KAPITEL
17
Jeremiel saß allein in seiner Kabine und starrte das Blatt an, das vor ihm auf dem schwarzen Tisch lag. Geistesabwesend hob er den Becher mit längst erkaltetem Taza und trank einen Schluck.
Magistratische Flottillen in den Systemen Moran und Tonopah. Überwache alle Bewegungen. Melde mich sobald wie möglich wieder.
Captain Simeon Lakish
Jeremiel klopfte nachdenklich mit dem Finger auf das Blatt. Ein leeres Gefühl machte sich in seinem Innern breit. Lakish war der Commander eines Frachters, der zum geheimdienstlichen Zweig der Untergrundflotte gehörte. Sein Schiff, die Derekh, unternahm ganz gewöhnliche Handelsreisen, behielt dabei aber die magistratischen Truppenbewegungen im Orion-Arm der Galaxis im Auge.
Wenn die Regierung Schiffe sowohl ins Moran- wie ins Tonopah-System geschickt hatte, konnte das nur eines bedeuten:
Ein Offizier hatte dem Druck nicht standgehalten.
Jeremiel rieb sich die Stirn und versuchte, Angst und Hoffnung zu unterdrücken, die gleichermaßen in ihm aufstiegen. Jeder, der bei dem Angriff auf Kiskanu in Gefangenschaft geraten war, konnte, ungeachtet seines Ranges, den früheren Aufenthaltsort der Untergrundflotte im Moran-System preisgegeben haben. Doch nur Carey oder Samuals hatten Kenntnis von den Geheimoperationen, mit denen der Untergrund im Tonopah-System Zwietracht unter den von den Magistraten sanktionierten planetaren Regierungen zu säen versuchte.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Lampe über dem Tisch tauchte alles in ein flackerndes Licht. Auf dem Tisch stand noch immer die Flasche Whiskey, die Tahn mitgebracht hatte, unberührt seit ihrem letzten Treffen in dieser Kabine. Im Hintergrund sang Billie Holliday ›Good Morning, Heartache‹. Der Schmerz in ihrer Stimme drang tief in Jeremiels Seele.
Carey hatte ihm die Platte zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt. Sie kannte seine Leidenschaft für Billie und hatte jeden Hafen durchstöbert, in dem sie anlegten, bis sie schließlich dieses seltene Stück aufgetrieben hatte. Er erinnerte sich an das fröhliche Lächeln auf ihrem Gesicht, als er das Geschenk auspackte.
Jeremiel schob den Becher nervös auf dem Tisch hin und her. »Das bedeutet noch lange nicht, daß Carey lebt«, sagte er zu sich selbst. »Es klingt eher nach Samuals.«
Er sah sich im Zimmer um. Alles erinnerte ihn an Carey: ihre Bücher, die Schallplatten, das elfenbeinfarbene Nachthemd, das noch immer auf dem Bett lag. Er war noch nicht in der Lage gewesen, es dort wegzunehmen. Und er bezweifelte, es jemals zu können.
Für Jeremiel war Carey nicht tot. Er spürte jederzeit ihre Gegenwart – bei den Strategiesitzungen, beim Essen und ganz besonders, wenn er sich allein in seiner Kabine befand. Sie war da. Jener Teil von ihr, der sicher in seinem Innern verborgen war, gab ihm immer noch Ratschläge, stritt vehement mit ihm über seine Pläne und betrachtete ihn doch stets voller Liebe. Manchmal tastete er in der Nacht nach ihr, und wenn seine Hand dann das leere kalte Laken berührte, tat er so, als wäre es ihre Hand und umklammerte es fest. Er hatte sich sogar schon dabei erwischt, wie er laut mit ihr sprach, ihre Einwände gegen seine Planungen diskutierte und andere Möglichkeiten erwog.
Für ihn war sie nicht tot.
Doch sein Herz schrie, sie sei doch tot, und er solle sich zusammenreißen und lernen, mit der Wahrheit zu leben.
Doch er hörte nicht auf sein Herz. Zumindest jetzt hatte es keinen großen Einfluß auf ihn, auch wenn das nach der Schlacht um Horeb anders sein würde … und auch für den Rest seines Lebens.
Er rieb sich die Arme, um sich zu wärmen. Zur Nachtzeit wurden die Temperaturen im Schiff automatisch abgesenkt. Natürlich hätte er mit dem Thermostat die Kabinentemperatur heraufdrehen können, doch üblicherweise verzichtete er darauf, weil er die Kühle als belebend empfand.
Jeremiel kippte den Sessel nach hinten, lehnte den Kopf gegen die Wand und schaute ziellos nach oben. »Wie läuft es bei dir, Cole?« Wenn Tahn Jossel nicht bei ihrem Antrittsbesuch schnappte, würde es ihm nie gelingen. Und wenn er es schaffte, fing der schwierige Teil erst an.
Das Warten zerrte an seinen Nerven. Mit äußerster Vorsicht hatten sie die fünf Kreuzer überwacht, die sich im Orbit um Horeb befanden. Nicht einer von ihnen zeigte irgendwelche Aktivitäten. Sie gingen nicht in Formationsflug, unternahmen keinerlei Manöverübungen, gar nichts. Wieso nicht? Wenn ein Offizier unter den Gehirnsonden zusammengebrochen war, würde Palaia die Kreuzer doch sicher vor der bevorstehenden Attacke des Untergrunds warnen. Oder etwa nicht? Und wenn nicht, warum nicht? Wüßte er um die Pläne des Untergrunds, hätte Slothen längst zwanzig weitere Schlachtkreuzer nach Horeb geschickt. Oder hatte der regierende Magistrat seine Schiffe so weit verstreut, daß er sie nicht schnell genug herbeordern konnte?
Aber darauf konnte Jeremiel sich auch nicht verlassen.
Methodisch strich er mit dem Daumen an der Tischkante entlang. Er biß die Zähne zusammen und versuchte, die Fragen zu verdrängen, die sich vor ihm auftürmten. Zu viele Dinge ergaben keinen Sinn.
So fragte Jeremiel sich schon seit Jahren, warum Slothen nicht einfach einen der großen Schlachtkreuzer anwies, Mikaels und Sybils Streitkräfte vom All aus anzugreifen und zu vernichten. Die beiden hatten bei vielen ihrer Angriffe auf Ornias’ Truppen Brillanz und Dreistigkeit bewiesen – doch um sie durchzuführen, mußten sie die Sicherheit der polaren Kammern verlassen. Und jeder Kreuzer im Orbit könnte präzise feststellen, wann, wo und wie viele Gamanten Ornias’ Truppen einen Hinterhalt legten.
Warum hatte Slothen sich immer geweigert, seinen Kreuzerkapitänen die Weitergabe derartiger Informationen an den Militärgouverneur des Planeten zu gestatten? Ornias war ein Idiot, das stimmte schon, aber keineswegs inkompetent. Fraglos hätte er dank derartiger Mitteilungen erstaunliche Erfolge erzielt, Mikaels und Sybils Operationen im Keim erstickt und die beiden vermutlich schon vor Jahren getötet. Wollte Slothen, daß die Familie Calas am Leben blieb?
Eine weitere ungeklärte Frage war, weshalb Slothen Jossel überhaupt hergeschickt hatte. Nachdem bereits vier Kreuzer als ›Friedensbewahrer‹ über dem Planeten schwebten, hätte ein Funkspruch an Abitha Stein, die Kommandantin der Hammadi, doch völlig ausgereicht. Sie hatte das Oberkommando über die militärischen Aktionen auf Horeb. Stein besaß vielleicht nicht den strahlenden Ruhm Jossels, doch sie war für kühle Pflichterfüllung bekannt.
Ganz gleich, was Slothen vorhatte, ob er mehr Truppen auf dem Planeten absetzen lassen oder die Feuerkraft der Schiffe in die Kämpfe einbeziehen wollte – Stein und auch jeder andere der über Horeb stationierten Captains wäre problemlos mit dieser Aufgabe fertig geworden. Schließlich waren es kaum tausend Gamanten, die dort unten um ihr Leben kämpften – selbst die Truppen eines einzigen Kreuzers würden, mit mobilen Geschützen ausgerüstet, völlig ausreichen, um jedes einzelne Versteck auszuräuchern.
»Was für ein Spiel treibst du hier, Slothen?«
Irgend etwas Geheimnisvolles, Undurchschaubares. Etwas mit einem hohen Einsatz.
»Es ist fast so, als würde Slothen auf ein bestimmtes Ereignis warten, in dem Jossel eine Schlüsselrolle spielen soll – eine Rolle, die niemand außer ihr ausfüllen kann.«
Und wie es aussah, besaß Jossel keine Vergangenheit. Er hatte jede verfügbare Quelle angezapft, um etwas über ihr Vorleben zu erfahren, doch ohne Ergebnis. Natürlich, die reinen Fakten waren durchaus zugänglich: Geboren auf Rusel 3. Die Eltern wurden getötet, als sie dreizehn war. Lebte danach bei der Großmutter. Die Großmutter verschwand auf mysteriöse Weise. Man fand nicht die geringsten Spuren oder sonstige Hinweise. Der Vater war Angestellter in der Personalabteilung der Regierung gewesen. Jossel war mit sechzehn in die Akademie eingetreten – sehr jung, aber auch sehr brillant. Slothen hatte ihr seine persönliche Aufmerksamkeit geschenkt. Mehr als anderen jungen, brillanten Kadetten, wie es schien. Der Magistrat hatte jede ihrer Prüfungsarbeiten eingesehen und darauf bestanden, bei der alljährlichen psychologischen Untersuchung stets anwesend zu sein, um ›ihre Fortschritte zu beobachten‹. Was immer das auch bedeuten mochte.
Merkwürdig, in der Tat. Jeremiel wußte von keinem anderen Kadetten, der so jung aufgenommen und eine derartige Sonderbehandlung genossen hatte.
»Hat Slothen dich auf eine spezielle Mission vorbereitet, Jossel? Und gegen wen? Gegen gamantische Führer wie Mikael und Sybil? Den Untergrund? Die Gamanten ganz allgemein? Gegen wen?«
Allerdings mußte er auch die Möglichkeit einräumen, daß die Frau diese Sonderbehandlung nur aufgrund ihrer tatsächlich außergewöhnlichen Fähigkeiten erhalten und Slothen ihr Talent schon frühzeitig erkannt hatte.
Jeremiels Sprechanlage summte. Er drückte auf den Knopf. »Baruch.«
»Commander?« Shira Gaza, seine neue Stellvertreterin, meldete sich. »Wir haben gerade eine Geheimmeldung höchster Priorität von Captain Kopal erhalten. Soll ich sie über die Aura schicken oder auf Ihren Schirm legen?«
»Auf den Schirm. Baruch Ende.«
Jeremiel erhob sich und ging eilig zur Interkomanlage hinüber. Höchste Priorität bedeutete, daß Rudy die Nachricht gebündelt und gerafft abgeschickt hatte. Das vertraute Gesicht erschien auf dem Schirm, und in Jeremiel wuchs das Unbehagen, während er lauschte:
»Rivka hat sich gemeldet – kurz bevor ihr Schiff von der Hammadi zerstört wurde«, verkündete Rudy düster. »Tahn hat Jossel erwischt. Ich schlage vor, wir starten Operation Kawwanah. Kopal Ende.«
Das Bild verschwand, und Jeremiel stützte beide Hände auf den Tisch. Er empfand Trauer um den Verlust von Leso und ihrer Mannschaft, aber Cole hatte Jossel! Er drückte auf den Knopf des Interkoms und beobachtete, wie sich das Abbild der Brücke formte. Shira drehte sich mit ihrem Sessel um. Ihre kurzen, ebenholzschwarzen Locken schimmerten im Licht. Sie war eine kleine Frau mit einem dreieckigen Gesicht, einer Stupsnase und blitzenden braunen Augen.
»Shira«, sagte Jeremiel, »Geheimbotschaft, gleichzeitig an Kopal und Wells. Fertig?«
»Bereit, Commander.«
Jeremiel warf einen Blick auf den Chronometer über seinem Bett und setzte dann eine zuversichtliche Miene auf. »Guten Morgen, Rudy und Merle. Seit genau fünf Uhr ist Operation Kawwanah in Kraft. Haltet euch bereit und wartet weitere Instruktionen ab. Baruch Ende.«
Jeremiels Blick fiel auf Careys Nachthemd. Er erinnerte sich an jenen Morgen, als sie es ausgezogen und einfach hingeworfen hatte – so wie sie es jeden Morgen machte.
Er beugte sich vor, strich über das Hemd und sagte: »Lebe für mich, Carey. Lebe!«