KAPITEL
15

 

 

Rachel Eloel saß am sandigen Ufer des Lake Kinnaret unter einem Granatapfelbaum und hatte die Arme um die hochgezogenen Knie gelegt. Jenseits der glitzernden Wasserfläche erhob sich ein brauner Gebirgszug wie eine undurchdringliche Mauer. Ein Staubteufel wirbelte über die Höhen. Rachel hob ihr Gesicht, um die warme, nach Oliven duftende Brise zu genießen. Ihr schönes, herzförmiges Gesicht mit den großen dunklen Augen wirkte im Sonnenlicht wie aus Alabaster gemeißelt. Ein paar Strähnen des langen schwarzen Haares fielen ihr über die Augen, und sie strich sie zurück. Zorn und Hilflosigkeit vereinten sich in ihrer Brust zu einem lähmenden Gift.

Sybil, mein Baby, vergib mir.

Geraume Zeit saß sie schweigend dort und lauschte auf die Geräusche dieses friedvollen Ortes: Vögel, die hoch über ihrem Kopf zwitscherten, das Blöken und Wiehern der Nutztiere, und das gelegentliche Gelächter, das aus den Außenbezirken der eine Viertelmeile entfernten Stadt drang.

Warum litt sie immer? Sie lachte bitter über diese Frage. Sie hatte nie etwas anderes gekannt als Leid. Aber nein, wies sie sich selbst zurecht. Noch immer gab es manche Nächte, in denen sie zufrieden und glücklich aufwachte und die Hand nach ihrem Ehemann Shadrach ausstreckte. Ihr Körper erinnerte sich noch an seine Wärme – und in jenen kurzen Augenblicken vergaß sie, daß Shadrach bei dem Überfall auf den Tempel von Ornias getötet worden war. Zwölf Jahre war das jetzt her. Zwölf Jahre und eine Ewigkeit.

Rachel hob eine Handvoll Sand auf und ließ ihn durch die Finger rinnen. Von jenem Moment an, als Shadrach getötet worden war und sie und Sybil aus Seir, der Hauptstadt Horebs, flüchteten und nach einem Unterschlupf suchten, der ihnen Schutz vor dem Mashiah bot, hatte sie nichts als Leid erlebt. Jeremiel war nach Horeb gekommen, um den Kampf gegen den Mashiah zu organisieren. Rachel war zu Adoms Palast geschickt worden, wo sie sein Vertrauen erringen sollte, damit sie ihn töten konnte, sobald Jeremiel seinen Angriff begann. Und sie hatte es getan … sie hatte Adom ermordet. Wenn Rachel die Augen schloß, konnte sie ihn immer noch vor sich sehen, wie er zu ihr aufschaute. Langes blondes Haar, das über seine breiten Schultern fiel, Blutblasen auf seinen Lippen, eine klaffende Messerwunde in der Brust. In seinen Augen erblickte sie all die kindliche Unschuld, die Sanftmut und die Liebe, die ihr das Herz zerrissen hatte, und seine letzten Worte drangen wie Donnerhall in seine Seele: »Es … ist schon gut, Rachel. Ich weiß, daß du … auch nur das Leiden … beenden wolltest.«

Und wozu war all dieser Schmerz gut gewesen? Hatte er ihr geholfen, als sie vor dem Thron Gottes stand und voller Angst auf den schwarzen Wirbelwind jenseits des Flusses aus Feuer starrte? Hatte er ihr Mut oder Wissen verliehen, als sie seine unendliche Weisheit herausforderte mit ihrer Anklage, er sei entweder nicht gut, nicht allmächtig oder nicht allwissend?

Nein. Epagael hatte sie aus dem Himmel geschleudert. Sie war durch die ewige Dunkelheit der Leere gestürzt, um sich schließlich in einer Eishöhle in der Nähe der polaren Kammern wiederzufinden – wo sie langsam erfror. Und dann kam Aktariel und hatte sie gerettet. Sie erinnerte sich daran, wie sein goldenes Licht diamantengleich von den eisverkrusteten Wänden zurückgeworfen wurde. Er hatte sie in die Arme genommen, mit seinem Körper gewärmt und sanft ihr Haar gestreichelt. »Schlaf, Rachel … Und mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, daß dir jemand etwas tut. Nicht einmal Gott.«

Unwillkürlich erschauerte Rachel. Sie fühlte sich so allein und verängstigt. Selbst das Rauschen des warmen Windes, der durch die Baumkrone über ihr strich, schien einen bösartigen Unterton zu haben. Nachdem sie mit Cole Tahn auf Tikkun gelandet war und dort die Schrecken von Block 10 gesehen hatte – Babys, die in Müllbehältern gesammelt wurden; Kinder, von lachenden Soldaten kaltblütig niedergemetzelt; zu Skeletten abgemagerte Männer und Frauen, die Schwerstarbeit leisten mußten – nachdem sie all das gesehen hatte, fragte sie sich, ob es in diesem Universum überhaupt so etwas wie Güte gab.

Grauenvolle Szenen stoben durch ihr Bewußtsein wie Funken, die der Wind von einem Lagerfeuer emporsteigen läßt. Tief in ihrem Innern sehnte sie sich danach, daß in diesem Universum das Glück triumphierte, so wie Gott es ihren Vorfahren versprochen hatte, wenn sie gut und gerecht wären und dem Weg seiner Wahrheit folgten.

Doch das würde niemals geschehen. Wieder und wieder hatte sie die multiplen Universen nach einer Möglichkeit durchforscht, es geschehen zu lassen.

Und vielleicht hatte sie ja eine solche Möglichkeit gefunden … obwohl sie betete, daß Aktariel noch nichts davon ahnte. Es gab noch zu viele Details, um die sie sich kümmern mußte. Wenn er herausfand, was sie tat, würde er sie mit Sicherheit aufhalten.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen großen Mann, der auf sie zukam. Braunes Haar fiel über die Schultern seiner grobgewebten Robe, und der lange Bart wurde vom Wind gegen seinen Hals gedrückt. Er hatte eine gerade Nase und große dunkle Augen. Der Mann ließ sich Zeit, spazierte gemächlich am Ufer entlang und streichelte sanft jede einzelne Ziege, an der er vorbeikam, als wolle er sie durch seine Anwesenheit beruhigen.

Der Anblick belebte Rachel ein wenig. Als der Mann näherkam, schenkte er ihr ein schwaches, entschuldigendes Lächeln, setzte sich neben sie in den Sand und schaute über das Wasser, über dem die Vögel mit in der Sonne golden aufblitzenden Schwingen dahinschwebten.

»Ha Notzri«, fragte Rachel, »warum folgst du mir?«

Der Mann zuckte die Achseln, hob ein Stück Treibholz auf und drehte es zwischen den Fingern. »Tut mir leid«, meinte er.

»Wartest du auf mich?«

Er nickte ein wenig beschämt. »Ja.« Er deutete zu einer Gruppe von drei Bäumen am Seeufer hinüber. »An zwei Tagen in jeder Woche sitze ich dort, beobachte diesen Platz und hoffe, daß du zurückkehrst.«

Rachel schüttelte den Kopf. Sie hatte versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, indem sie mal nachts, mal vor Morgengrauen, und manchmal auch gar nicht herkam. Doch der stille Frieden dieses Ortes zog sie an wie eine Wasserstelle das Wild. Sie konnte nicht fortbleiben – aber sie durfte es auch nicht riskieren, mit ihm zu reden. Sie hatte sein Schicksal in anderen Universen beobachtet und wußte, wie gefährlich er war. Schon oft hatte sie sich gefragt, was in ihrem eigenen Universum aus ihm geworden wäre, hätte er einen Freund gehabt, der diese Bezeichnung verdiente. Nicht diese pathetischen, stumpfsinnigen Narren, deren ganze Tapferkeit sich darin erschöpfte, die Hände zu ringen und zu jammern, als er starb. In diesem Universum jedoch war er nicht mehr als ein sorgenfreier Fischer, der den größten Teil seines Lebens damit zubrachte, in einem winzigen Boot über den See zu fahren. Doch es konnte sehr viel mehr aus ihm werden, wenn sie ihn ermutigte und leitete … Und dann würde der Stoff der multiplen Universen unter dem Gewicht dessen, wozu er sich gezwungen sah, erbeben und zerreißen.

»Warum wartest du auf mich, Ha Notzri?«

Er betrachtete sie mit dunklen Augen, in denen ein gehetzter Ausdruck lag. »Weil … ich glaube, ich brauche dich.« Er legte eine Hand auf seine Brust. »Ich fühle es in meinem Herzen. Woher kommst du, Rachel?«

»Von sehr weit her«, erwiderte sie kühl und raffte ihre weiße Robe zusammen, um sich zu erheben.

Er legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie aufzuhalten. »Bitte, Rachel, ich flehe dich an, sprich mit mir. Nur für ein paar Minuten. Mehr will ich gar nicht.«

»Das kann ich nicht, Ha Notzri. Es wäre für uns beide nicht gut. Aber das habe ich dir doch schon früher gesagt.«

Ein verlorener Ausdruck trat in sein Gesicht, so einsam und verlassen, daß Rachel in ihrem Entschluß wankend wurde. Was konnte es schaden, wenn sie sich ein paar Minuten über belanglose Dinge mit ihm unterhielt? Vor allem, wenn sie ihm das Reden überließ und selbst nur zuhörte?

Er schien ihre Entscheidung zu spüren. »Du bleibst? Das macht mich glücklich. Jedesmal, wenn wir miteinander sprechen, wird mir leicht ums Herz. Du hast mich so vieles gelehrt, Rachel. Schon seit einem Jahr denke ich darüber nach, was du über das Böse gesagt hast.«

Ein eisiger Schauer lief Rachel über den Rücken. Für ihn mochte es wie ein Jahr erscheinen, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Für sie war es ein Monat und doch kein Monat. Die Ewigkeit ließ sich nicht unterteilen. Aber sie hatte nichts gesagt! Stets war sie äußert sorgsam darauf bedacht gewesen, nichts zu erwähnen, was die Zukunft dieses Universums ändern könnte. Rachel blickte ihn an und nahm die schlichte Würde seines Gesichts und die Breite seiner Schultern in sich auf. »Was habe ich denn gesagt? Verrate es mir.«

»Du erinnerst dich nicht?« fragte er mit einem Lächeln, das jedoch schwand, als er den bitteren Ernst in ihrem Blick bemerkte.

»Sag es mir!«

Notzri antwortete so eilig, daß die Worte förmlich aus ihm heraussprudelten. »Wir sprachen über allerlei Nebensächlichkeiten, über die Wasserversorgung und wie weit die Frauen die Eimer tragen müssen und wann die Datteln reif sind. Ich gab dir eine Blume, ein kleines blaues Ding, das in der Wüste wächst. Du hast gelacht, aber du hattest dabei Tränen in den Augen.« Er streckte zögernd den Arm aus, um ihre Hand zu berühren, und streichelte über ihre Finger. Bei jedem anderen Mann hätte Rachel die Hand weggezogen, doch sie wußte, daß er sie mit der gleichen Absicht streichelte wie die Ziegen – um einen Schmerz zu lindern, den er nicht verstand. »Und ich habe dich gefragt, weshalb Schönheit dich zum Weinen bringt.«

Er hielt inne, und Rachels Herz klopfte hart. Was? Was habe ich gesagt? »Und?«

»Du hast gesagt …«, er lächelte scheu, » … ich erinnere mich noch genau an die Worte: ›Kannst du dir vorstellen, daß die Schönheit einer Wildblume verblaßt, wenn dein Herz gebrochen ist und dein Kind vor Hunger weint? Kannst du begreifen, daß Verzweiflung jeden Sonnenaufgang trübt?‹ Und ich habe darauf geantwortet, daß er, der Fleisch wurde und gelitten hat, die Sünde von uns nahm, und daß daher Leid Erlösung bedeutet.«

Rachel atmete erleichtert auf. Sie hatte ihm nichts gesagt, nichts von Bedeutung jedenfalls.

»Das stimmt nicht ganz, Ha Notzri«, improvisierte sie. »Du mußt wissen, daß ich mich ebenfalls erinnere. Du hast die Römer als Beispiel benutzt. Du sagtest: ›Vielleicht kann die Befreiung nur mit Blut erkauft werden, aber wir sollten Gott danken, daß sie überhaupt erkauft werden kann.‹«

»Tatsächlich?« meinte er mit einem verdutzten Grinsen. »Habe ich etwas so Tiefsinniges wirklich gesagt? Ich erinnere mich jedenfalls nur an deine Worte. Meine Bemerkungen erschienen im Vergleich dazu unbedeutend.«

Für einen Moment wirkten seine Augen wie tiefe, dunkle Höhlen. Dann senkte er den Blick und betrachtete das Stück Treibholz.

»Warum haben dich meine Worte über die Blume so beschäftigt, Ha Notzri?«

»Weil sie einen Vorwurf an Gott in sich tragen«, sagte er unsicher. »Ich meine, wenn du glaubst, daß die Verzweiflung jeden Sonnenaufgang verfinstert, dann denkst du zugleich, das Leid überwiege das Glück. Und dann mußt du auch fragen, weshalb Gott die Welt so geschaffen hat.«

Die Leere in Rachels Brust schien sich rasend schnell auszudehnen. Sie antwortete nicht.

»Warum glaubst du, hat Gott die Welt so geschaffen?« drängte er weiter.

»Sag du es mir.«

Notzri bewegte sich unruhig und sah Rachel von der Seite her an. »Ich habe eine Reise unternommen. Ich habe mich nach Khirbet Qumran begeben, um mit den Mystikern dort zu sprechen. Sie sagten mir etwas, von dem ich glaube, daß es dich auch interessieren wird.«

»Und was?«

Notzri rückte etwas näher an sie heran. »Es ist eine Gruppe sonderbarer Menschen, aber sie glauben einige Dinge, die mir sinnvoll erscheinen. Wußtest du beispielsweise, daß sie den Schöpfergott für verderbt halten? Und daß deshalb auch alles, was er geschaffen hat, verderbt ist?«

Er bedachte sie mit einem unschuldigen Blick, der Rachel an Adom erinnerte und ihren Schmerz neu aufflammen ließ.

»Aber wenn sie der Meinung sind, daß der Schöpfer verderbt ist, wem huldigen sie dann?«

»Das ist der Punkt, über den ich wirklich gern mit dir reden wollte.« Notzri lächelte begeistert und ließ das Stöckchen fallen, das im Sand steckenblieb. »Sie glauben, es gibt noch einen höheren Gott. Einen, der aus – wenn dies das richtige Wort ist – unermeßlichem Licht besteht, rein und unbeschreiblich, perfekt und unvergänglich.«

»Sie glauben also, der Schöpfer und der Schatz des Lichtes sind verschieden? Das ist interessant.«

Ha Notzris Augen weiteten sich. »Du nennst es den Schatz …« Er unterbrach sich und drehte sich um, als hinter ihm leise Schritte im Sand erklangen. Der süße Duft von Rosen erfüllte die Luft, und Rachel schloß wissend die Augen. Sein Bild schwebte vor ihren geschlossenen Lidern, schön und ehrfurchtgebietend.

»Hallo«, sagte Ha Notzri ein wenig ängstlich. »Wie ich sehe, bist du ebenfalls zurück. Sei willkommen, Freund.«

Rachel spürte Aktariels Blick, der auf ihrem Hinterkopf ruhte. »Ich habe nach Rachel gesucht. Allerdings hätte ich nicht gedacht, sie hier bei dir zu finden. Würdest du uns bitte entschuldigen, Yeshwah? Ich muß allein mit Rachel reden.«

Der Klang der tiefen, unendlich sanften Stimme ließ Rachel erschauern. Ha Notzri beugte sich vor, um noch einmal ihre Hand zu streicheln. »Ich hoffe, ich sehe dich bald wieder. Danke, daß du dich mit mir unterhalten hast. Ich werde mich bemühen, noch mehr zu lernen, während du fort bist.« Mit diesen Worten erhob er sich und schlenderte am Ufer entlang zu jener Baumgruppe, von wo aus er sie zweifellos beobachten und sich fragen würde, wer und was sie waren.

»Rachel«, sagte Aktariel vorwurfsvoll, »wie oft muß ich dir noch erklären, daß es sehr gefährlich für dich ist …«

»Du mußt es mir nicht erklären.«

Sie warf einen Blick über die Schulter. Der Wind drückte Aktariels blaues Gewand gegen seine breite Brust und zeichnete den muskulösen Körper nach. Ihn so zu sehen – ohne den goldenen Glanz –, erweckte in ihr immer das Gefühl, Schmetterlinge flatterten in ihrem Magen. Aktariel hatte sich angewöhnt, in ihrer Gegenwart auf seine schimmernde Erscheinung zu verzichten, weil er wußte, daß sie sich wohler fühlte, wenn er seine menschliche Form annahm – oder vielleicht auch, weil sie dann beeinflußbarer war.

»Selbst die kleinsten Dinge, sogar solche, die dir völlig unbedeutend erscheinen, könnten diese Vergangenheit in einer Weise verändern, daß …«

»Ich weiß, Aktariel.«

»Wirklich? Ist dir auch klar, daß eine Veränderung in diesem Universum Auswirkungen auf alle anderen hat? Jede Wahl, die Ha Notzri aufgrund eines Gespräches mit dir trifft, beeinflußt Milliarden und Abermilliarden alternativer Universen. Solche Veränderungen können sich wie ein Lauffeuer über die Leere hin ausbreiten – und das gesamte Gewebe in Brand setzen.«

Gelassen nahm Rachel einen Kiesel auf und schleuderte ihn in Richtung des Sees, wo er mit einem Aufspritzen versank. Sie kannte die Risiken. »Wie stehen die Dinge in meinem Universum?«

»Es wird mit jedem Moment schlimmer. Cole Tahn hat soeben Amirah Jossel gefangengenommen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir …«

»Wird Tahn überleben?« Rachel drehte sich um und blickte ihn an.

Aktariels Miene verhärtete sich. Er strich mit seiner Sandale den Sand glatt. »Schwer zu sagen.«

Er machte ein paar Schritte und blieb vor Rachel stehen. Sie hielt Aktariels machtvollem Blick stand, und all ihr Elend wuchs zu einer unerträglichen Last. Schließlich schloß sie die Augen und legte die Stirn auf ihre Knie.

Beide schwiegen. Rachel lauschte auf das Blöken der Schafe, mit dem sie Yeshwah begrüßten; dann drehte sie den Kopf und betrachtete die Sandkörner, die langsam in die Kuhle rieselten, die sein Körper hinterlassen hatte.

»Rachel, du quälst dich nur selbst, wenn du hierher kommst. Ich wünschte, ich hätte dir diesen Ort nie gezeigt.«

Rachel rieb ihre Stirn gegen die Knie und nahm allen Mut zusammen, um jene Frage zu stellen, die schmerzlich in ihr nagte. »Ich nehme an, daß Nathan geboren wurde?«

Aktariel ließ sich neben ihr nieder. »Ja.«

Ein Schluchzen drang aus Rachels Kehle. »Ich kann es nicht tun, Aktariel! Verstehst du? Ich kann nicht! Sie ist meine Tochter. Und er ist mein Schwiegersohn.«

Aktariel strich seine Ärmel glatt und mied ihren Blick, doch seine Geste war so eindeutig wie der Schlag des Hammers, mit dem ein Richter sein Urteil unterstreicht. Schließlich schaute er wieder auf und sagte sanft: »Das liegt bei dir. Du kennst den Einsatz. Und du weißt, daß das Schicksal einzelner vor der Gesamtheit der Dinge bedeutungslos ist.«

»Ja, aber … Sybil ist so schwer verwundet worden. Können wir nicht einfach …«

»Nein. Ich wünschte, wir könnten es. Aber wir haben nicht die Möglichkeit, das Leiden für ein paar Auserwählte in jenem Universum zu beenden. Es heißt alles oder nichts.«

»Allein der Gedanke bricht mir das Herz.«

»Wenn wir uns in das Muster des Schicksals von Sybil oder Nathan einmischen, könnte dies das Ende all unserer Pläne bedeuten. Um das zu ändern, was Epagael niedergeschrieben hat, müssen wir uns präzise bewegen und einen Schritt nach dem anderen machen, oder all unsere Arbeit wird vergeblich sein. Was wir hier errichten, ist ein Kartenhaus, Rachel. Jeder Windstoß könnte es zusammenbrechen lassen. Aber es tut mir leid, daß es auf diese Weise geschehen muß.«

Er strich sanft über Rachels langes schwarzes Haar. Sie wich vor ihm zurück und rutschte ein Stück nach hinten, um den Rücken gegen den kühlen Stamm des Granatapfelbaums zu lehnen. Aktariel ließ die Hand sinken und wühlte mit den Fingern durch den Sand, ohne jedoch den ruhig abwägenden Blick von ihr zu nehmen.

»Aktariel, ich habe eine Frage.«

»Worum geht es?«

»Um Epagael und den Schatz des Lichtes.«

»Epagael ist der Schatz des Lichtes.« Aktariels Augenbrauen zogen sich zusammen. »Zumindest, soweit der Schatz uns betrifft.«

»Was bedeutet das? Verhält es sich vielleicht so wie mit den beiden Seiten ein und derselben Münze? Ha Notzri hat mir gerade erzählt, die Mystiker in Qumran …«

»Ah, ich verstehe.« Aktariel lehnte sich zurück und stützte sich auf die Ellbogen. »Das ist das andere Problem, das durch deine Anwesenheit hier entsteht. Laß uns eines klarstellen, Rachel. Yeshwah mag in deinem Universum einer der Vorväter des gamantischen Volkes gewesen sein, doch in diesem hier ist er das nicht. Er weiß nichts über die Natur der Leere. Allerdings muß ich zugeben, daß die Lehren dieser Zeitepoche durchaus faszinierend sind. Insbesondere die Mystiker in Qumran haben gewissermaßen an der Rinde gekratzt. Aber echtes Verständnis für die wahren Grundlagen der Realität besitzen sie nicht.«

»Was meinst du damit, sie haben an der Rinde gekratzt?«

»Das reshimu, jener Rückstand des Lichts, das im Universum verblieb, als Gott einen Teil von sich abtrennte, um den Samen der Schöpfung in die Leere zu pflanzen. Einige dieser Mystiker können die Grenzen ihres eigenen Bewußtseins überschreiten und mit der Hintergrundstrahlung verschmelzen. Diese seltenen Individuen erspüren das Muster im Irrgarten des Chaos. Doch was sie dabei berühren, ist nicht der Schatz selbst, sondern eine Fälschung.«

Rachel betrachtete stirnrunzelnd die Granatäpfel an den Ästen über ihrem Kopf. »Ich bin mir nicht mehr so sicher, daß du recht hast«, erklärte sie. »Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, ob ihr, du und Epagael, nicht einfach einer besonders fremdartigen Alien-Rasse angehört. Bei meinen Sprüngen in alternative Universen habe ich gesehen …«

Aktariel lachte leise. »Aliens? Das ist gar keine so schlechte Beschreibung. Insbesondere, wenn man Gott so bezeichnet. Er ist in Bezug auf alles in diesem Universum tatsächlich ein Alien, ein Fremdwesen.«

In einer gleitenden Bewegung streckte er sich lang aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Aber reden wir ruhig darüber. Nach der letzten Woche käme mir eine gute intellektuelle Diskussion gerade recht.«

Rachel betrachtete ihn argwöhnisch. Üblicherweise ließ er sich nur dann auf derartige Gespräche ein, wenn er sie schon lange vorher geplant hatte. »Am Anfang war alles, was existierte, reines Licht, richtig?«

»Richtig.«

»Das Licht trennte einen Teil von sich selbst ab, um die dunkle Leere zu säen. Doch in der Leere verblieb ein Rückstand des Lichtes, das reshimu – so wie Parfum, das immer noch die Flasche mit seinem Duft erfüllt, auch wenn der Inhalt selbst schon längst verschwunden ist.«

»Ganz recht. Obwohl man vielleicht besser sagen sollte, daß Epagael einen Teil von sich abtrennte. Aber sprich weiter.«

»Epagael schickte einen unbedeutenden Teil seiner selbst in die Leere, und die Schöpfung begann.«

»Nicht ganz«, meinte Aktariel nachdenklich. »Die Schöpfung begann erst, als die Hüllen des Lichtes barsten. Erinnerst du dich, warum sie zerbrachen?«

»Sie wurden vom reshimu verdorben.«

»Genau.« Aktariel zog Yeshwahs Stöckchen aus dem Sand und gestikulierte damit. »Ohne die Vollständigkeit Gottes verdarb das Licht, das in der Leere gefangen war, und wurde zu einem düsteren Überbleibsel der ursprünglichen Substanz. Als Epagael die mit reinem Licht gefüllten Hüllen in die Leere schleuderte, wurden sie ebenfalls verdorben, zerbarsten und verstreuten sich über die Leere.«

»Und entwickelten ein eigenes Bewußtsein?«

»Aber ja. Das Bewußtsein dieses Universums, das die Vollständigkeit der Realität leugnet, unterscheidet sich stark vom Bewußtsein Gottes. Es ist chaotisch und gewalttätig. Und deshalb ist Epagael so sehr davon fasziniert.«

»Und wir erleben das Chaos als Leid.«

»So ist es.«

»Adom hat mir einmal erzählt, mit jedem Moment, den die Schöpfung weiter andauert, würde das Chaos weitere Fühler ausstrecken, die sich wie ein Krebsgeschwür durch den Körper des Universums winden. Er meinte, nicht einmal die Entropie könne das Leiden beenden.«

Aktariels Blick verdüsterte sich, als er Adoms unschuldiges Gesicht vor sich sah. Rachel bohrte einen Finger in den Sand und zeichnete eine Spirale. Kreise innerhalb von Kreisen. So arbeitet der Stoff der Leere.

»Die Kulmination der Entropie wird das Universum nur frei machen für eine weitere Zuführung göttlichen Lichtes«, erwiderte Aktariel. »Und da das reshimu am Ende der Zeit noch stärker verdorben sein wird, zerplatzen die frischen Hüllen des Lichtes sofort. Und ich fürchte, die neuen Wesen, die zu einem Leben in einem derart verdorbenen Universum verdammt sind, werden noch schrecklicher leiden als wir.«

»Noch mehr?«

Aktariel atmete langsam und tief ein. »Ja. Wir müssen Epagael zwingen, all die gequälten Bewußtheiten zu reabsorbieren, damit er das Leid wirklich fühlen und verstehen kann, wie schrecklich es ist.«

»Besitzt er denn das Mitleid, das nötig ist, um zu verstehen?« Als Rachel Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatte, war er ihr keineswegs mitfühlend erschienen.

Aktariel senkte den Kopf. »Ich glaube schon. Und vielleicht wird seine Persönlichkeit wachsen und sich verändern – wie die eines Kindes, wenn es den Schrecknissen des Lebens begegnet.«

»Du klingst so, als würdest du erwarten, daß Gott zu jemand anderem wird.«

Aktariel sah Rachel voller Trauer an. »Gott ist Gott – ungeachtet, wie er ist, Rachel.«

Rachel empfand eine plötzliche Leere in ihrem Innern. »Du meinst, Gottes Persönlichkeit ist irrelevant für seinen … Status oder … für was?«

Aktariel lächelte leise. »Für seine Essenz. Die Essenz des reinen Lichtes bleibt die gleiche, nur der Geschmack ändert sich.«

»Ist das jemals geschehen? Hat sich Epagaels Persönlichkeit jemals vollständig verwandelt?«

Aktariel blinzelte nachdenklich. »Wenn ich darauf antworte, wirst du dann auch mir eine Frage beantworten?«

Rachels Herz pochte plötzlich hart. »Welche?«

»Rachel, was immer du auch sonst glauben magst«, sagte Aktariel ernst, »ich bin sicher, du verstehst, daß ich für die Erlösung von Billionen kämpfe. Du wirst meine Anstrengungen doch nicht sabotieren, indem du in anderen Universen Gott spielst, oder?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Aktariel seufzte enttäuscht. »Lüg mich nicht an, Rachel. Das könnte ich nicht ertragen. Ich weiß, daß du Nathans Zukunft gesehen hast und tiefen Schmerz darüber empfindest, aber du mußt verstehen …«

»Ich verstehe durchaus. Halte mir keine Predigten. Du weißt, daß ich so was hasse.«

Aktariel wandte sich ab und betrachtete das Sonnenlicht, das auf dem See glitzerte.

»Ja. Verzeih mir. Aber wir stehen so dicht vor dem Ende. Du mußt nicht in meiner Mannschaft mitspielen – das habe ich nie von dir verlangt. Aber ich bitte dich, Rachel, arbeite nicht gegen mich! Ich habe nicht die Zeit, dir zu folgen, um deine Einflußnahmen auszugleichen!«

Rachel erhob sich ärgerlich und zog das Mea aus ihrem Gewand hervor. Sie hob die Hand zum Himmel empor, und ein schwarzer Wirbelwind erhob sich und bildete ein klaffendes Loch vor dem Hintergrund der Hügelkette. Die warmen Winde der Ewigkeit ließen die Äste der Bäume erzittern.

»Wer war Gott, bevor er Epagael wurde, Aktariel? Ich will es wissen!«

Doch bevor er antworten konnte, machte sie einen Schritt vorwärts und verschwand in der Dunkelheit. Der Wirbel schloß sich hinter ihr. Und sie lief mit aller Kraft.

Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
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