nicht existieren dürfte, begriff Wilson, dass es nicht um seine Omega-Programmierung ging. Hier ging es um etwas anderes, etwas unglaublich Bedeutendes.

Barton wirkte ernster denn je. Dann blickte er auf die Uhr. »Übrigens, Wilson, Ihre zwanzig Minuten sind um.«

Houston, Texas

Hauptbahnhof

26. November 2012

Ortszeit: 15.13 Uhr

Unternehmen Jesaja – zweiter Tag

Eine Nachricht plärrte durch die Lautsprecher und riss Wilson aus seinem Tagtraum. Selbst jetzt empfand er noch tiefe Ehrfurcht, wenn er daran dachte, wie er zum ersten Mal vor den Qumran-Rollen gestanden hatte. Dass er sie hatte lesen können – vor zwei Wochen, siebzig Jahre in der Zukunft – machte ihn noch immer fassungslos. Es war ein Augenblick gewesen, der sein Leben völlig verändert hatte.

Er hinkte zum Bahnsteig achtunddreißig, während sein Magen knurrte. Die Mahlzeit bei George hatte seinen Hunger kaum stillen können. Hoffentlich gab es im Zug etwas zu essen.

Vom unbeleuchteten Durchgang aus stieg er langsam die Treppe hinauf. Die Wände waren mit Graffiti besprüht, und ein stechender Gestank hing in der Luft. Die Sonne blitzte auf den Schienen, als ein orangefarbener Pendlerzug auf einem anderen Gleis einfuhr. Seine Türen öffneten sich, die Wagen waren leer.

Die Türen schlossen sich wieder, und der Zug rollte aus dem Bahnhof.

Eine weggeworfene Zeitung, die im Wind flatterte, erregte Wilsons Aufmerksamkeit. Auf der ersten Seite war ein vertrautes Gesicht abgebildet.

Ein sehr vertrautes.

Wilson blickte auf sein eigenes Konterfei – eine Zeichnung seines Gesichts!

»Was soll das denn?«, flüsterte er.

Die Schlagzeile des Houston Chronicle lautete: Fahndung nach Serienmörder. Darunter stand:

Ein Mann, der für den Tod von vierzehn Menschen im Südwesten der Vereinigten Staaten verantwortlich ist, hält sich angeblich in Houston auf. Der Täter, der schwer verletzt sein soll, hat seit seinem Erscheinen erneut zugeschlagen. Officer Tolle von der Polizei in Houston kam ums Leben, als er bei einem vorsätzlichen Angriff überfahren wurde.

Vierzehn Menschen? Vorsätzlicher Angriff? Wilson schaute nervös über die umliegenden Bahnsteige. Zum Glück blickte niemand in seine Richtung. Sie glauben, ich bin verletzt. Darum wurde ich vor dem Bahnhof nicht festgehalten. Er las weiter: »Commander Visblat, Chef der Houstoner Polizei, sagte: ›Dieser Mann ist ein gemeiner Mörder. Wir werden ihn mit allen Mitteln verfolgen.‹«

Da war noch ein Mann abgebildet.

Wilson hatte dieses unvergessliche Gesicht schon gesehen – zweimal. Es war der rothaarige Hüne.

Während er auf das Bild starrte, überlegte er, warum ein so hochrangiger Polizist – Commander Visblat – sich solch eine Lüge ausdenken sollte.

Dann fiel ihm die Fahrkartenverkäuferin ein. Ihre Hände hatten vor Angst gezittert. Hier stimmte etwas nicht – er war in eine Falle gelaufen! Er hinkte an die Bahnsteigkante, sprang hinunter und verschwand in der Dunkelheit des Eisenbahntunnels.