44.

Salisbury Plains, England
A344, zwei Meilen von Stonehenge
21. Dezember 2012 – Nullpunkt
Ortszeit: 15.49 Uhr
Unternehmen Jesaja – siebenundzwanzigster Tag

Der kürzeste Tag des Jahres, die Wintersonnenwende, neigte sich dem Ende zu. Durch einen Riss in den Wolken überschwemmte die untergehende Sonne die Landschaft mit Rot. Mit hoher Geschwindigkeit flitzten zwei Scheinwerferkegel über den Horizont, tauchten hinter einen Hügel und erschienen erneut in der rötlichen Glut, als der Wagen durch die englische Landschaft raste.

Der Porsche jaulte, als er nach und nach heruntergeschaltet wurde, und hielt schließlich vor einem hohen, verschlossenen Tor. Die Stoßstange an der Absperrung, schob er sich durch leichtes Gasgeben voran, bis das Tor aufsprang. Die Scheinwerfer strahlten gegen den frühen Sonnenuntergang an, während der Wagen an einem modernen Fremdenverkehrsbüro vorbei über einen großen Parkplatz fuhr.

In der Mitte einer grasbewachsenen Ebene befand sich die berühmte Stonehenge-Anlage, eine Kultstätte, deren Zweck seit Jahrtausenden in geheimnisvollem Dunkel lag. In drei konzentrischen Kreisen standen dort etwa siebzig Megalithen aufrecht da. Sie waren bis zu acht Meter hoch und wogen angeblich fünfzig Tonnen. Große Tropfen aus Stein, wie Barton es ausgedrückt hatte. Die größten hießen Sarsensteine, und einige trugen noch den Deckstein. Davon waren nur neun an ihrem ursprünglichen Platz geblieben.

Der Porsche rollte bis an den Rand des Asphalts, von wo die Scheinwerfer das alte Bauwerk beleuchteten. Andere Wagen standen nicht da. Sie waren die einzigen Besucher. Helena schaltete den Motor aus, im Wageninnern war es still. Die unheimliche Anlage des dritten Portals war nur hundert Meter weit weg.

»Der Name Stonehenge kommt von dem altenglischen Stanhen Gist«, erklärte Wilson. Er betrachtete die im Dämmer liegende Steinformation. »Das heißt ›hängende Steine‹. Als der Bau begonnen wurde, war das Rad noch nicht erfunden. Er zog sich über tausendfünfhundert Jahre hin.«

Wilson stellte sich vor, wie es vor fünftausend Jahren ausgesehen haben mochte: eine Wiesenlandschaft und Steinzeitmenschen in Fellkleidung, die mit der Errichtung der Steine begannen. Das war eine Aufgabe, die viele Jahrhunderte, viele Lebensspannen in Anspruch nahm, während die Verantwortung von einer Generation auf die nächste übertragen wurde, noch bevor hier ein Wort geschrieben wurde.

»Wer hat das gebaut?«, fragte Helena. »Die Druiden?«

»Nein«, antwortete Wilson. »Die Megalithen standen schon zweitausend Jahre, bevor es keltische Druiden gab. Die Anlage wurde von drei bestimmten Stämmen errichtet. Als Erstes von steinzeitlichen Ackerbauern um 3100 vor Christus. Sie hoben die ersten Gräben aus und brachten die ersten Steine her. Um 2000 vor Christus wurden die Ackerbauern von den Glockenbecherleuten verdrängt. Sie haben ihren Namen von den Tonbechern, die sie ihren Toten ins Grab gelegt haben. Und schließlich haben 1600 vor Christus die Wessex-Leute den Bau fertiggestellt, auf dem Höhepunkt der Bronzezeit.

Einige dieser Steine wurden von den Preseli-Bergen bei der Südspitze von Wales zweihundertfünfzig Kilometer weit geschleppt. Die Sarsensteine, die ganz großen, stammen von den Marlborough Downs, zweiunddreißig Kilometer nördlich von hier. Sie wurden auf einem Schlitten gezogen, der über sechs oder sieben dicke Baumstämme lief – ein sehr mühsames Vorgehen. Man schätzt, dass bis zu sechshundert Männer gleichzeitig damit befasst waren – eine erstaunliche Anzahl.«

»Unglaublich«, sagte Helena und spähte durch die Windschutzscheibe.

»Die Archäologen hatten immer Schwierigkeiten, zu erklären, wie die Decksteine hochgestemmt wurden: allein mit Muskelkraft einen fünfzig Tonnen schweren und vier Meter langen Stein in die Höhe zu wuchten und präzise in die Verzapfung zu führen.«

»Die meisten Decksteine sind heruntergefallen«, bemerkte Helena. »Ist das ein Problem?«

»Der ganze äußere Ring, der Sarsenkreis, hatte einmal Decksteine, und der innere Steinkreis, der Trilithon, hatte fünf.«

»Was ist mit ihnen geschehen?«

»Stonehenge war einem schrecklichen Vandalismus ausgesetzt. Bestimmte Leute wollten seine uralte Macht brechen.«

»Wird das Portal trotzdem funktionieren?«

»Soweit ich weiß, steht die Anlage auf einer natürlichen Energiespalte, die zum Mittelpunkt der Erde führt. Die Anlage selbst ist nur die Aktivierungsstelle. Sie sollte noch funktionieren.«

Der Sonnenuntergang verwandelte sich von schön zu spektakulär, als die roten Strahlen durch das Monument schienen und eine Gerade durch die Mitte zweier hoher Steine bildeten.

Wilson hielt bei dem Anblick den Atem an. »Sieh dir dieses Lichtspiel an«, sagte er begeistert. »Das ist phantastisch! Siehst du, wie die Strahlen genau da durchgehen? Das ist das Trilithontor. Heute muss der kürzeste Tag des Jahres sein.«

»Der 21. Dezember«, sagte Helena nachdenklich. »Ja, das ist richtig.«

Das erklärte, warum sie ganz allein waren. Der National Trust hatte bestimmt, dass Stonehenge während jeder Tagundnachtgleiche und Sonnenwende geschlossen blieb, um unerlaubte Rituale zu verhindern und die Stätte vor Schäden zu schützen.

Wilson dachte über die Bedeutung des Datums nach. Es war genau der Tag, an dem er hier sein sollte. »Zuerst wurde Stonehenge gebaut, dann die Pyramiden von Gizeh, dann die Pyramiden auf Yucatán. Gemeinsam bilden sie ein komplexes Energiesystem, das die Geschwindigkeit der Zeit auf unserem Planeten verändern kann.«

Helena betrachtete, wie die Megalithen sich gegen den dunkler werdenden Himmel abhoben. Es war klar, dass das Ende von Wilsons Reise kurz bevorstand.

»Wir brauchen nur das Portal zu aktivieren«, sagte er, »und alles wird gut.«

»Sollen wir hinfahren?«

»Es ist sehr wichtig, dass du dich von dem Sarsenkreis fernhältst«, sagte Wilson warnend. »Das ist ein hundertfünfzehn Meter weiter Grasplatz. Ringsherum verläuft ein Graben, in dem sich die sechsundfünfzig Aubrey-Löcher befinden. Das sind Vertiefungen im Boden, zwei Meter breit und einen Meter tief. Sie haben alle den gleichen Abstand. Weder du noch dein Wagen sollten in der Nähe sein, wenn das Portal aktiviert wird.«

Helena saß ruhig da. »Es sieht kalt aus da draußen.« Sie blickte auf das Thermometer am Armaturenbrett. Vier Grad Celsius.

»Es sieht nicht nur kalt aus«, meinte sie.

»Ich muss den sogenannten Schlüsselstein finden«, erklärte Wilson. »Er befindet sich im äußeren der drei Steinkreise, im Südwesten.« Kaum hatte er ausgesprochen, verschwand die Sonne hinter dem Horizont, und schwarze Dunkelheit senkte sich wie eine weiche Decke herab. Wilson spähte in die Umgebung. »Es sieht still aus, nicht wahr?« Er griff nach dem Türöffner.

»Warte …«, bat Helena. »Das ist vielleicht die letzte Gelegenheit, sich zu verabschieden.« Verlegenes Schweigen breitete sich aus.

Wilson wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm schossen hundert mögliche Szenen durch den Kopf. Er drehte sich zu Helena hin. Die Armaturenbrettbeleuchtung schien in ihr Gesicht. Er wollte nicht darüber nachdenken, dass er sie verlassen musste.

»Danke, dass du mich gerettet hast«, flüsterte sie.

»Du bist es, die mich gerettet hat.«

Sie blickten sich an. Unglücklicherweise konnten sie nichts tun, um ihr Schicksal zu ändern. Helena beugte sich vor und küsste ihn. Der Kuss war zärtlich und kurz.

Wilson, der nicht weiter darauf eingehen wollte, blickte wieder zu der Kultstätte hinüber. »Diese Zeitmaschine da draußen sieht ein bisschen primitiver aus als die, mit der ich gereist bin.«

Schüchtern lächelnd nahm Helena seine Hand und hielt sie fest. »Diese ganze Reise mit dir war verrückt, aber ich möchte dir sagen … es war die schönste Zeit meines Lebens. Ich werde mich immer fragen, wie es hätte werden können, wenn du geblieben wärst.«

Wilson betrachtete den Verlauf der Schattenlinie in ihrem makellosen Gesicht, ihre goldblonden Haare, ihre sinnlichen Lippen. Ich auch, Helena … das verspreche ich … ich auch, dachte er, brachte aber kein Wort heraus. Er drückte die Tür auf, und eisige Luft wehte ins Wageninnere. Wenn er sich jetzt nicht zusammenriss, würde er niemals gehen.

»Du hast recht«, sagte sie enttäuscht, weil er keine Antwort gab. »Bringen wir’s hinter uns.«

Die Scheinwerfer malten lange Lichtflecke in das nasse Gras.

Zornig, da er nicht zugeben konnte, wie ihm zumute war, stieg Wilson aus dem Wagen. Die Kälte schnitt augenblicklich durch seine leichte Kleidung, als hätte er nichts an. Die Hände in den Hosentaschen, ging er auf die Mitte der Anlage zu.

Nachdem Helena beide Pistolen überprüft hatte, knöpfte sie sich die Jacke zu und folgte ihm. Der eisige Wind pfiff ihr um die Ohren, sodass sie teilweise nichts hörte. Dann war sie plötzlich hellwach – sie glaubte sich beobachtet! Sie rannte an Wilson vorbei in die Deckung der Sarsensteine. »Wir müssen vorsichtig sein«, rief sie.

Wilson stapfte weiter, zu aufgewühlt, als dass er sie beachtet hätte. Nichts wird mich abhalten, das Tor zu öffnen! Mit diesem Gedanken verstieß er gegen eine von Bartons ehernen Regeln: »Setzen Sie nie voraus, dass Ihr Schicksal gesichert ist. Wenn Sie das tun, geht alles in die Brüche.«

Wilson streckte die Hand aus und berührte den vier Meter hohen Sarsenstein, einen von zwei Pfeilern, auf denen ein ebenso wuchtiger Deckstein ruhte.

Helena spähte nervös nach allen Seiten. »Selbst auf die Gefahr hin, dass ich theatralisch klinge: Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei.« Der eisige Wind fuhr über das kurze Gras – er war gerade laut genug, um nahende Schritte zu übertönen.

»Wenn Visblat hier wäre«, meinte Wilson, »wüssten wir es schon.« Er wandte sich wieder dem Stein zu. »Ist dir aufgefallen, dass jeder Stein ein bisschen anders ist?« Er lief furchtlos weiter in den Kreis hinein.

Helena kniff die Augen gegen das Scheinwerferlicht zusammen. Sie standen hier wie auf dem Präsentierteller. Langsam glitt sie in die völlige Schwärze eines Schattens.

»Das ist der Trilithon«, sagte Wilson, als er im inneren Steinkreis angekommen war, der nur zehn Meter Durchmesser hatte. Er streckte die Arme zur Seite aus und schaute nach links. »Die Mittwintersonne geht dort unter.« Er sah nach rechts. »Und die Mittsommersonne geht dort auf. Und das da ist der Altarstein.«

Helena schaute ihm aus dem Dunkeln zu.

»Das heißt, der Schlüsselstein ist der da.« Wilson ging auf einen hohen, klotzigen Megalithen des äußeren Steinkreises zu. Sein Schatten kroch über den Boden und reckte sich die raue Oberfläche hinauf. Mit Bartons Informationen im Kopf schaute er den Sarsenkreis entlang, um die Stationssteine zu finden.

»LAUF!«, schrie Helena plötzlich. »WILSONLAUF

Wilson griff in die Tasche und setzte sich seelenruhig die Sonnenbrille auf. Er drehte sich um und sah die Silhouette eines hünenhaften Mannes vor den Scheinwerfern des Porsche stehen.

Mit pochendem Herzen blickte Helena zu Visblat hinüber, blieb aber in der Dunkelheit hinter einem Steinblock stehen – man konnte nicht wissen, wie viele Leute er bei sich hatte. Wie um ihr alles noch schwerer zu machen, schoben sich Bilder aus Wilsons Perspektive vor ihr Blickfeld.

Visblat hängte sich lässig sein Nachtsichtgerät um und richtete seine Waffe auf Wilsons Brust. »Sie sollten tot sein, Mr. Dowling, und dennoch sind Sie hier.« Er deutete zur Seite in die Dunkelheit. »Sagen Sie Miss Capriarty, sie soll nicht schießen. Ich bin nur hier, um mit Ihnen zu reden.«

Helena, die auf Visblats Kopf zielte, beschäftigte nur eine brennende Frage: Würde sie abdrücken können, wenn es sein musste?

»Nicht schießen, Helena!«, rief Wilson. »Lass uns hören, was er zu sagen hat!«

»Ich will Sie nicht hindern, das Energieportal zu öffnen, Mr. Dowling.« Visblat senkte die Waffe. »Im Gegenteil.« Gemessen an den Umständen machte er einen entspannten Eindruck.

»Was wollen Sie dann?«, fragte Wilson.

»Zuerst … wie haben Sie das gemacht? Hatten Sie eine kugelsichere Weste an?«

»Ja. Ich hatte eine Weste«, log Wilson überzeugend.

Ein gekünsteltes Lächeln glitt über das Gesicht des hünenhaften Mannes. »Scheint so.« Es folgte eine lange Pause. »Mr. Dowling, ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«

»Ich höre.«

»Öffnen Sie das dritte Portal, und wir kehren gemeinsam in die Zukunft zurück.«

»Sagen Sie mir zuerst, wer Sie sind«, forderte Wilson.

Visblat schüttelte den Kopf. »Sie werden feststellen, wer ich bin, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Wilson glaubte immer noch, ihn von irgendwoher zu kennen. Seine Gesten kamen ihm bekannt vor. »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Wilson.

»Sie wissen gar nichts«, höhnte Visblat.

»Sie haben gesagt, das zweite Portal sei sabotiert worden. Sie haben gelogen.«

»Sie haben irreparablen Schaden angerichtet, Sie Idiot! Sie haben Barton Ingerson auf dem Gewissen.«

Wilson rutschte das Herz bis in die Magengrube. »Was meinen Sie damit?«

»Barton ist tot«, kam die nüchterne Antwort. »Darum bin ich hier.«

»Wie ist er umgekommen?«

»Sagen wir … er hatte einen bedauerlichen Unfall. Manche behaupten allerdings, es war geplant.«

»Er wurde ermordet?«

Ein Lächeln stahl sich auf Visblats Lippen. »Ich will es einmal so sagen. Drei Tage, bevor er getötet wurde, wurden meine unschätzbaren Dienste wieder einmal angefordert. Ich habe das immer für einen seltsamen Zufall gehalten. Und jetzt haben Sie sein Schicksal besiegelt, Mr. Dowling. Sie hätten auf mich hören sollen. Sie sind ein Idiot! Ich hasse Idioten!«

»Wer hat Sie geschickt?«, fragte Wilson. »Nennen Sie mir den Namen.«

Die Frage rief bei Visblat ein irres Lachen hervor. »So werden Sie nie dahinterkommen.«

»Trau ihm nicht!«, rief Helena aus der Dunkelheit.

»Sie halten sich da raus!«, brüllte Visblat. »Sie haben schon genug Schaden angerichtet!« Dabei schlich er zwischen den Steinen umher, trat mal ins Licht, mal ins Dunkel und versuchte, ihre Deckung zu finden.

»Warten Sie«, sagte Wilson. »Ich bin bereit, über Ihr Angebot nachzudenken.«

Er wusste, Helena wäre dem Commander wehrlos ausgeliefert.

»Ich hätte Sie beide töten können, wäre es mein Plan gewesen«, sagte Visblat zornig.

»Sie hätten es fast getan.«

Bei der Bemerkung blieb er stehen. »Ich habe nicht auf Sie geschossen!« Visblat lachte. Es sollte vertrauenerweckend klingen, doch es hörte sich irre an. »Ich habe versucht, Sie zu retten!«

»Sie sind schon viel zu lange hier«, sagte Wilson und trat entschlossen auf ihn zu. »Sie sind durchdrungen von der Schumann-Frequenz.« Das war zweifellos die Ursache seines Wahnsinns. Die Menschen, die in dieser Zeit geboren waren, konnten dem Einfluss in gewissem Maße entgegensteuern, doch Visblat, der aus der Zukunft kam, fehlte dafür die Kraft. »Sie haben zu lange damit gewartet, die Portale zu öffnen. Sie hatten versucht, das Gizeh-Portal zu öffnen – daher kannten Sie den Weg durch das Labyrinth. Sie wollten es, konnten es aber nicht.«

»Das ist Ihre Schuld!«, platzte Visblat heraus. Er starrte auf seinen Schatten, der auf einen der Steine fiel, und versuchte verzweifelt, sich zu beruhigen. »Sie halten sich für clever, nicht wahr? Und Sie haben recht, Mr. Dowling. Ich kann die Portale nicht öffnen. Ich habe zu lange gewartet.« Er rang sich einen freundlichen Tonfall ab. »Ja, sonst hätte ich es schon getan.« Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Darum werden wir zusammen zurückreisen.« Er war ruhig, so ruhig wie in Kairo vor der Öffnung des zweiten Portals.

»Nur aus Neugier: Was springt für mich dabei heraus?«, fragte Wilson.

»Sie werden die Wahrheit über Ingersons Tod erfahren.«

»Die werde ich sowieso erfahren.«

»Wenn Sie mich zwingen, hierzubleiben, werde ich zum Monster«, sagte er schäumend vor Wut. Er hielt eine hohle Hand an den Mundwinkel, wie um ihm etwas zuzuflüstern. »Man kann nicht wissen, was ich alles tun würde. Ihre Freundin …« Er spähte in die Dunkelheit. »Sie wissen schon, was ich meine.«

Helena sah durch Wilsons Augen in Visblats Gesicht, als stünde er direkt vor ihr.

»Helena!«, rief Wilson. »Es ist Zeit, dass du gehst! Du musst tun, was ich sage!« Wilson wusste, dass jeder, der sich im inneren Steinkreis aufhielt, wenn das Portal sich öffnete, in die Zukunft transportiert würde. »Begib dich außerhalb des Sarsenkreises, Helena. Das ist wichtig!« Er glaubte, sie weglaufen zu sehen.

»Sie haben die richtige Entscheidung getroffen«, sagte Visblat.

Nebel kam auf und zog über das Gelände, sodass die Umrisse verschwammen. Wilson zitterte, doch er wusste nicht, ob vor Angst oder nur vor Kälte. Ohne seinen Gegner weiter zu beachten, wandte er sich dem Schlüsselstein zu. Er untersuchte sorgfältig jede Vertiefung darin und wartete so lange, wie er konnte.

Um das Portal zu öffnen, musste der Schlüsselstein gedreht werden. Man musste ihn zu dem Stationsstein herumschwenken, der die Bahn der Mittwintersonne im Osten markierte. Es gab fünf solcher Steine, kleine, nur mannshohe Megalithen, am äußeren Rand des Sarsenkreises. Jeder bezeichnete einen bestimmten Punkt am himmlischen und lunaren Horizont.

Visblat wurde ungeduldig. »Nun machen Sie schon!«

Wilson trat hinter den Schlüsselstein und legte die linke Handfläche daran. Sowie der Kontakt hergestellt war, begann der Stein zu vibrieren. Ganz sacht drückte Wilson dagegen, und der Stein drehte sich in eine neue Stellung. Es knackte wie aufplatzende Maiskörner, als der Megalith einen tiefschwarzen Glanz bekam. Wilson schaute zu dem Stationsstein am äußeren Rand: Er schimmerte ebenfalls.

Der Boden begann zu schwanken.

Die Vibration wurde so stark, dass Wilson und Visblat sich breitbeinig hinstellen mussten, um das Gleichgewicht zu wahren. Dann ging es los: Die Megalithen von Stonehenge rumpelten in einem unheimlichen Tanz auf ihren Plätzen. Von unsichtbaren Kräften gepackt, rasteten sie wieder ein und stellten sich gerade, wobei sie noch einmal kurz aufleuchteten.

Während der Bewegung dieser riesigen Steinblöcke wichen Wilson und Visblat an entgegengesetzte Stellen des Trilithons zurück. Das unablässige Knirschen steigerte sich unerwartet zu einem lauten Nachhall, der Wilson in den Ohren schmerzte.

Da war etwas nicht in Ordnung.

Ein herabgefallener Deckstein versperrte die Ausrichtung des inneren Kreises, und die unterirdische Mechanik geriet unter zunehmenden Druck.

»Der hält alles auf!«, rief Wilson, der über den Megalithen hinwegstieg und die unnatürliche Vibration spürte. Der Stein war so tief in den Boden eingesunken, dass nur noch ein Drittel herausschaute. »Wir müssen etwas unternehmen!«

Visblat legte seine Waffe hin und griff mit seinen mächtigen Händen um die Kanten. Wilson sah ihm in die Augen, während sie gebückt nebeneinanderstanden. Er hätte nie geglaubt, dass es zu solch einer Situation kommen würde.

»Hier sind magnetische Kräfte am Werk, die uns helfen werden!«, sagte er. »Auf drei dortrüber hieven.« Er zeigte nach rechts. »Eins … zwei … drei!«

Unter Einsatz ihrer ganzen Kraft stemmte das ungleiche Paar sich gegen das Gewicht des Steins. Der vibrierte zwar umso heftiger, rührte sich aber nicht vom Fleck. Visblat gab als Erster auf.

Wilson horchte auf die magnetische Energie, die sich im Boden aufbaute. Es hörte sich an, als würden sich Eisenträger verbiegen. »Noch einmal!«, drängte er. »Wir müssen zusammenarbeiten! Strengen Sie sich an!« Ohne ein Wort legte Visblat noch einmal seine ganze Kraft hinein.

Flüsternd gab Wilson einen Omega-Befehl. Er grub die Finger tief in die feuchte Erde und griff um die unteren Kanten. Sie stemmten gleichzeitig, und der Deckstein löste sich langsam aus dem Boden … dann kam er plötzlich frei. Die beteiligten Kräfte schickten ihn kopfüber ins Gras.

Mit einem mahlenden Geräusch schob sich der letzte Abschnitt des Trilithons an seinen Platz.

Visblat sprang zu seiner Waffe und drückte Wilson die Mündung vor die Brust. »Wie haben Sie das gemacht?«, fuhr er Wilson an, völlig perplex, und riss ihm die Sonnenbrille herunter. »Sagen Sie mir, wie Sie den Schuss überlebt haben. Ich habe das Blut gesehen! Sie hatten keine kugelsichere Weste an! Und Ihre Kräfte! Was hat Ingerson Ihnen beigebracht?«

Helena entsicherte ihre Colt-Pistole und zielte auf Visblats hysterisches Gesicht. Sie wollte schießen, spannte den Finger um den Abzug, doch sie war wie erstarrt, als hätte sie Beton in den Adern.

Wilson durchströmte Angst; er brauchte all seine verbliebene Kraft, um sich aufzurichten. »Bedenken Sie, dass ich der Einzige bin, der Sie nach Hause bringen kann«, sagte er.

»Das Portal ist offen«, widersprach Visblat. »Ich brauche Sie nicht mehr!«

Helena blickte zwischen den Steinen durch; zugleich sah sie durch den roten Dunst mit Wilsons Augen. Visblat war wahnsinnig. Eindeutig. Sie rief ihre Erinnerungen an die schreck-lichen Umstände von damals wach, um die lähmende, unnatürliche Furcht niederzuringen. Das hilflose Gesicht ihrer Mutter trat ihr vor Augen, und irgendwie schaffte sie es, den Finger krumm zu machen.

Die Kugel traf. Visblat kippte hintenüber.

Doch aus dessen Waffe löste sich ebenfalls ein Schuss.

Wilson wurde getroffen. Die Kugel durchschlug ihn wie ein kalter Speer. Er krümmte sich zusammen, während warmes Blut sein Hemd rot färbte.

Helena sah es aus der Wunde strömen. »Wilson!«, schrie sie. Ihr Bann war gebrochen. Sie bewegte sich vorsichtig von einer dunklen Stelle zur anderen auf ihn zu. Plötzlich donnerten zwei Schüsse durch die Steinkreise. Die Scheinwerfer des Porsche zersplitterten, und alles versank in Dunkelheit.

»Sie haben mich niedergeschossen!«, brüllte Visblat. Seine linke Schulter war taub, und er lachte leise in sich hinein. Dann schob er sich sein Nachtsichtgerät vor die Augen. »Sie haben mich niedergeschossen, Miststück!«

Gefangen in der Dunkelheit, schloss Helena die Augen und betete.

Visblat spähte nach seiner Schulter. »Das haben Sie gut gemacht! Zur Belohnung werden ich Sie umbringen … ganz langsam.« Angestrengt kam er auf die Beine und ragte über dem reglosen Wilson auf. Er stieß ihn mit dem Fuß an. »Wie haben Sie diesen Klotz bewegt? Sagen Sie es mir!«

Visblat sah sich um – Helena war nirgends zu sehen. »Sie hätten abhauen sollen, als Sie es noch konnten!«, rief er in die Dunkelheit. Eine Hand auf die blutende Wunde gedrückt, begann er, die Steine nacheinander abzusuchen. »Ich kriege dich, du Schlange!«

Die Drohung hallte von den Felsblöcken wider.

Helena stand mit dem Rücken an einem schwarzen Megalithen, die Pistolen hilflos vor sich gestreckt. Sie sah absolut nichts. Kein einziger Stern stand am Himmel. Sie war blind – völlig hilflos. In diesem Moment füllte ihr Blickfeld sich mit einer lebensrettenden Vision. Wilson hatte sich aufgesetzt und seinen Opossum-Befehl gegeben. Er blutete stark.

»Das ist Ihre letzte Chance, Visblat! Geben Sie auf!«, rief sie.

»Das ist ein viel zu interessantes Spiel«, erwiderte er.

Helena schrie in verschiedene Richtungen: »Ich warne Sie, ich kann Sie kommen sehen!« Ihre Hände zitterten. Sie war schweißüberströmt. Ich habe keine Angst, sagte sie sich. Überhaupt keine.

»Das ist genau wie an dem Abend, als Ihre Mutter umgebracht wurde«, rief Visblat zurück. »Sie wurde vergewaltigt, nicht wahr? Ja. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Das muss sehr schlimm für Sie gewesen sein.«

Helenas Angst war plötzlich vorbei, ihre Hände ruhig.

Visblat umrundete jeden Megalithen und spähte durch sein Nachtsichtgerät in die grün getönte Umgebung. »Ja, ich weiß über den Abend Bescheid. Palladium, nicht wahr? Sehr traurig. Sie und Ihre Mutter gingen durch die Gasse. Soweit ich weiß, war es Ihre Schuld …«

Helena trat furchtlos aus ihrer Deckung. Sie konnte sich selbst und Visblat durch Wilsons Augen sehen. Der Hüne ragte vor ihr auf. Sie zielte so gut es ging und gab ohne Zögern acht donnernde Schüsse ab. Beim Licht des Mündungsfeuers sah sie, wie die Kugeln in Visblats Brust einschlugen. Er wurde gegen einen Sarsenstein geschleudert und rutschte zu Boden. »Niemand spricht ungestraft über meine Mutter«, sagte sie leise.

Wilson konnte sich nicht länger aufrecht halten und kippte zur Seite.

Die Vision verlosch.

Helena schoss weiter, um sich im Dunkeln zurechtzufinden, und gelangte schließlich zu ihrem Wagen. Sie schaltete den Warnblinker an. Ein helles oranges Licht beleuchtete zuckend ihren Weg, als sie zum Trilithon zurücklief. Sie hatte nur einen Gedanken: Ist Wilson noch am Leben?

Wie schon zweimal zog sie den Verletzten an sich und hielt ihn in ihrem Schoß geborgen.

»Bitte, du darfst nicht tot sein«, sagte sie schluchzend. »Bitte …« Helena presste die Hand auf seine Wunde, um die Blutung zu stillen. »Wilson, kannst du mich hören? Du musst den Heilungsbefehl geben. Hör mir zu …«

»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst gehen?«, flüsterte er.

Ein gequältes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. »Ich tue doch nie, was du sagst.«

Die Zeit schien sich zu verlangsamen.

»Sag den Heilungsbefehl. Du musst!«

Ein stechender Schmerz fuhr Wilson in den Unterbauch. Er hustete Blut; es rann ihm aus den Mundwinkeln. »Keinen … Omega-Befehl«, sagte er stockend. Das könnte sich negativ auf den Transport auswirken, erinnerte er sich – Barton hatte ihn davor gewarnt. Wilson nahm Helenas Hand. »Bring mich da drüben hin.« Er zeigte auf den Altarstein in der Mitte des Trilithons. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Im Schein der Warnblinkanlage zog Helena ihn durchs Gras und legte ihn neben den liegenden Megalithen. »Du musst den Heilungsprozess in Gang setzen«, drängte sie.

Wilson hustete erneut Blut. »Du musst jetzt gehen«, wimmerte er. »Verlass den Sarsenkreis.«

»Ich gehe nicht.«

»Du musst …«

»Ich bleibe!«

»Das Portal wird nicht funktionieren, wenn du bei mir bist.« Das war eine Lüge, aber Wilson wusste, dass sie beim Transport getötet würde. Nur ein Gen-EP konnte das überleben. Er ließ ihre Hand los und schob sie weg. »Geh, Helena!«

Ihr Instinkt drängte sie zu bleiben.

»Bitte, Helena. Du musst tun, was ich sage«, stöhnte er unter Schmerzen.

Mit dem Gedanken, dass sie sein Gesicht zum letzten Mal sah, küsste sie ihn zärtlich auf den Mund. Dann stand sie auf und blickte ihm in die Augen, um dieses Bild für alle Zeit im Gedächtnis zu behalten. Schließlich drehte sie sich um und rannte zwischen den Steinen hindurch, den Geschmack seines Blutes auf den Lippen.

Wilson sah sie im pulsierenden Licht verschwinden. Er wartete, so lange er konnte, ständig auf der Schwelle zur Bewusstlosigkeit; dann hob er die Hand und drückte sie auf den Altarstein.

Ein goldener Glanz erstrahlte.

Über ihm donnerte es.

Helena stand neben ihrem Wagen am Rand des Parkplatzes. Durch einen roten Dunst sah sie Wilsons Hand, wie sie das Portal aktivierte. Ihn selbst konnte sie nicht sehen. Über den dunstigen Himmel zuckten die ersten Blitze. Sie griff in die Tasche und holte seine Schicksalsmünze heraus.

Ein Blitz schoss aus den sich zusammenballenden Wolken und schlug krachend in einen der Sarsensteine ein, der daraufhin von nadelfeinen Lichtblitzen leuchtete, als würde aus seinem Innern eine elektrische Ladung entweichen.

Es donnerte ohrenbetäubend.

Binnen Sekunden wurden die Megalithen einer nach dem anderen vom Blitz getroffen und begannen Funken zu sprühen.

Der Trilithon summte.

Helena fühlte es in jeder Faser ihres Körpers.

Plötzlich schwand ihre Vision.

Die Wolken teilten sich und umkränzten ein paar Sterne, die am Himmel funkelten.

Ein Bündel magnetischer Energie schoss empor.

Erschrocken von dem kalten Leuchten drehte Helena sich weg, als ein zweites Strahlenbündel daneben auffuhr, dann noch eines und noch eines. Sie kamen aus den Aubrey-Löchern rings um den Sarsenkreis. Innerhalb von Sekunden bildeten alle sechsundfünfzig Bündel einen Lichtdom, der hoch in den Himmel ragte. Die Umgebung war kilometerweit erleuchtet. Der Lichtdom setzte sich in Bewegung und rotierte gegen den Uhrzeigersinn.

Alles ging in Zeitlupe über.

Das Portal öffnete sich.

Für den Bruchteil einer Sekunde wurden mit ohrenbetäubendem Knall Norden und Süden vertauscht. Übernatürliche Energie schoss aus den Steinkreisen empor, und das kalte Leuchten strömte in einer ständig wachsenden Fontäne in allen Richtungen zum Horizont.