KAPITEL
62
Der Archistrategos Michael stand neben Zadok und blickte über den kochenden Feuerstrom in die Dunkelheit Gottes. Ein bedrohliches Beben hatte die Himmel erschüttert, und Cherubim, Seraphim und all die anderen Engel strömten in den Siebenten Kristallpalast, um Trost und Führung zu erfahren.
In dichten Trauben drängten sich die Himmelsbewohner an den Wänden und wagten kaum zu atmen. Michael warf Zadok einen vorsichtigen Blick zu. Der alte Patriarch stand erhobenen Hauptes da und hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt.
Michael bedauerte ihn. Die Menschen hatten es noch nie verstehen können.
»Was geht hier vor?« flüsterte Zadok.
Michael verzog das Gesicht. Von allen Engeln stand er Epagael am nächsten und konnte Gottes eigene Gedanken erahnen. »Schmerz. Sie bekämpfen einander. Es geht um die Herrschaft.«
»Wer kämpft gegeneinander?«
»Der Androgyne Aktariel, Rachel und Epagael.«
Michael schrie vor Schmerz auf und keuchte. Epagaels eigentliche Essenz verkrampfte sich vor Pein. Michael fiel auf die Knie, als er es nicht länger ertragen konnte.
»Was fühlst du?« drängte der Patriarch ihn und kniete neben ihm nieder.
»Ungläubigkeit. Epagael hätte es nie für möglich gehalten, daß Aktariel ihn wirklich herausfordern würde … Und ich spüre Schuld für all das Leiden. Er kennt sie jetzt. Sie windet sich in ihm wie ungezählte giftige Schlangen.«
Der Engel hielt sich den Leib und schaukelte vor und zurück. Ja, die Schuld sitzt so tief, daß sie die furchtbare Dunkle Seite der Schöpfung auf ihren Schwingen mit sich trägt.
Plötzlich riß Michael die Augen auf und starrte in den Wirbel. Dort verbanden sich Sterne zu flammend hellen Punkten, um dann ein letztes Mal aufzuflackern und zu vergehen. Galaxien drehten sich in neuen verwirrenden Mustern, und Universen webten Träume, um sie einen Moment später zu zerreißen und alle Hoffnung zunichte zu machen. Glorie und Majestät waren dort zu erblicken, und darunter tiefste Bitternis.
Der Engel wußte jetzt, was sich tat. Aktariel hatte Epagael gezwungen, Seine ewigen Augen zu öffnen und sich anzuschauen, was von den Universen geblieben war.
Und Er sah sie zum erstenmal nackt und erkannte, was sie in Wahrheit waren:
Idole.
Hohl und leer.
Epagael begriff unter unsäglichen Qualen, daß sein unsterbliches Bewußtsein auf diesen Bildern errichtet worden war. Genauso wie Aaron einst dem goldenen Kalb in der Wüste einen Altar errichtet hatte, hatte Epagael seine Abbilder zusammengetragen und sie rings um sich wie eine Festungsmauer aufgebaut. Und so war Er für das sich endlos drehende Labyrinth des Chaos blind gewesen. So blind, daß Er kaum mitbekommen hatte, wie Sein eigener Altar zerbröckelte.
Während Er seine Zeit mit Namen und Spielen vertan hatte, hatte das Bewußtsein der Schöpfung nach Ihm gerufen, doch Er hatte nichts gehört; denn das Poltern der alten, fremden Steine hatte Ihm die Ohren versperrt.
Michael krümmte sich unter dem Selbsthaß Gottes, der sich wie eine schwärende Wunde über Ihn legte.
Gott versuchte zu vergessen.
Gott versuchte, das Gesicht abzuwenden.
Doch es gelang Ihm nicht.
Kummer überkam Ihn und verwandelte sich in blankes Entsetzen.
Vor dem schwarzen Wirbel schwebte ein geschlechtsloser Schatten. Ein Licht entstand und verbreitete sich durch den Siebenten Kristallpalast.
Die Cherubim kreischten und flohen unter die Decke. Die anderen Engel drängten sich ängstlich noch dichter aneinander, während der strahlende Glanz auf sie herabregnete.
Michael aber lächelte.
Denn jenseits der kalten Barrikade des Nichts, welche die Himmel von den Universen trennte, strömte das reinigende Licht. Ganze Galaxien vergingen unter dieser heißen, gleißenden Flut.
Michael schaute zu dem knienden Zadok hinab und fragte: »Hast du es auch gespürt, Patriarch?«
»Nein, Herr. Was denn?«
»Die Erlösung. Sie hat gerade begonnen.«