KAPITEL
26
Ein winziger Lichtstrahl drang unter dem Deckel der Kiste hindurch und fiel auf Yosefs Gesicht. Er schaute zu Ari hinüber. Sein ältester Freund hockte in der Ecke und hatte die langen Beine gegen die Kistenwand gestemmt.
Draußen rumpelte etwas, gefolgt von einem schrillen Kreischen. Jemand lachte.
Yosef preßte sein Ohr gegen die Kistenwand, um jeden Laut zu erhaschen, der ihm vielleicht Aufschluß geben konnte, wo sie sich jetzt befanden. Nach ihrem Start hatte das Shuttle irgendwo eine kurze Zwischenlandung gemacht und war wenig später erneut gestartet. Vor einer halben Stunde waren sie wieder gelandet, und jetzt liefen draußen Soldaten herum, riefen Anweisungen und entluden die Kisten.
»He!« rief jemand laut.
Yosef fuhr zusammen.
»Private Row? Jerre? Komm mal her, ich brauche Hilfe bei dieser Kiste.«
»Bin schon unterwegs, Sergeant Nelson.«
Das harte Klappern von Stiefeln auf dem plastikbeschichteten Boden des Laderaums erklang. Dann war zu hören, wie zwei Männer das Shuttle betraten. Yosef konnte ihr heftiges Atmen vernehmen.
»Am besten räumen wir erst etwas von dem Müll hier beiseite«, sagte Nelson. »Dann können wir die Kiste bis an den Rand schieben, wo der Lastenheber sie packen kann.«
Irgend etwas wurde quietschend über den Boden gezogen, dann folgte ein dumpfer Schlag. Yosef sah, wie Aris Augen sich weiteten, als die Kiste auf einem Zickzackkurs durch den Laderaum geschoben wurde.
»Verdammt«, keuchte Nelson, »seit wann ist dieses Zeug so schwer? Die Kisten waren doch früher immer viel leichter.«
»Keine Ahnung«, stöhnte Row. Die Kiste glitt wieder ein paar Zentimeter weiter. »Vielleicht benutzen sie eine neue chemische Komponente. Oder die Knallköpfe auf Horeb haben etwas hineingelegt, das nicht dorthin gehört. Ganz gleich, wie viele bewaffnete Wachen man aufstellt, sobald gamantische Arbeiter an einer Sache beteiligt sind, kann man sich auf nichts mehr verlassen. Sie tun alles, um uns zu schaden.«
»Na ja, wenigstens haben wir endlich diesen Burschen geschnappt, der all die Probleme verursacht hat. Vielleicht wird sich …«
»Wie heißt er eigentlich?«
»Calas. Mikael Calas.«
Yosef und Ari wechselten einen entsetzten Blick. Sie hatten Mikael gefangen? Lieber Himmel! Und was war mit Sybil und Nathan?
»Er ist Zadok Calas’ Enkelsohn. Du erinnerst dich doch sicher an die Geschichten über das alte Streitroß? Er war ein ganz bemerkenswerter Kämpfer. Hat die Magistraten oft genug geschlagen, auch wenn sämtliche Chancen gegen ihn standen.«
Row schnaubte abfällig. »Das klingt ja so, als würdest du den alten Mordbrenner bewundern, Nelson. Denn das war er, und nichts anderes. Ein cleverer alter Mordbrenner mit irgendwelchen Wahnvorstellungen über Gott.«
Yosef lehnte sich schwer gegen die Kistenwand. In Aris Gesicht stand reiner Haß geschrieben. Yosef versuchte, unbeeindruckt zu wirken, als wäre es ihm gleichgültig, daß diese Männer so über seinen Bruder sprachen, doch Ari wußte es besser.
Nelson legte eine Pause ein und meinte: »Na ja, jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber ich gebe zu, daß ich den alten Halunken respektiert habe. Mein Großvater hat in der letzten gamantischen Revolte gegen ihn gekämpft und hielt auch große Stücke auf Zadok. Nannte ihn immer einen ›verdammten Wunderwirker‹. Aber trotzdem bin ich froh, daß wir seinen Enkel gefangen haben. Vielleicht geht es jetzt in der Galaxis wieder etwas ruhiger zu.«
»Das bezweifle ich«, wandte Row ein. »Gamanten sind viel zu dumm, um einzusehen, was gut für sie wäre. Ich glaube, wir werden den größten Teil von ihnen auslöschen müssen, bis sie endlich ihren Stolz herunterschlucken und ihre antiquierte separatistische Haltung aufgeben, um wie zivilisierte Menschen mit uns anderen zusammenzuleben.«
Noch einmal wurde die Kiste verschoben und kam dann endgültig zum Stillstand. Durch den winzigen Spalt im Deckel konnte Yosef hoch über sich eine ganze Batterie strahlend heller Lampen erkennen. Überall waren Schritte zu vernehmen, und die gelegentlichen Rufe hatten ein schwaches Echo, als befänden sie sich in einem Raum von erheblichen Ausmaßen. Yosef überlegte, wann er sich schon einmal in einem derart großen Raum befunden hatte, und griff sich dann in plötzlichem Schreck ans Herz. Der Hangar eines Schlachtkreuzers? Nein, das konnte nicht sein. Doch Ari mußte ebenfalls erkannt haben, wo sie sich befanden, denn seine Augen weiteten sich.
»So«, meinte Nelson seufzend. »Von hier aus kann der Lastenheber die Kiste gut erreichen. Wie wäre es mit einer Essenspause? Die Messe ist schon seit fünfzehn Minuten geöffnet. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin nach der vielen Arbeit halb verhungert.«
»Essen? Hört sich gut an.«
»Yo! Savon!« rief Nelson. »Wir machen Mittagspause!«
Beifällige Stimmen wurden laut. Yosef hörte Schritte, die sich entfernten, und schließlich kehrte Stille im Hangar ein. Er ließ sich wieder gegen die Kistenwand sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Ari beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Ich glaube, wir sollen uns als erstes diesen kleinen Mistkerl vorknöpfen. Am liebsten würde ich ihm einen dieser Behälter über den Kopf schlagen.«
Yosef zuckte die Achseln. Nur Ari konnte wissen, wie sehr ihn das Gespräch über Zadok geschmerzt hatte. »Vergiß den Kerl. Wir sollten besser an Mikael denken. Ich frage mich, wo sie ihn untergebracht haben. In der Brigg?«
»Wahrscheinlich.« Ari rieb sich über das spitze Kinn. »Oder er befindet sich im Sondierungsraum gleich neben dem Lazarett. Darauf solltest du gefaßt sein, Yosef. Es wäre möglich, daß er nicht so gut … zurecht ist, wenn wir ihn finden.«
Yosef schloß für einen Moment die Augen. »Dann sollten wir uns beeilen. Vielleicht entdecken wir ihn ja, bevor sie mit der Sondierung angefangen haben.«
Ari nickte und rückte die Bücher auf seinem Rücken zurecht, bevor er sich halb aufrichtete. Vorsichtig hob er den Deckel der Kiste ein Stück an und schob ihn dann zur Seite, um hinauszuschauen. Schließlich schwang er die langen Beine über den Kistenrand und verschwand. Ein scharfes Knacken ertönte, als er landete. »Lieber Himmel.«
»Was ist los?« fragte Yosef und rappelte sich auf, um nach draußen zu schauen. Er mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um einen Blick auf Ari zu erhaschen, der flach auf dem Hangarboden lag. Offensichtlich hatte er es nicht geschafft, auf dem Boden des Shuttle-Laderaums zu landen.
»Hast du dich verletzt?« flüsterte Yosef.
Ari stöhnte und stemmte sich langsam hoch. »Ich habe mir den Schädel gebrochen!«
»Gut, dann ist ja kein großer Schaden entstanden.« Yosef hob vorsichtig zwei der fingerlangen Behälter auf und hielt sie in der linken Hand, während er aus der Kiste stieg. Selbst die kleinen Behälter waren mit dem warnenden roten Dreieck gekennzeichnet.
»Hier«, sagte Yosef und reichte seinem Freund einen der Behälter. »Nimm das und steck es in die Tasche.«
»In meine Tasche? Warum?« Ari hielt den Behälter mit zwei Fingern fest und beäugte ihn mißtrauisch. »Bist du verrückt? Eine falsche Bewegung, ein Stolpern, und wir sprengen den halben Kreuzer in die Luft.«
»Genau das ist der Punkt«, meinte Yosef und schob seinen Behälter in die Brusttasche. »Wer würde schon einen Mann angreifen, der so ein Ding in der Hand hält? Aber jetzt komm. Wir müssen hier verschwinden, bevor die Männer zurückkommen.«
Yosef watschelte quer durch den Hangar in Richtung des Ausgangs. Zwei Jäger ruhten an der gegenüberliegenden Wand, und der Raum davor war mit Kisten, Kartons und Schachteln zugestellt.
Als sie den Ausgang erreichten, zog Ari Yosef beiseite und spähte erst durch das kleine Fenster, um den Flur hinter der Tür zu inspizieren.
Yosef blieb ein paar Minuten ruhig stehen, dann aber schöpfte er langsam einen bestimmten Verdacht. »Was ist los? Ist jemand dort draußen?«
»Ja«, erwiderte Ari. »Eine hübsche Rothaarige. Ich mag diese hautengen Uniformen.«
»Verschwinde von der Tür!« Yosef zerrte an Aris Ärmel. »Was ist bloß mit dir los? Wir müssen Mikael finden, und du begaffst Frauen!«
»Du hast keine Ahnung von Spionage. Ich habe nicht gegafft, sondern spioniert. Das ist ein großer Unterschied. Man muß sehr vorsichtig und subtil vorgehen, sonst schnappen sie dich und bearbeiten deine besten Körperteile mit einer Kneifzange.«
Würdevoll setzte sich Ari in Bewegung, um zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Hangars zu gehen. Yosef warf in einer hilflosen Geste die Hände hoch und watschelte hinterher. Als sie die Tür erreichten, trat Ari rasch auf den Gang hinaus. »Nun mach schon, Yosef. Beeil dich.«
Yosef schaute sich in dem Gang um, stellte fest, daß er leer war, und seufzte erleichtert. »Warum bist du denn wie ein Verrückter in diesen Korridor gestürmt? Stell dir vor, es wäre jemand hier gewesen!«
»Dann hätte ich sie überrascht und entwaffnet, ganz einfach. Sobald wir Waffen haben, können wir machen, was wir wollen. Wir können diese Behälter an strategisch wichtigen Punkten unterbringen, das Schiff übernehmen und die Galaxis befreien. Und wenn wir damit fertig sind, das Universum zu retten, fliegen wir nach Hause und trinken ein Bier.«
Yosef bedachte ihn mit einem düsteren Blick. Aris wirrer grauer Schopf ließ ihn wie eine zerrupfte Palme im Winter aussehen. »Manchmal glaube ich wirklich, dein Gehirn ist von einem toten Politiker geborgt.«
Er klopfte Ari auf die Schulter und setzte sich wieder in Bewegung. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Mikael. Das alles ergab keinen Sinn. Warum sollte man Mikael gefangennehmen und an Bord eines Schlachtkreuzers schaffen? Warum brachten sie ihn nicht einfach um, wenn sie ihn aus dem Weg haben wollten?
Ari übernahm die Führung und schlich vorsichtig an der Wand entlang, bis er um die nächste Ecke spähen konnte. »Alles klar. Komm weiter.«
Er marschierte in den nächsten Korridor. Yosef folgte ihm und rannte direkt in zwei magistratische Corporals, die gerade aus einem Seitengang auftauchten. Die Soldaten blieben stehen und starrten die beiden verdutzt an.
»Alles klar, was?« zischte Yosef vorwurfsvoll.
Ari streckte die langen Arme vor und bewegte sich wie ein uralter mechanischer Roboter. »Klaatu barada nikto!« erklärte er.
Der blonde Soldat mit der flachen Nase flüsterte: »Was ist das denn für eine Sprache, Chuck?«
Der Braunhaarige schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. He, Sie da, alter Mann, was machen Sie hier? Diese Abteilung gehört zum Sicherheitsbereich des Schiffes. Besucher sind hier nicht erlaubt.«
Ari stakste weiterhin steifbeinig vorwärts, und Yosef folgte ihm. Was hatte Ari vor? Hoffte er, auf diese Weise nahe genug an die Männer heranzukommen, um sie entwaffnen zu können? Was für eine wahnwitzige Idee!
Als Ari nur noch zwei Schritte von den verwirrten Soldaten entfernt war, wiederholte er: »Klaatu barada nikto. Das bedeutet ›Bringt mich zu Eurem Führer‹.«
Chuck legte die Hand auf den Griff seiner Pistole. »Wer seid ihr?«
Ari klopfte sich stolz auf die Brust. »Ich bin Ari Funk, und das ist Yosef Calas. Wir stammen von Tikkun.«
»Calas?« Chuck faßte Yosef genauer ins Auge. Mit einer raschen Bewegung zog er die Pistole und deutete damit den Gang hinunter. »Dort entlang, alle beide. Ich bringe euch schon zu unserem Führer, keine Sorge. Vorwärts!«
Yosef hob die Hände und setzte sich in Bewegung. Ari folgte ihm mit einem breiten Grinsen. »Jetzt haben wir sie. Warte ab, bis wir auf die Brücke kommen.«
»Du Idiot! Wenn wir erst auf der Brücke sind, bringen sie uns um.«
Ari klopfte auf seine Brusttasche, wo der Sprengstoffbehälter steckte. »Nicht, solange wir das hier bei uns haben.«
Hinter ihnen rief Chuck: »Jetzt rechts und dann durch die große Doppeltür.«
Yosef bog um die Ecke und stöhnte auf, als er die große Tür zum Maschinenraum sah. »Lieber Himmel.«
»Einen Augenblick!« protestierte Ari, drehte sich um und bedachte die beiden Männer mit einem finsteren Blick. »Ich dachte, wir würden zu jemand Wichtigem gebracht. Wir wollen mit dem Captain sprechen!«
Chuck runzelte irritiert die Stirn. »Vorwärts, alter Mann. Ich bringe euch zu meinem Führer, dem Chefingenieur.«
»Bah!« meinte Ari. »Der ist uns nicht gut genug. Wißt ihr überhaupt, wer wir sind?«
Chuck richtete die Pistole auf Aris Kopf. »Nein, aber das werden wir garantiert herausfinden. Und jetzt vorwärts!«
Yosef packte Aris Ärmel und zog ihn mit sich. Ari knurrte mürrisch vor sich hin, als sie den runden Raum betraten, der sich nach oben über drei Decks erstreckte. Die einzelnen Schaltstationen hingen wie stählerne Vogelnester an der Wand. Yosef legte den Kopf in den Nacken und zählte die Männer und Frauen in den einzelnen Stationen. Er kam auf insgesamt neunzehn.
Ein häßlicher Mann mit kurzem, schwarzem Haar und flachen Gesichtszügen richtete sich hinter einer Konsole auf. Seine Uniform wölbte sich über dicken Muskelpaketen. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging auf Ari und Yosef zu, wobei er die beiden mit einer Miene betrachtete, als hätte er ein fehlerhaftes Computerprogramm vor sich.
»Wer sind diese Männer, Corporal Gregor?«
Chuck stieß Ari den Pistolenlauf in den Rücken. »Sie behaupten, sie heißen Funk und Calas. Aber Genaueres wissen wir nicht, Lieutenant Rad. Wir haben sie entdeckt, als sie sich in der Nähe der Waffenabteilung herumtrieben.«
Rad umkreiste Ari wie eine Katze, die mit einer Maus spielt. Yosef zuckte innerlich zusammen, als er die Vorfreude auf Aris Gesicht bemerkte. Immer, wenn Ari diese Miene aufsetzte, stand üblicherweise eine völlig wahnwitzige Aktion auf seinem Programm.
Rad kniff die Augen zusammen. »Ganz offensichtlich sind Sie Zivilisten. Was hatten Sie in der Waffenabteilung zu suchen?«
Ari zog die Augenbrauen hoch und grinste. Mit einer beiläufigen Bewegung griff er in die Tasche, zog den tödlichen Behälter heraus und hielt ihn hoch, damit jeder im Raum das rote Dreieck erkennen konnte. Die Soldaten schnappten nach Luft und rempelten sich gegenseitig an, als sie so rasch wie möglich versuchten, in die entferntesten Winkel des Raums zu verschwinden.
Rads Gesicht wurde ausdruckslos. Mit mühsam beherrschter Stimme fragte er: »Wissen Sie eigentlich, was das ist, alter Mann? Geben Sie es mir besser, bevor wir alle …«
»Stop!« rief Ari. »Die Waffen her! Sie als erster, Rad! Danach sammeln Sie die der anderen ein!«
Rad lachte. »Seien Sie nicht albern. Wir könnten Sie fünfzigmal treffen, bevor Sie auch nur zu Boden fallen. Geben Sie mir den Behälter!«
Yosef mischte sich ein. »Wenn wir zu Boden fallen, Lieutenant, werden Sie sich keine Gedanken mehr um die Konfiszierung des Behälters machen müssen.« Er griff in die Tasche und zog seinen eigenen Behälter heraus. »Oder auch um diesen hier.«
Rads Hand zitterte, als er sie langsam wieder sinken ließ.