7.
Houston, Texas
Bezirksrettungsdienst 33, Ecke Kirby Drive & McNee Road
25. November 2012
Ortszeit: 20.02 Uhr
Unternehmen Jesaja – erster Tag
Eine schrille Sirene hallte durch die Straßen, und ein alternder weißer Rettungswagen erschien; die blau-roten Dachlampen flackerten in der Dunkelheit. Es war früher Abend, und die Straßen waren verlassen. Ohne vor der roten Ampel abzubremsen, fuhr der Wagen weiter, holperte über einen Buckel, legte sich in eine scharfe Rechtskurve und beschleunigte wieder.
In der hinteren Kabine brachte der Ruck Wilson wieder zu Bewusstsein. Er war verwirrt, und ihm war übel. Er versuchte die Augen zu öffnen, sah aber nur Dunkelheit. Ein seltsam vertrauter Geschmack lag ihm auf der Zunge. Es war schwierig, sich zu bewegen, und wenn er es versuchte, schoss Schmerz durch seinen Körper. Offenbar waren seine Hände gefesselt. Ringsherum war Bewegung. Wilson zerrte an den Fesseln.
»Strengen Sie sich nicht an, Junge«, rief eine männliche Stimme. »Sie machen es nur schlimmer.« Der Mann war Amerikaner und hatte einen starken Südstaatenakzent. Dennoch versuchte Wilson, sich aufzusetzen, und die Schmerzen wurden noch heftiger. Dann erkannte er den Geschmack, den er im Mund hatte: Blut – klebriges Blut.
»Ich sagte doch, nicht bewegen«, meldete sich die Stimme wieder. Der Sanitäter zog den Gurt um Wilsons Brust straffer, damit er sicherer auf der Liege lag.
Wilson war an Oberkörper, Kopf und Beinen dick verbunden. Seine Kleidung war überall zerrissen. Er hatte mehrere Brüche – Rippen, Oberschenkel –, und seine Beine waren geschient. Am rechten Arm bekam er eine Infusion. Mehr als die Hälfte seiner Hautflächen war abgeschürft, weil er bei dem Unfall unter einem Fahrzeug mitgeschleift worden war.
Der Sanitäter bereitete die Injektion eines Beruhigungsmittels vor.
»Ich kann nichts sehen«, sagte Wilson.
»Wie heißen Sie?«, fragte die Stimme. »Sagen Sie mir Ihren Namen.«
»Ich kann nichts sehen«, wiederholte Wilson.
»Keine Bange, ist nur der Verband. Sie haben einen Schlag auf den Kopf bekommen. Jetzt antworten Sie. Das ist sehr wichtig: Sind Sie krankenversichert?«
»Versichert?«, murmelte Wilson. Er schmunzelte – seine Versicherung würde frühestens in fünfzig Jahren gelten. Das fand er irgendwie lustig.
»Sind Sie versichert?«, fragte der Mann wieder.
Eine Schmerzwelle brandete durch Wilson hindurch, stechender als vorher, als würden ihm tausend Messer in den Rücken und in die Beine gestoßen und langsam herumgedreht. Insgesamt fand er die Situation doch nicht so lustig.
»Sie werden sich wünschen, Sie hätten eine«, sagte die Stimme.
Der Rettungswagen fuhr in eine enge Kurve, und Wilson wurde gegen die Gurte gedrückt. Augenblicklich schmerzten ihn ein paar zusätzliche Körperstellen. Er sehnte sich die Bewusstlosigkeit zurück.
Der Sanitäter betrachtete seinen Patienten von oben bis unten; angesichts der Menge an Morphium, die er ihm schon verabreicht hatte, war es erstaunlich, dass der Mann überhaupt noch sprechen konnte. Noch einmal 15 ml sollten ihren Zweck erfüllen, entschied er. Er tippte gegen die Kanüle, damit die Luftbläschen aus der Flüssigkeit wichen, stemmte sich gegen die Fahrbewegungen und setzte die Nadel an den Schlauch an, der von Wilsons linkem Arm hing.
Die Schmerzen kamen und gingen in Wogen, stärker und stärker, und zwangen Wilson zu kurzen, flachen Atemzügen. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Gleichzeitig wünschte er sich, von der permanenten Qual befreit zu werden. Egal wie.
»Ich sollte nicht einmal hier sein«, wimmerte er.
Der Rettungswagen rumpelte über eine Bodenfurche.
Die Schmerzen waren überwältigend …
Sydney, Pacifica
Billboard Nightclub, Glebe Point Road, Glebe
23. Mai 2080
Ortszeit: 23.27 Uhr
281 Tage vor dem Transporttest
Im Hintergrund wummerte laute Musik. Der Club war überfüllt und verraucht. Wilson saß auf einem Barhocker neben Professor Julius Author. Ringsherum tanzten Leute bei schummriger Beleuchtung. An der Decke blitzten Disco-Lampen zur Musik von Bony M. Es war Oldie-Nacht – Hits aus dem vergangenen Jahrtausend.
Ohne zu fragen goss der Barkeeper zwei Gläser Wodka ein und schob sie nach vorn. Wilson spürte, wie die interaktive Kreditkarte in seiner Tasche vibrierte und ihn wissen ließ, dass ihm zwei weitere Drinks berechnet wurden.
»Warum muss ich immer bezahlen?«, fragte er.
Professor Author antwortete: »Weil Sie das Vergnügen meiner illustren Gesellschaft genießen.«
»Sie sind betrunken.«
»Ja, Wilson. Ich glaube, Sie haben recht.«
Julius Author war Stammgast im Billboard. Drei Abende die Woche konnte man ihn auf demselben Hocker sitzen sehen, wo er doppelte Wodkas mit Eis in sich hineingoss. Der »Professor«, wie er sich gern ansprechen ließ, war ein brillanter Mann. Doch mit Brillanz geht häufig Exzentrik einher, und er hatte von beidem reichlich. Die Universität Sydney, an der er als Neurologe forschte, war mit ihm in Hassliebe verbunden. Man fand, er sei zu begabt, um ohne ihn auszukommen, aber viel zu befremdlich, um ihn auf die Studenten loszulassen. Wilson würde dem als Erster zustimmen.
Der Professor war Anfang fünfzig und nicht gerade der bestaussehende Kerl der Welt. »Unschön« nannte Wilson ihn. Seine krausen, von Grau durchzogenen Haare standen ab, als hätte er gerade in eine Steckdose gefasst.
Albert Einstein, mit dem er eine verblüffende Ähnlichkeit hatte, war das Vorbild des kleinen Mannes. Wie dieser trug er stets die gleiche Kleidung: dunkelblaue Hosen, weißes Oberhemd, weiße Sneaker, weiße Socken. Auch seine Unterwäsche war immer gleich. Er besaß von allem sieben Stück. Er zitierte gern den Nobelpreisträger und sagte, er habe dadurch eine Entscheidung weniger am Tag zu treffen, und wenn man das über eine Lebensspanne addiere, seien das Millionen von Gedankengängen, die man auf etwas Wichtigeres verwenden könne.
Wilson kannte den Professor seit vielen Jahren, seit er sich um eine Stelle als Laborassistent beworben hatte. Damals war er darauf angewiesen, nebenher Geld zu verdienen, und hatte sich um einen Platz in der neurologischen Abteilung beworben. Er bekam die Stelle nicht, doch von dem Tag an wurden sie feste Freunde. Freundschaften sind manchmal seltsam. Die beiden waren in vieler Hinsicht verschieden. Abgesehen von zwanzig Jahren Altersunterschied hatten sie unterschiedliche Begabungen, stammten aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, und es gab auch keine gemeinsamen Interessen – und doch waren sie hier. Jeden Freitag trafen sie sich im Billboard, tranken die gleichen Drinks und führten die gleichen Unterhaltungen und Auseinandersetzungen.
Wilson hielt sein Glas hoch. »Das ist mein letzter, dann verschwinde ich. Ich habe für morgen eine Vertretung übernommen.«
»Jura ist so langweilig!«, äußerte der Professor. »Wie schaffen Sie es, wach zu bleiben?«
»Das liegt an meinem Gehirn«, erwiderte Wilson und stellte sein Glas ausgetrunken auf die Theke.
»Allerdings.« Der Professor nickte. »Da haben Sie recht.« Das war keinesfalls ein Kompliment. »Jeder verabscheut Juristen, wissen Sie das? Sie sind Parasiten.«
»Das ist mein Stichwort«, sagte Wilson und stand auf. »Ich bin dann mal weg!«
»Nein!«, widersprach der Professor energisch. »Wir müssen noch über einige Dinge reden.« Er zog Wilson wieder zu dem Hocker.
»Ich kann es mir nicht mehr leisten, mit Ihnen zu trinken, Professor. Es liegt nicht am Geld; es ist zu hart für mein Ego.«
»Die nächste Runde geht auf mich«, nuschelte der Professor.
»Sie würden nicht mal auf Ihrer Beerdigung einen ausgeben.«
»Ach, Unsinn!« Er bedeutete dem Barkeeper, Wilson noch einen einzuschenken.
»Hören Sie, ich muss gehen«, sagte Wilson. »Wirklich, ich muss noch einiges durcharbeiten. Ich bin mächtig in Verzug.« Der frische Drink wurde trotzdem über die Theke geschoben.
Der Professor beugte sich zu Wilson vor und blickte ihn starr an. »Situation normal, Junge. Und wissen Sie was … das können wir ändern.«
Wilson hatte das Gefühl, er würde wieder einen Weltanschauungssermon zu hören bekommen.
Und schon ging es los …
»Wissen Sie, was eine Gottesschatulle ist?«
Wilson krümmte sich – nicht die Gottesschatulle!
»Sie sitzt in Ihrem rechten Schläfenlappen.« Der Professor zeigte auf Wilsons Stirn. »Sie ist bei Leuten aktiv, die brillant sind. Jeder Mensch hat eine Gottesschatulle, aber nur die sehr begabten haben die Fähigkeit, sie zu nutzen.« Der Professor tätschelte Wilson den Kopf. »Ihre Gottesschatulle ist hier, vor Ihrem Gehirn.«
Verärgert ob der Berührung, wich Wilson zurück.
»Haben Sie gewusst«, fuhr der Professor fort, »dass der durchschnittliche Mensch nur zehn Prozent seiner Hirnkapazität nutzt? Da bleiben neunzig Prozent, die nichts zu tun haben. Das ist enorm viel Brachland.«
Wilson kannte den nächsten Satz auswendig: Die Gottesschatulle ist der Schlüssel. Sie ist eine Quelle mentaler Kraft.
»Die Gottesschatulle ist der Schlüssel«, sagte der Professor. »Sie ist eine Quelle mentaler Kraft.«
»Sie ist illegal, erinnern Sie sich!«, platzte Wilson heraus.
Der Professor blickte bestürzt drein. »Wer hat Ihnen das eingeredet?«
»Sie.«
»Die Gottesschatulle wird häufig erwähnt, Wilson.« Der Professor kam nicht aus dem Takt. »Sie ist so wirksam, dass jeder, der sie sich nutzbar zu machen lernt, unbegreifliche Fähigkeiten erlangt.«
»Klar«, warf Wilson ein, der mit seiner Geduld am Ende war. »Und vor drei Jahren hat die medizinische Gemeinschaft Experimente an diesem Bereich des Gehirns verboten. Sie haben das auch erwähnt.«
Der Professor sah sich schwankend in der Bar um. »Wann hat uns das je abgehalten?« Wilson machte Anstalten, aufzustehen, aber der Professor drückte ihn wieder auf den Sitz. »Ich habe eine neue Theorie. Jawohl, eine neue Theorie!«
Wilson schluckte den letzten Wodka und knallte das Glas auf die Theke. Seine Kreditkarte vibrierte unerwartet; der Barmann hatte schon die nächste Runde eingeschenkt. Wilson beugte sich zu ihm und zog sich demonstrativ die Handkante über die Kehle. »Das ist mein letzter! Ich möchte zahlen!«
»Ich mache Ihnen das größte Angebot Ihres Lebens«, sagte der Professor und stach mit dem Finger auf Wilsons Arm ein.
»Das könnte uns beide ins Gefängnis bringen. Oder noch Schlimmeres.« Wilson zeigte auf die anderen Gäste und fügte hinzu: »Ich bin der einzige Freund, den Sie haben! Wenn Sie mein Gehirn zu Bohnenstroh machen, werden Sie hier allein sitzen müssen. Jawohl, ganz allein.«
»Ich würde Sie trotzdem mitnehmen.«
»Oh, das ist tröstlich.«
»Ja, das werde ich!« Die Blicke des Professors huschten wieder durch die Bar. »Es ist ungefährlich, wissen Sie.« Er beugte sich vor und flüsterte Wilson ins Ohr: »Weil ich eine Methode gefunden habe, die Gottesschatulle ohne Chirurgie zu stimulieren.«
Wilson hatte Mühe, ihn zu verstehen. »Warum reden Sie so leise?«
»Die Universität hat überall Spione«, flüsterte der Professor weiter.
»Wer sollte Sie denn hier hören können?« Die Musik war wummernd laut. »Und überhaupt … kommen Sie nicht so nah. Ihr Atem ist nicht der frischeste.« Es war eine üble Mischung aus schalem Alkohol und Zwiebeln.
Doch der Professor beugte sich noch näher heran. »Ich habe letzte Woche ein bisschen nichtinvasive Omega-Programmierung betrieben«, erzählte er weiter. »An einer Ratte, Wilson. Sie hätten sehen sollen, was passiert ist.«
»Ich will es gar nicht wissen …«
»Sie werden körperliche Fähigkeiten haben, die Sie sich nicht einmal vorstellen können.« Der Professor kippte sein Glas hinunter und wandte sich dem nächsten zu. »Jedenfalls ist das etwas völlig Neues für mich. Für jeden ist das etwas völlig Neues. Es ist ein zerebrales Programm – das heißt, keine Gefahr der Abstoßung.«
»Wissen Sie noch, was beim letzten Mal passiert ist, als ich Ihnen bei einem Experiment geholfen habe?« Wilson nickte übertrieben. »Ich hatte einen Monat lang Kopfschmerzen! Ja, das wissen Sie noch, nicht wahr? Ich jedenfalls habe es nicht vergessen!«
Der Professor fegte die Bemerkung wie ein lästiges Insekt beiseite. »Das war ein Fehler, ich gebe es zu. Aber diesmal … diesmal ist es das Richtige. Verstehen Sie nicht? Die Gottesschatulle ist diesmal nur die Kraftquelle. Sie werden fähig sein, ihre körperliche Leistung zu beeinflussen, indem Sie ein paar Befehle aussprechen. Ich habe die Forschung abgeschlossen! Es wird keine Nebenwirkungen geben – jedenfalls keine allzu schlimmen. Kommen Sie, Wilson. Ich würde Sie nicht bitten, wenn ich nicht wüsste, dass es völlig sicher ist.«
»Lassen Sie mich überlegen.« Wilson sah an die Decke. »Hmm.« Er schwieg ein paar Augenblicke. »Okay, Professor … die Antwort lautet Nein.«
Enttäuscht ließ der kleine Wissenschaftler die Stirn auf die Theke sinken.
»Ich bin Ihr Freund«, sagte Wilson. »Aber diesmal … auf keinen Fall.«
Der Professor packte Wilsons Arm. »Mein Freund, ich weiß, dass es klappt!« Er versuchte zu lächeln, war aber zu betrunken. »Ich kann doch unmöglich auf die Straße gehen und einen Freiwilligen anwerben!« Sein Gesicht wurde noch zerknautschter. »Diese gemeinen Hunde an der Universität«, wieder senkte er die Stimme, »versuchen, mir meine Arbeit zu stehlen. Ich weiß es!« Er konzentrierte sich. »Ich bitte Sie um einen Gefallen, Wilson.«
»Warum können Sie nicht um einen normalen Gefallen bitten?«
»Ein Gefallen ist ein Gefallen.«
»Das ist ein Gehirnexperiment!«
»Na und?«
Wilson schüttelte den Kopf. »Sie sind noch betrunkener, als ich dachte.«
»Werden Sie es tun?«
»Ich dachte, wir sind Freunde«, sagte Wilson und versuchte es auf die Moralische.
Der Professor stand auf. »Vielleicht sind wir es doch nicht!« Er war ein wenig wacklig auf den Beinen. »Wissen Sie was? Es hat seine Gründe, dass Jenny Jones Sie verlassen hat. Ich weiß, warum. Ich werde es Ihnen sagen, weil Freunde ehrlich miteinander sein sollten. Sie sind mittelmäßig, Wilson! Sie sind langweilig! Ihr Stipendium läuft schon seit …« Er zählte an den Fingern ab. »Fünf Jahren! Sehen Sie sich an, Mann. Jenny Jones hat recht, wenn sie Sie wegen diesem Kerl verlassen hat.«
Die Musik wummerte weiter.
»Der andere Kerl ist nämlich interessanter als Sie«, fügte der Professor hinzu.
»Er ist auch Jurist!«
»Ich kann nicht glauben, dass ich Ihnen sechs Monate lang zugehört habe, wie Sie über«, er machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »Jenny Jones reden, Ihre große Liebe. Es war eine Tortur, Junge. Sie war also eine gute Nummer, na und?«
»Ich bin nicht langweilig!«, konterte Wilson. »Nehmen Sie das zurück.«
»Ich gebe auf, Wilson. Ja, ich geb’s auf.« Der Professor verschwand zwischen den Gästen.
Wilson starrte auf die Eiswürfel in seinem Glas. Minuten verstrichen. Konnte da etwas Wahres dran sein? Vielleicht war es Zeit, über seinen Platz in der Welt nachzudenken. Er lief immer in derselben Spur – das war ihm klar – wie eine springende Plattennadel, die ständig dieselbe Liedzeile abspielt. Eigentlich wusste er, wenn er ganz ehrlich war, dass etwas fehlte, etwas Entscheidendes; er wusste nur nicht, was es war, oder vielleicht auch: wer.
Stunden später ging Wilson nach Hause. Er wohnte in der Nähe des Campus in einem ehemaligen Bürohaus, das in ein Studentenwohnheim umgewandelt worden war. Alles war so vertraut, dass er nicht einmal zum Aufzug schaute, an dem ein Schild hing: »Außer Betrieb«. Solange er dort wohnte, hatte das Ding nicht funktioniert.
Wilson strebte auf die Treppe zu und stieg die vierzehn Stockwerke zu Fuß hinauf. Als er seine Tür aufschloss, saß Professor Author da und rauchte eine Zigarette.
»Oh, wunderbar …« Wilson gab sich Mühe, nicht überrascht zu erscheinen. »Wie sind Sie hereingekommen?« Er prüfte das Schloss, aber es schien in Ordnung zu sein. »Ich verstehe … ein kleiner Teil meines Egos ist noch intakt, darum ist Ihre Arbeit noch nicht erledigt.«
Der Professor schwang mit dem Drehstuhl herum. »Das ist eine großartige Aussicht.«
Wilson blickte über die Skyline von Sydney, die in der Ferne leuchtete. »Ja, es lohnt sich immer wieder, sich diese verdammten Treppen hochzuschleppen.«
»So weit würde ich nicht gehen«, meinte der Professor, »aber es hält Sie fit, nehme ich an.«
Das geräumige Einzimmerapartment war sparsam möbliert. Es gab ein Sofa, einen Flachbildfernseher und einen Kühlschrank voller Bier. Auf dem Boden stapelten sich Pizzakartons und Magazine. Auf einem Bücherregal standen drei Bilderrahmen, ein Foto von Wilsons Pflegeeltern, Jean und Ian Stradbroke, vor Uluru. Ein zweites von seinem Großvater – seinem leiblichen Großvater, William Dowling, aufgenommen kurz vor seinem Tod. Wilson hing sehr an diesem Foto. Der dritte Rahmen war leer. Das Foto von Jenny Jones hatte er zerrissen und in den Mülleimer geworfen.
Der Professor schnippte die Asche der halb gerauchten Zigarette auf eine Untertasse. »Das ist eine Bruchbude hier.« Er redete gar nicht mehr wie ein Betrunkener. »Danken Sie dem Himmel für die Aussicht.« Er zog an der Kippe.
»Sie machen mir andauernd Komplimente heute Abend.«
»Ich bin hergekommen, um mich zu entschuldigen.«
»Gut. Entschuldigung angenommen. Und jetzt verschwinden Sie.« Wilson zeigte auf die Tür, aber der Professor rührte keinen Muskel.
»Im Ernst – es tut mir leid, was ich gesagt habe. Ich bin zu weit gegangen.«
»Sie haben gesagt, ich bin langweilig!«
»Ja. Tut mir leid.«
»Langweilig!«
»Es tut mir leid!«
Wilson schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, was mich sauer macht?« Er hielt inne und überlegte, wie ehrlich er sein sollte. »Dass Sie vielleicht recht haben könnten. Das ist wirklich ärgerlich.«
»So spielt das Leben.« Der Professor lächelte. »Es bringt mich zum Lachen.«
»Mich bringt es zum Weinen.« Wilson nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank, eins für jeden.
»Meine Omega-Programmierung«, sagte der Professor ruhig, »Sie müssen Sie für mich testen.« Rauch schwebte von seinen Lippen. »Ich schwöre Ihnen, die Universität hat den Verdacht, dass ich mit meiner Forschung fast am Ziel bin. Sie wollen sie mir wegnehmen. Die gemeinen Hunde.«
»Wissen Sie«, Wilson ließ ein Lächeln aufblitzen, »Sie sind viel fesselnder, wenn Sie nüchtern sind.«
Der Professor brauchte dreißig Minuten und sechs Zigaretten, um Wilson zu erklären, wie das Verfahren funktionierte. Die Programmierung war nichtinvasiv, also ohne Operation; die Gottesschatulle wurde aktiviert, indem mit hochfrequentem Ultraschall auf die Stirnlappen des Gehirns gezielt wurde. Wilson erfuhr von einem Marinesoldaten am Radargerät, der wegen einer Fehlfunktion seiner Anlage auf See kodierten Ultraschallwellen ausgesetzt wurde. Als er nach drei Monaten zurückkehrte, hatte sein IQ sich enorm erhöht. Die Marine hatte eine vorläufige Untersuchung durchgeführt, die allgemein bekannt war, doch als Folge hatte die Weltgesundheitsorganisation sämtliche Gehirnuntersuchungen verboten.
Der Professor setzte die Forschungen dort fort, wo die Marine aufgehört hatte. Er hatte die Apparaturen, die finanziellen Mittel, das Können und – was noch wichtiger war – die Anonymität, um zu tun, was er wollte. So hatte er sich in den letzten zwei Jahren mit der Frage beschäftigt, wie die Ultraschallwellen zu programmieren waren, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.
Wilson traute der Universität einen Ideendiebstahl zu, besonders wenn man dort der Meinung war, die riskante Phase sei abgeschlossen, und nun könne man ans Geldverdienen denken. Es hörte sich an, als hätte die Sache militärischen Nutzen. Wilson rauchte eigentlich nicht, griff jedoch nach einer Zigarette und steckte sie sich zwischen die Lippen.
»Gut, dass einem die Dinger nicht schaden«, meinte er. »Wenn ich im Stress bin, kann ich eine ganze Packung rauchen.« Bis vor fünfundzwanzig Jahren hatte das Rauchen Krebs erzeugt; dann hatte Enterprise Corporation die gefährlichen Stoffe aus der Zusammensetzung entfernt.
»Sie haben mir besser geschmeckt, als sie noch geschadet haben«, erwiderte der Professor. »Für mich hatte es einen Reiz, etwas Krebserregendes zu rauchen. Aber ich schätze, es ist ein schlechtes Geschäft, wenn man seine besten Kunden umbringt.«
»Augenscheinlich schmecken sie noch genauso«, sagte Wilson und inhalierte.
»Diese Blutsauger bei Enterprise Corporation haben den ganzen Spaß verdorben. Sie haben die Triebfeder des Rauchens vernichtet. Die sollten alle eingesperrt werden, weil sie es so harmlos gemacht haben. Was für eine Verschwendung.«
»Warum haben Sie so einen Hass auf die Firma?«
Der Professor musste nicht lange überlegen. »Sie repräsentieren das Establishment, Wilson. Glauben Sie mir – man darf ihnen nicht trauen. Die wollen uns alle in Watte packen, damit wir unsere medizinischen Ausgaben senken, ein makelloses Leben führen, zwei, drei Kinder in die Welt setzen und niemals Ärger machen. Das ist widerlich! Ich bin Anhänger der Chaostheorie: leben, lachen, verwegen sein, bis zum Äußersten gehen. Carpe diem.« Er legte eine Pause ein. »Darum will ich, dass Sie diese Omega-Sache für mich tun. Verstehen Sie denn nicht – das ist unsere Chance, es den Bürokraten so richtig zu zeigen. Und ich würde Sie nicht bitten, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass es klappt. Wir beide können etwas bewirken.«
»Und wenn es nicht klappt?«
»Es klappt ganz sicher. Vertrauen Sie mir!«
»Mir gefällt Ihre Zuversicht, Professor, aber manchmal ist sie fehl am Platz.« Eigentlich war Wilson vom Selbstvertrauen des kleinen Mannes verblüfft. Er scherzte häufig, Professor Authors Selbstbild sei so phantastisch, dass er glaubte, ein Gesicht wie Errol Flynn und den Körper eines Olympioniken zu haben. Leider lag die Wahrheit ein bisschen daneben. So weit daneben, dass man sie mit dem Fernglas nicht mehr ausmachen konnte.
»Sie sollten das wirklich für mich tun«, sagte der Professor. »Es ist Ihr Schicksal, mein Freund zu sein. Und glauben Sie mir – manchmal kann ich verstehen, dass es sehr schwer ist. Vielleicht ist es auch Ihr Schicksal, mir bei dieser Sache zu helfen.«
Schicksal … Diese Bemerkung löste etwas aus, und Wilson kamen unerwartete Erinnerungen in den Kopf. Er ging an den Schreibtisch, zog die oberste Schublade auf und holte eine große Silbermünze hervor. »Mein Großvater hat sie mir geschenkt, als ich noch klein war. Er sagte, das ist meine Schicksalsmünze.« Wilson starrte auf das glänzende Metall, mit dem mehr Fragen als Antworten verbunden waren.
Der Professor schnappte ihm die Münze weg.
»Das ist ein ägyptisches Pfund«, sagte Wilson. Auf der Vorderseite waren die Pyramiden von Gizeh aufgeprägt. Die andere Seite war stark eingedellt, als hätte jemand sie mit einem Hammer bearbeitet.
»Was ist damit passiert?«
Wilson schaute hin. »Keine Ahnung. Ich glaube, mein Großvater wusste es auch nicht.« Wilson zeigte auf die entstellten Umrisse eines Gesichts. »Das ist die damalige Königin von England. Elizabeth II. Sie sieht ein bisschen zerrupft aus.« Wilson nahm die Münze und rieb sie liebevoll zwischen den Fingern. »Mein Großvater sagte immer: Die Münze wird dich führen. Seltsam, nicht?«
»Wir sollten sie werfen. Mal sehen, was kommt«, sagte der Professor begeistert.
Wilson blickte auf die Münze, und sein Herz schlug schneller. Bisher hatte ihr wichtigster Verwendungszweck darin bestanden, ihm bei der Entscheidung zwischen Pizza und chinesischem Essen zu helfen. Nicht gerade lebenswichtig. Es war seltsam, aber sein Großvater hatte stets behauptet, die Münze würde sich nie irren, und er solle dem Schicksal vertrauen, das sie ihm bescherte.
»Wenn ich gewinne«, sagte Wilson, »bitten Sie mich nie wieder um diese Omega-Sache. Das meine ich ernst. Nie wieder!«
»Und wenn ich gewinne«, sagte der Professor, »unterziehen Sie sich der Programmierung.«
Wilson wollte nicht allzu eingehend über die Konsequenzen nachdenken, falls er verlor. Doch so irrational es auch war, aus irgendeinem Grund vertraute er der Münze und seinem Großvater und war zutiefst überzeugt, dass beide auf ihn aufpassten.
»Die Königin ist Kopf«, sagte Wilson. »Die Pyramiden sind Zahl. Sie sind dran.«
Er warf die Münze hoch, und die Stimme des Professors durchdrang die Stille …
»Zahl.«
Die Münze schien unnatürlich lange in der Luft zu schweben; das Licht blitzte auf ihrer glänzenden Oberfläche. Im Fallen drehte sie sich um sich selbst. Wilson fragte sich flüchtig, ob dies der Scheideweg seines Lebens war, doch ehe er zu einer Antwort fand, fing er die Münze auf und schlug sie auf seinen Handrücken. Nachdenken nützte jetzt nichts mehr – sein Schicksal war besiegelt.
»Zahl, Zahl, Zahl«, beschwor der Professor sein Glück.
Wilson hob die Hand – die Pyramiden von Gizeh lagen oben.
Houston, Texas
Bezirksrettungsdienst 33, Stirling Drive, Harris County
25. November 2012
Ortszeit: 20.16 Uhr
Unternehmen Jesaja – erster Tag
Der Rettungswagen bremste ab, als Wilson aus seinem Traumzustand erwachte. Starke Schmerzen durchrasten ihn, und er konnte nichts sehen. In einem Moment geistiger Klarheit flüsterte er seinen Omega-Befehl: »Aktiviere Nachtigall.«
Augenblicklich bekam er das Gefühl, in einem sehr heißen Bad unterzutauchen. Wilsons Blutdruck verdreifachte sich, als eine Mischung aus Animoseren, Dopamin und Protein durch seinen Körper strömte. Endorphine dämpften seine Sinne, als seine Produktion von roten und weißen Blutkörperchen in den Schnellgang schaltete. Die qualvollen Schmerzen verschwanden wie von Zauberhand.
»Das ist Ihre letzte Gelegenheit«, sagte die Stimme. »Ich brauche Ihren Namen.«
Der Rettungswagen wendete; Wilson spürte die Richtungsänderung. Dann schwangen die Hecktüren auf, und kalte Nachtluft strömte ins Innere. Die Räder seiner Liege rasteten klickend aus. Irgendwo hörte er ein Kind weinen.
Der Rettungswagen war am Harris-Bezirkskrankenhaus angekommen. Der Sanitäter blickte nach draußen, wo eine Schlange von Menschen am Eingang der Notaufnahme stand. Viele waren blutüberströmt von Schusswunden; es waren Männer, Frauen und Kinder. Ein vierjähriger Junge rief nach seiner Mutter und jammerte verzweifelt.
Ein müde aussehender Arzt in einer blutbespritzten Plastikschürze näherte sich dem Rettungswagen.
»Was ist los?«, fragte der Sanitäter.
»Wir hatten eine Schießerei im Einkaufszentrum«, berichtete der Arzt. »Das dritte Mal diesen Monat.« Er zog sich die Handschuhe aus und warf sie beiseite. »Ein heilloses Chaos. Aber egal, was haben wir hier?«
Der Sanitäter unterschrieb ein Formular; dann bemerkte er plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Darauf stand: Ms Winter, Geschlecht: w, Alter: 42, ohne festen Wohnsitz.
Er blickte hastig auf das Schild um Wilsons Handgelenk. Darauf stand: John Doe.
Das verkehrte Formular!
»Was ist?«, fragte der Arzt ungeduldig. »Auf mich warten Patienten.«
Der Sanitäter blickte auf die Uhr; es war fast Feierabend. Das falsche Formular bedeutete auf jeden Fall eine Fahrt zum Mercy-Krankenhaus, um den Fehler zu beheben. Und wenn sie dort das richtige Formular und den falschen Patienten hatten – das wäre dann noch schlimmer.
»Alles in Ordnung«, antwortete der Sanitäter, während er die Angaben mit blauem Kugelschreiber überschrieb: John Doe, Geschlecht: m, Alter: unbekannt, ohne festen Wohnsitz.
Es spielte sowieso keine Rolle; keiner von beiden war krankenversichert. »Ein John Doe, überstellt von der Mercy-Privatklinik«, sagte er. »Soviel ich weiß, wurde ihm in den letzten zwölf Stunden bei drei Krankenhäusern die Behandlung verweigert.«
»Da hat er aber Glück, dass er in dieses Höllenloch geschickt wird«, meinte der Arzt sarkastisch.
»Er hat keinen Ausweis bei sich und ist nicht versichert.« Der Sanitäter übergab das Formular. »Nach allem, was ich von den Pflegern im Mercy aufschnappen konnte, wurde er heute Morgen überfahren. Scheint einen Schädelbruch zu haben. Und seine Beine sind gebrochen. Ich vermute, das Pflegepersonal hat ihn gut geschient. Ein paar Rippen sind auch gebrochen, dazu hat er Hautabschürfungen, aber er wird es überleben. Er hat Kochsalzlösung, Nährstoffe und alle dreißig Minuten 25 ml Morphium bekommen.«
»Innere Verletzungen?«
»Nicht sicher. Ich weiß nur, dass weder eine Röntgenaufnahme noch eine Kernspintomographie gemacht wurde. Der arme Kerl ist unterwegs zu Bewusstsein gekommen. Ich habe versucht, seinen Namen zu erfahren, aber er schien nicht ganz bei sich zu sein, darum habe ich ihm noch eine Dosis Morphium gegeben – 15 ml.«
Der Arzt klemmte das Formular an sein Notepad. »Ich hoffe, das genügt, damit er bewusstlos bleibt, denn bei diesem Andrang wird er lange warten müssen, bis wir ihn drannehmen können.«
»Daran können wir nichts ändern«, sagte der Sanitäter wegwerfend.
Im Hintergrund rief das Kind weinend nach seiner Mutter.
Der Arzt winkte, um die Aufmerksamkeit einer Krankenschwester zu erlangen; dann zeigte er auf Wilsons Rollbahre. »Bringen Sie den Patienten …«, er blickte auf seine Warteliste und teilte ihm die nächste Nummer zu, »den Patienten 456 in einen Warteraum auf Stock eins. Er wird warten müssen, bis wir den Rückstau abgearbeitet haben.« Der Arzt blickte auf das Gewühl in der Notaufnahme. »Könnte sich jemand um den weinenden Jungen kümmern?«, rief er. »Er macht mich noch wahnsinnig!«
Der Sanitäter schloss die Hecktüren und sprang auf den Beifahrersitz. »Was für ein Murks«, sagte er. »Wir haben wieder den falschen Patienten bekommen.« Die beiden wechselten einen vielsagenden Blick. »Bloß weg hier, bevor jemand uns zur Rede stellt.«