KAPITEL
28
Amirah saß an dem langen Tisch und leerte eine Flasche Nahrungskonzentrat, diesmal mit Apfelgeschmack. Sowohl Hände wie Füße waren gefesselt und schmerzten beträchtlich. Sie trug noch immer die blaßgoldene Robe. Vor ihr auf dem Tisch brannten drei Kerzen, deren Licht von den Kristallgläsern reflektiert wurde und ein Regenbogenmuster über die Tischdecke warf. Sie verfolgte das geometrische Muster mit den Fingerspitzen, während sie gelegentlich zu Tahn hinüberschaute. Der Captain bewegte sich an der Höhlenwand entlang und beleuchtete mit seiner Taschenlampe die Runen, die dort in den Fels eingraviert waren.
In den letzten Stunden hatten sie nicht miteinander geredet, und langsam empfand Amirah das Schweigen als Belastung. Zudem machte ihr die Sorge um ihr Schiff und die Besatzung zu schaffen. Immer wieder sah sie die Sargonid mit aufgerissenem Rumpf vor sich, aus dem die Schiffsatmosphäre in silbernen Wolken entwich. Oder ein noch schlimmeres Bild: Jason, der tot auf einem dekomprimierten Gang lag. Amirah ballte die Fäuste und versuchte, ihre Ängste zurückzudrängen. Tahn warf ihr einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, was sie tat, dann wandte er sich wieder den Runen zu.
Amirah betrachtete die merkwürdigen Zeichen, die der Schein seiner Lampe enthüllte, doch sie war zu weit entfernt, um sie genau erkennen zu können. »Haben die Runen eine bestimmte Bedeutung?«
»Ich weiß nicht. Die Art, wie sie in Gruppen zusammengefaßt sind, legt eine bestimmte Ordnung nahe, doch ob es sich nun um Buchstaben, Zahlen oder feste Begriffe handelt … Ich habe keine Ahnung.«
Amirah beobachtete, wie seine Schultermuskeln sich unter dem roten Gewand spannten. In den letzten Stunden hatten sie sich alles andere als ›unerträglich‹ gefunden. Die Anziehungskraft, die sie auf einander ausübten, erschien Amirah allerdings fast so bedrohlich wie ein auf sie gerichteter Pistolenlauf. Und Cole mußte ganz ähnlich empfinden. In den letzten Stunden hatte er sich jedenfalls auffällig von ihr ferngehalten.
Amirah hob die Hand und deutete auf eine Reihe einzelner Zeichnungen. »Wenn diese Runen nebeneinander stünden, wäre ich geneigt, sie als mathematische Symbole zu bezeichnen.«
»Das würde ich auch sagen.«
»Was glauben Sie, wie alt die Zeichnungen sind?« fragte sie.
»Nach der dicken Schicht der Ablagerungen, die sich darauf gebildet hat, würde ich sagen, zweitausend Jahre, vielleicht auch mehr, obwohl …«
Amirah blinzelte verblüfft. »Das wäre ja noch vor der Ankunft der Wüstenväter.«
»Schon möglich.«
»Wer hat denn vor ihnen hier gelebt?«
»Genau weiß ich das nicht. Ich habe mal irgend etwas über die verderbten Könige von Edom gehört. Aber wer sie waren oder was sie getan haben, ist mir auch nicht geläufig. Fragen Sie Jeremiel danach, wenn Sie ihn treffen. Ich bin sicher, er weiß sehr viel mehr darüber als ich.«
Amirah unterdrückte die aufkommende Panik. »Werde ich ihm denn begegnen?«
Tahn betrachtete sie abschätzend. »Ich glaube schon.«
Amirah hielt seinem Blick stand, obwohl ihr Herz heftig pochte. Baruch zu begegnen würde zweifellos bedeuten, daß ihr Schiff besiegt, wahrscheinlich sogar zerstört war. Haß und Verzweiflung stiegen in ihr auf. Sie verbarg ihre gefesselten Hände auf dem Schoß.
Instinktiv erfaßte Cole, was in ihr vorging. Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter. »Die Sargonid konnte gewiß entkommen«, erklärte er.
Amirah nickte ohne rechte Überzeugung und wandte den Blick ab. Tahn kam zu ihr hinüber, blieb einen Moment schweigend neben ihr stehen und sagte dann: »Ich kenne diese Furcht, die Sie im Moment empfinden. Es tut mir leid.«
»Ach ja? Dann lassen Sie mich gehen.« Sie drehte sich um und sah ihn unverwandt an. »Nein? Das dachte ich mir schon. Das einzige, was Ihnen wirklich leid tut, ist der Umstand, daß Sie hier mit mir festsitzen, statt dort oben in Ihrem Schiff zu sein. Sie haben doch ein eigenes Schiff, oder? Baruch wäre ein Narr, wenn er Sie nicht zum Captain der Untergrundflotte gemacht hätte.«
»Ja, ich habe ein Schiff«, erwiderte Tahn.
»Machen Sie sich Sorgen darum?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht besonders. Ich hatte schon immer den Verdacht, Merle wäre eine bessere Kommandantin als ich. Mein Schiff ist in guten Händen.«
»Ist sie Ihre Stellvertreterin?«
»Ja. Merle hätte schon längst ein eigenes Kommando verdient. Aber es standen nie genug Schiffe zur Verfügung. Vielleicht nach dieser Schlacht …«
Tahn unterbrach sich, als er sah, was seine Worte bei ihr auslösten. Doch auch so konnte Amirah den Satz beenden: Wenn wir ein magistratisches Schiff erobern. Sie suchte nach einer Möglichkeit, ihre Wut an ihm auszulassen. »Sie mögen weibliche Navigationsoffiziere, nicht wahr? Carey Halloway haben Sie schneller befördert als jeden Offizier vor oder nach ihr.«
»Ja, weil sie es verdiente. Sie war mit Abstand der beste zweite Offizier in der Flotte. Das müßte Ihnen eigentlich bekannt sein.«
Ah, eine verletzbare Stelle.
Amirah lachte spöttisch. »Tatsächlich? Auf der Akademie wurde immer darüber spekuliert, ob etwas zwischen Ihnen beiden war.« Natürlich stimmte das nicht, aber das konnte Tahn ja nicht wissen. »War sie wirklich Ihre Geliebte? Es wurde immer vermutet, Sie hätten sie wegen ihrer Begabungen auf nichtmilitärischem Gebiet befördert.«
Cole richtete sich auf. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte er. »Wir wissen beide, daß Halloways Leistungen jede Beförderung rechtfertigten. Und für meine unbedachte Bemerkung, Merle ein eigenes Schiff zu verschaffen, entschuldige ich mich.«
Seine Worte dämpften Amirahs Zorn ein wenig, doch noch immer verspürte sie den Wunsch, irgend etwas zu zerschlagen, nur um das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden. Sie drehte sich wieder zum Tisch und starrte die Kristallgläser an. Warum schaffte sie es nicht, ihn zu hassen? Insgeheim warf sie sich vor, sich von seinem Charme und seiner Wärme einfangen zu lassen.
Schließlich stützte sie die Ellbogen auf den Tisch, legte die Stirn auf die Fäuste und schloß die Augen.
Tahn beobachtete sie und versuchte vergeblich, das Mitgefühl zu unterdrücken, das er für sie empfand. »Amirah«, begann er, »ich weiß, was Sie …«
»Wie lange wird es dauern, Cole? Wenn Ihre Seite siegt, wann kommen sie dann, um uns zu holen?«
Trotz ihrer steinernen Miene war Tahn klar, welche verzweifelte Angst sie um ihr Schiff und die Mannschaft haben mußte. Er kannte dieses Gefühl ebenfalls und wußte, wie schwer zu ertragen es war. »Es könnte in einer Stunde soweit sein, oder auch erst in zwei Tagen. Viel länger aber wohl nicht.«
»Und was haben Sie mit mir vor, wenn meine Seite siegt? Haben Sie sich darüber schon Gedanken gemacht? Was ist, wenn Ihre Leute nie hier auftauchen?«
»Das würde mein Leben erheblich vereinfachen.«
»Das bezweifle ich. Woloc wird den ganzen Planeten auf den Kopf stellen, um mich zu finden. Und er wird Sie finden, Tahn. Und wenn er …«
»Er muß seine Zeit nicht verschwenden, um mich zu suchen«, meinte Tahn und klopfte bedeutungsvoll auf den Griff seiner Pistole. »Ich darf nicht zulassen, daß er mich findet.«
Amirah starrte seine Waffe an. »Sie würden eher Selbstmord begehen, als sich zu ergeben? Das wäre doch Unsinn. Wenn Sie sich zur Kooperation bereit erklären, wird man wahrscheinlich darauf eingehen.«
»Ein Handel?«
»Natürlich!« Amirah beugte sich vor. »Wenn Sie den Magistraten eine Liste aller geheimen Untergrundstützpunkte geben, wird man Sie freilassen und Ihnen obendrein noch eine Belohnung …«
Tahn unterbrach sie mit lautem Gelächter. Wie konnte sie nur so naiv sein. Ob sie das ernst gemeint hatte? Er warf ihr einen Blick zu. Ja, offenbar schon. Wirklich erstaunlich. Die Magistraten würden ihn sondieren, bis kein Funken Verstand mehr in seinem Gehirn zurückblieb, und dann würden sie ihn zur Abschreckung öffentlich hinrichten. Doch die andere Seite der Geschichte amüsierte ihn fast noch mehr. Ausgerechnet er sollte einen Handel mit den Magistraten abschließen? Nach allem, was er auf Tikkun gesehen hatte? Und nach dem, was sie seiner Mannschaft angetan hatten? Er wollte von Slothen nur eins: ihm persönlich die blaue Kehle durchschneiden.
Er stützte sich auf den Tisch und schaute Amirah an. »Sie sind selbst eine Gamantin, Amirah. Ich bezweifle, daß Ihr Verstand akzeptiert, was ich Ihnen jetzt sage, aber ich bin sicher, das Blut in Ihren Adern wird es verstehen: Ich würde meine Seele eher Aktariel verkaufen, als einen Handel mit den Magistraten abzuschließen. Zumindest weiß ich, was der Erzbetrüger vorhat. Die Regierung hingegen ändert ihren Kurs derart oft, daß man sich auf nichts verlassen kann.«
»Ich bin keine Gamantin«, flüsterte Amirah.
»Eines Tages werden Sie aufhören, vor sich selbst davonzulaufen. Begreifen Sie nicht, daß das, was die Regierung vorhat, Völkermord bedeutet?«
»Das ist nicht wahr!« erwiderte sie heftig. »Erst vor zwei Monaten hat Slothen uns angewiesen, Nahrungsmittel für die Rebellen auf einem der Satelliten über Palaia abzuwerfen!«
Cole schwieg einen Moment und dachte darüber nach. Im Untergrund liefen Gerüchte um, wonach Slothens Politik der eisernen Faust sich auf den Satelliten gegen ihn gekehrt hatte, doch Genaueres wußte niemand. »Die Gamanten auf den Satelliten rebellieren? Wollten Sie das damit sagen?«
Amirahs Wangen röteten sich, als sie erkannte, daß sie geheime Informationen weitergegeben hatte. Sie zog die Füße auf den Stuhl und stützte ihr Kinn auf die Knie.
Cole ging um den Tisch herum und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. Ihm fiel auf, daß Amirah leicht zitterte. Hatte sie Angst um ihr Schiff, oder steckte eher der Wunsch dahinter, ihm an die Kehle zu gehen? Beides, wahrscheinlich. Verdammt, er wünschte, er würde sie nicht so sehr mögen. Nein, es war sogar mehr als nur mögen – doch gerade jetzt wollte er sich das nicht eingestehen.
»Sprechen wir über gamantische Angelegenheiten, Amirah.«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Tahn.«
»In diesem Teil der Galaxis erfahren wir nur wenig Neuigkeiten. Wie viele Gamanten leben auf den Satelliten?«
Amirah warf ihm einen drohenden Blick zu. Die Vorstellung Hunderter rebellierender Gamanten innerhalb des Bannkreises von Palaia war für sich genommen schon schlimm genug. Wenn es dem Untergrund auch noch gelang, Leute einzuschleusen, die den Widerstand organisierten …
»Haben die Magistraten dort auch Forschungseinrichtungen aufgebaut, Amirah? Wie viele unschuldige Bürger sind schon im Namen des ›wissenschaftlichen Fortschritts‹ getötet worden? Ich möchte wetten, daß Slothen dabei auch noch verkündet, diese Forschungen dienten dem Wohl der Gamanten. Sie würden helfen, die Menschen zu zivilisieren. Glauben Sie auch an diese Propaganda?«
Ihre grünen Augen blitzten ärgerlich. »Einiges davon ist wahr.«
»Einiges von allem ist wahr. Haben Sie diese Forschungszentren schon einmal besucht?«
»Nein.«
»Aber zweifellos haben Sie gehört, was dort geschieht. Wie gehen Sie …«
»Das sind alles Lügen!«
Tahn hielt ihrem haßerfüllten Blick stand. Ihre fanatische Loyalität Slothen gegenüber verwunderte ihn. Wie kam sie dazu? Kreuzerkapitäne entwickelten eine derartige Haltung keineswegs zwangsläufig. »Sind es wirklich Lügen? Nehmen wir einmal an, es wären keine. Was würden Sie empfinden, wenn Ihre Großmutter dort wäre?«
»Es gibt keinen Anlaß, über dieses Thema zu diskutieren. Die Regierung würde niemals derartige Brutalitäten zulassen, wie sie in den Gerüchten verbreitet werden.«
»Aha.« Tahn stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wenn Sie das nächste Mal an einem Terminal mit Freischaltung für Geheimberichte sitzen, dann rufen Sie mal die neurophysiologische Akte Nr. 19118 auf. Anschließend schauen Sie sich die Berichte über Colonel Garold Silbersay an. Prüfen Sie die Angaben über die Experimente, die auf dem Planeten Jumes vorgenommen wurden, kurz bevor ich den Befehl erhielt, ihn abzufackeln. Und sehen Sie sich auch die Unterlagen über Tikkun an. Falls die Berichte noch existieren, werden Sie einige Dinge entdecken, die Sie zutiefst erschüttern werden. Mir ist es damals jedenfalls so ergangen …« Er rieb sich eine schmerzende Stelle an der Schulter. »Nun, diese Geschichte kennen Sie ja.«
»So genau nicht. Warum erzählen Sie mir nicht einfach Ihre Sicht der Dinge?«
»Sie glauben, das können Sie ertragen?«
»Es gibt nichts, was ich nicht ertragen würde.«
Und so erzählte Tahn ihr alles, angefangen bei den Belästigungen und Benachteiligungen, den Vergewaltigungen gamantischer Mädchen durch magistratische Offiziere, bis hin zum Massenmord an ›nutzlosen‹ Subjekten. Er malte ihr die Schrecknisse detailliert aus, berichtete von dem Gemetzel vor der ausgehobenen Grube, erzählte von seinem Rundgang durch Block 10, den er in Begleitung von Major Johannes Lichtner gemacht hatte, der damit prahlte, mehr als dreizehntausend Gamanten auf dem Lagergelände verscharrt zu haben.
Amirah schüttelte den Kopf und erhob sich, wobei sie sich wegen der Fesseln anstrengen mußte, das Gleichgewicht zu wahren. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte sie leise. »Sie sind so routiniert im Lügen, daß Sie …«
Wütend stieß Tahn seinen Stuhl zurück. »Warum sollte ich Sie anlügen? Dafür gibt es keinen Grund.«
»Weil Sie versuchen, meine Abstammung gegen mich einzusetzen. Sie versuchen mich zu zwingen …«
»Was kümmert mich Ihre verdammte Abstammung? Die Gefangenen auf Tikkun waren unschuldige Zivilisten, Amirah! Die Magistraten haben sie zusammengetrieben und Experimenten unterzogen, die wesentliche Teile ihrer Gehirnstrukturen zerstörten. Sie behaupteten – Lichtner behauptete – die Neurobiologen hätten einige physiologische Anomalien ausfindig gemacht, die erklären würden, weshalb die Gamanten auf ›irrationale‹ Weise aggressiv reagieren. Ich kann nicht beurteilen, ob etwas Wahres daran ist.«
Tahn ging auf und ab, um sich wieder ein wenig zu beruhigen. »Sie sollten sich keine Sorgen darum machen, daß ich Ihre Abstammung gegen Sie verwenden könnte. Machen Sie sich lieber Sorgen wegen der Magistraten. Falls die davon erfahren, wird man Sie an einen sehr unerfreulichen Ort …«
»Sie sind ein Lügner!« rief Amirah voller Wut. »Ein Lügner und ein Verräter! Sie würden doch alles sagen, um mich …«
»Ich habe Ihnen nichts als die Wahrheit erzählt. Sie sind durch die offizielle Propaganda zu verblendet …«
Tahn registrierte ihre Bewegung zu spät. Für einen Sekundenbruchteil waren ihre Hände nicht zu sehen – dann traf der Schlag seine Brust. Verzweifelt schnappte er nach Luft, da traf der nächste Hieb schon seinen Rücken. Tahn hechtete zur Seite, um weiteren Schlägen zu entgehen, und versuchte gleichzeitig, Amirah die Beine unter dem Leib wegzutreten, doch der Zusammenprall schleuderte seine Pistole aus dem Holster, die mehrere Schritte weit weg rutschte. Amirah stolperte gegen ihn und nutzte die Gelegenheit, ihm den Ellbogen in den Magen zu rammen. Cole versetzte ihr einen Hieb in den Solarplexus, packte ihre gefesselten Hände und riß sie hoch. Amirah wehrte sich, indem sie ihr Knie in seine Beinwunde stieß. Doch schließlich schaffte er es, sein Gewicht einzusetzen und sie auf dem Boden festzunageln.
Als Amirah erkannte, daß sie sich nicht mehr rühren konnte, stieß sie einen lauten Wutschrei aus.
Schwer atmend bemerkte Tahn: »Ich dachte, wir hätten bereits geklärt, daß ich besser bin als Sie.«
»Runter von mir!« schnaubte sie.
»Nur ruhig. Ich gehe ja schon.«
Tahn erhob sich, holte seine Pistole und richtete den Lauf auf Amirah. Seine Brust brannte wie Feuer. Vorsichtig tastete er seinen Körper ab und murmelte dann: »Verdammt, ich glaube, Sie haben mir eine Rippe gebrochen.«
»Sehr schön. Ich hoffe nur, der Knochen bohrt sich in Ihre Lunge und bringt Sie um.«
Als sie zu ihm hinübersah, bemerkte er zum erstenmal die Tränen in ihren Wimpern. Nachdenklich fragte er sich, ob diese Tränen durch den Schmerz seiner Schläge verursacht worden waren, oder ob seine Geschichte über die Gamanten sie letzten Endes doch mehr beeindruckt hatte, als sie zugeben wollte.
»Sie sind wirklich ein Satansbraten«, erklärte er. »Ich nehme alle freundlichen Gedanken zurück, die ich im Lauf der Zeit für Sie hatte. Wenn ich erst tot bin und niemand mehr da ist, der Ihnen Nahrung gibt, wird Ihnen schon das Gewissen schlagen.«
Er tastete abermals nach der verletzten Rippe und zuckte zusammen. »Verdammter Mist«, knurrte er und hockte sich vorsichtig auf die Tischkante.
Amirah setzte sich aufrecht hin. Tahn sah, daß noch immer Tränen in ihren Augen schimmerten. Doch als er bemerkte, wie sie zur Tür hinüber schaute, hob er warnend die Pistole. »Kommen Sie jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken. Ich kann vielleicht nicht mehr atmen, aber zum Schießen reicht es noch. Warum kommen Sie nicht einfach hierher, Amirah? Setzen Sie sich neben mich, dann können wir ein freundliches kleines Schwätzchen halten.«
Amirah kroch zu ihm hinüber. »Wie schlimm ist es denn?«
Die ehrliche Besorgnis in ihrer Stimme brachte ihn zum Lachen. »Oh, Sie können stolz auf den Schlag sein. Der war erstklassig ausgeführt.«
»Ein wirklich erstklassiger Schlag hätte Sie auf der Stelle getötet.«
»Na schön, aber sehr viel hat auch nicht daran gefehlt.«
Zwei Schritte von Tahn entfernt hielt Amirah inne und erhob sich.
»Setzen Sie sich«, sagte Tahn und deutete auf einen Stuhl.
Amirah ließ sich auf den Stuhl sinken. »Wo tut es denn weh?«
»Im Moment? Überall. Aber ich nehme an, langfristig wird mein Oberkörper mir die größte Freude bereiten.«
»Brauchen Sie einen Arzt?«
»Wahrscheinlich. Aber was macht das für einen Unterschied?«
Amirah beugte sich vor und blickte ihn ernst an. »Lösen Sie meine Fesseln. Lassen Sie mich mein Schiff rufen. Mein Lazarettstab ist der beste in der ganzen Flotte. Ich garantiere für Ihre Sicherheit! Als Captain der Sargonid gebe ich Ihnen mein Wort, daß Sie …«
Tahn schüttelte müde den Kopf. »Meine liebe Amirah, Sie sind so naiv. Das Wort eines Captains gilt gar nichts, solange die Magistraten nicht hinter ihm stehen, und in meinem Fall kann ich mir das kaum vorstellen. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin Ihnen für Ihr Angebot wirklich dankbar. Es war doch ernst gemeint, oder?«
»Ja«, erwiderte sie und lehnte sich gegen die Stuhllehne. »Haben Sie es auch ernst gemeint, als Sie sagten, Sie würden mich mögen?«
Tahn grinste. Beinahe hätte er geantwortet: Das war vor zehn Minuten. Inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Doch als er den erwartungsvollen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, unterdrückte er diesen Kommentar und sagte statt dessen seufzend: »Ja, Amirah, das habe ich ernst gemeint. Ich mag Sie sogar mehr, als ich offen zugeben möchte.«
Sie sprang auf. »Legen Sie das Gewand ab, und binden Sie mir die Hände los! Ich möchte mir die Verletzung einmal ansehen. Ich kann die Rippe zwar nicht einrichten, aber ich könnte Sie immerhin so fest bandagieren, daß sie sich nicht mehr bewegt.«
Tahn wich argwöhnisch einen Schritt zurück. »Erst brechen Sie mir die Rippen, und dann wollen Sie mir auch noch die Kleider wegnehmen? Sie verstehen es wirklich, das Herz eines Mannes zu erobern. Nein, vielen Dank. Sie haben mich heute schon öfter berührt, als mir lieb war. Aber Sie könnten etwas anderes für mich tun.«
»Und was?«
»Ich werde Ihre Fußfesseln lösen – aber denken Sie daran, daß diese Pistole geladen ist.«
Amirah setzte sich wieder und streckte ihm ihre Füße hin. Er holte den Schlüssel aus der Tasche und strich damit über die dünnen Bänder, die sich sofort öffneten. Amirah streifte sie ab und legte sie auf den Tisch.
»Sehr freundlich von Ihnen«, bemerkte Tahn, nahm sie an sich und schob sie in die Tasche. »Wenn Sie jetzt so nett wären, mir eine Flasche Wein zu holen?«
Amirah ging durchs Zimmer, kramte in einer der Kisten herum und kehrte schließlich mit einer staubigen Flasche Alizariner zurück. Nachdem sie die Flasche geöffnet hatte, füllte sie eines der Gläser und stellte es in Reichweite vor ihn hin.
Tahn nahm das Weinglas und sagte: »Bitte setzen Sie sich jetzt wieder, Amirah.«
Gehorsam nahm sie Platz.
Cole nahm einen großen Schluck und hoffte insgeheim, der Wein würde nur seinen Schmerz betäuben und nicht auch seine Wachsamkeit.
»Cole?«
»Ja?«
»Was Sie da über Tikkun erzählt haben – entsprach irgend etwas davon der Wahrheit?«
»Alles, fürchte ich. Selbst heute bekomme ich davon noch Alpträume.«
Amirah beugte sich vor und füllte ein Glas für sich selbst. »Sprechen wir über die Alternativen. Wäre es möglich, daß es sich um einen Alleingang von Lichtner handelte? Daß die Magistraten nichts von dem wußten, was in Block 10 geschah?«
»Das ist sehr zu bezweifeln. Die Ärzte im Lager waren hochrangige Wissenschaftler, die direkt von Palaia dorthin geschickt wurden.«
»Zum Beispiel?«
»Oh…« Tahn durchforschte sein Gedächtnis. Welche Namen hatte er in der Akte 19118 gelesen? »Jonathan Creighton, Ranold Hyde. Es gab noch mehr. Aber an deren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.«
Amirah erstarrte. »Mein Gott. Sind Sie sicher, daß Creighton mit dabei war? Er ist jetzt Leiter der gesamten wissenschaftlichen Abteilung auf Palaia.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Sie fördern Schweine wie ihn.«
Dicke Schweißperlen liefen über Tahns Gesicht. Er füllte sein Glas, leerte es in einem Zug, schenkte nach und trank es zur Hälfte aus. Als er sich bequemer hinsetzen wollte, durchzuckte ihn ein derartiger Schmerz, daß er unwillkürlich die Augen schloß. Als er wieder aufsah, bemerkte er, wie Amirah ihn besorgt anschaute.
»Keine Angst, ich sterbe noch nicht«, meinte er, ohne daran zu denken, daß sie ja genau darauf hoffte.
»Nein, aber Sie bekommen einen Schock. Lassen Sie mich Ihnen helfen, Cole. Bitte?«
Tahn ärgerte sich über sich selbst, weil er daran nicht gedacht hatte. Er hob die Pistole und sagte: »Nein. Aber danke für den Tip.«
Ganz langsam ließ er sich vom Tisch gleiten und blieb schließlich mit zitternden Knien stehen. »Gehen Sie bitte zum Kamin hinüber. Ich bin dicht hinter Ihnen, also machen Sie keine Dummheiten.«
Amirah setzte sich in Bewegung, und er folgte ihr. Jeder Schritt sandte einen stechenden Schmerz durch seinen Körper. Als sie den Kamin erreichten, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten.
»Setzen Sie sich«, befahl er. »Es gefällt mir selbst nicht, aber ich fürchte, in ein paar Minuten bin ich nicht mehr in der Lage, Sie noch zu bewachen. Vermutlich habe ich innere Blutungen, und ich weiß nicht, wie lange ich noch bei Bewußtsein bleibe.«
Amirah rollte sich auf den Bauch und zog die Füße an, um sie so nah wie möglich an ihre Hände zu bringen. Dabei war es ihr selbst ein Rätsel, warum sie versuchte, ihm seine Aufgabe zu erleichtern.
»Nein«, sagte Tahn. »So wäre es zwar sicherer, aber ich weiß nicht, wie lange ich ausfalle, und in dieser Haltung würden Sie spätestens nach einer Stunde erhebliche Schmerzen bekommen. Setzen Sie sich bitte hin, und lehnen Sie sich gegen den Ring, der aus der Wand ragt.«
Cole kniete neben ihr nieder und verband die Handfesseln mit dem Ring. Dann fesselte er auch ihre Fußgelenke und erwartete dabei jeden Moment einen Tritt, den er sehr wahrscheinlich nicht würde abwehren können. Als er fertig war, schmerzte sein ganzer Körper, und er war nicht mehr in der Lage, sich aufzurichten. Vorsichtig ließ er sich ganz zu Boden sinken und rutschte dann zur Wand hinüber.
»Tahn, warum rufen Sie nicht Ihr Schiff? Teilen Sie Ihren Leuten mit, daß Sie in Schwierigkeiten stecken.«
»Ich darf nicht riskieren, daß der Funkspruch von Ihren Leuten aufgefangen wird. Außerdem, wenn die Schlacht erst vorüber ist … und meine Seite gesiegt hat, werden sie mich anfunken. Vorher wäre jeder Funkverkehr zu riskant.«
Er lehnte sich zurück und betrachtete Amirah. Sie erschien ihm jetzt begehrenswerter als je zuvor. Du bist ein Idiot. Du kannst nicht mal richtig atmen und denkst an solche Dinge. Trotzdem lächelte er Amirah an und sagte: »Sie sind sehr schön, Amirah. Ich mag Sie sehr. Viel zu sehr.«
Tahn stützte den Kopf gegen die Wand, legte die Pistole in seinen Schoß und schloß die Augen. Wenn er ein paar Minuten schlief, würde der Schmerz nachlassen, und seine Kräfte konnten sich regenerieren …
Drei Stunden später schaute Amirah schweigend zu, wie das Funkgerät an Tahns Gürtel grün aufblinkte. Bereits vor einer Stunde hatten seine Leute versucht, ihn zu erreichen, doch Tahn war in einem Alptraum gefangen, redete und stöhnte im Schlaf. Immer wieder rief er zwei Namen, Maggie und Carey. Amirah waren beide Namen vertraut. Maggie mußte Maggie Zander sein, seine Liebe an der Akademie. Sie war während der Pegasus-Invasion auf der Alten Erde getötet worden. Man hatte sie gefangen und in einen Lichtkäfig gesperrt, nur wenige Schritte von Cole entfernt. Nach den Berichten hatte sie mit letzter Kraft versucht, Tahn zu erreichen, bevor sie starb. Und die andere mußte Carey Halloway sein. Die Art, wie Tahn ihren Namen aussprach, versetzte Amirah einen Stich. Er mußte sie lieben. Als Amirah vorhin einige Verdächtigungen über diese Beziehung verbreitet hatte, war ihr gar nicht der Verdacht gekommen, es könnte etwas Wahres an der Geschichte sein.
Doch dieses Wissen mochte sich als nützlich erweisen.
Tahn stöhnte, und unlogischerweise verspürte Amirah Mitleid. Eigentlich müßte sie darauf hoffen, daß er verblutete, statt dessen betete sie für ihn. Ob seine Erzählungen über Tikkun der Wahrheit entsprachen? Sie hatte immer wieder darüber nachgedacht. Er hatte tatsächlich keinen Grund, sie anzulügen – zumindest keinen, den sie erkennen konnte. Doch wenn die Magistraten auf Tikkun tatsächlich derart abscheuliche Verbrechen begangen hatten, mochten auch die Gerüchte über die Experimente auf den Satelliten über Palaia zutreffen. Und wenn das stimmte …
»Nein. Das kann nicht sein.«
Sie schloß die Augen, als Bilder von Sefer Raziel vor ihr aufstiegen. Das strahlende Sonnenlicht fiel auf ihre Großmutter, die in einem Schaukelstuhl auf der Veranda saß. Amirah hockte im Schneidersitz neben ihr, eine Puppe auf dem Schoß, und lauschte den Geschichten über die erste gamantische Revolte und die schrecklichen Dinge, die die Magistraten ihrem Volk angetan hatten.
Amirah wehrte sich innerlich gegen dieses Wort, doch zugleich vermißte sie ihre Großmutter noch immer. Als sie älter wurde, hatte sie begriffen, daß Sefer nicht einfach verschwunden, sondern wahrscheinlich tot war, sonst wäre sie irgendwann heimgekommen. Sie hätte Amirah niemals aus freien Stücken verlassen. Tränen traten in ihre Augen. Sie liebte diese freundliche alte Frau …
Rasche Schritte erklangen auf dem Flur. Amirahs Kopf zuckte hoch. Stimmen wurden laut. Dann betraten drei Männer und vier Frauen die Höhle, alle in schwarze Kampfanzüge gekleidet und mit Gewehren bewaffnet. Der Mann an der Spitze, ein großer Blonder mit kurzgeschnittenem rötlichem Bart, warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu und kniete dann neben Tahn nieder, um ihn zu untersuchen.
Dann wandte er sich an seinen Begleiter. »Chaim, laß eine Bahre aus dem Shuttle herschaffen. Und gib dem Schiff Bescheid, daß im Hangar ein Ärzteteam bereit steht.«
»In Ordnung, Jeremiel.« Der Corporal rannte los.
Amirah schluckte schwer. Ihr Schiff … Jason … Sie biß die Zähne zusammen. Doch noch eine andere Frage brannte in ihr. »Jeremiel Baruch?«
Er schaute kurz zu ihr hinüber, bevor er Coles Handgelenk nahm und den Puls prüfte. »Ja, Captain Jossel. Wie ich sehe, hat man gut für Sie gesorgt, was sich von meinem Freund leider nicht behaupten läßt. Was ist passiert?«
»Er hat mich provoziert. Deshalb habe ich ihm die Rippen gebrochen.«
»Aha.« Baruch warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Ich gratuliere Ihnen, auch wenn ich darüber wahrhaftig nicht begeistert bin.«
»Tahn hat es auch nicht gefallen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Wie lange ist er schon bewußtlos?«
»Drei Stunden.«
Das Gespräch schien Tahn halb aufzuwecken. Er murmelte irgend etwas Unverständliches. Baruch drückte ihm die Schulter. »Du bist in Sicherheit, Cole. Lieg ganz still. Eine Bahre ist unterwegs.«
Tahn öffnete die Augen. Als er Baruch erkannte, versuchte er, sich aufrecht hinzusetzen, sank aber wieder zurück. »Was ist passiert? Wie viele Leute haben wir verloren? Wie geht es Merle und Rudy?«
»Es geht ihnen gut«, sagte Baruch mit einem unbehaglichen Blick auf Amirah. »Wir unterhalten uns später darüber.«
Cole schaute ebenfalls zu Amirah hinüber, und ein schwaches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. Verschwörerisch flüsterte er Baruch zu: »Sie hat versucht, mich umzubringen.«
»Tatsächlich?« fragte Baruch. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wieso. Hast du denn deinen üblichen Charme nicht spielen lassen?«
»Manche Menschen wissen meine charismatische Persönlichkeit eben nicht zu schätzen. Wenn du mich das nächstemal überreden willst, ein paar Tage allein mit einer schönen Frau zu verbringen, dann erinnere mich daran, daß ich nein sage.«
»Sie hat dir jedenfalls ganz schön zu schaffen gemacht, wie mir scheint«, bemerkte Baruch.
Cole schnitt eine Grimasse, und Baruch grinste. In den Augen der beiden Männer lag eine Wärme, wie man sie normalerweise nur bei alten Freunden findet, die sich viele Jahre nicht mehr gesehen haben. Amirah beobachtete die beiden voller Interesse. Baruch und Tahn waren fünfzehn Jahre lang erbitterte Gegner gewesen. Sie hatten gegenseitig ihre Schiffe vernichtet und ihre Freunde getötet. Wann war all dieser Haß geschwunden? Ihr Herz schlug plötzlich schneller. Wenn die beiden tatsächlich so gute Freunde waren, wie es den Anschein hatte, dann arbeiteten sie auch im Untergrund eng zusammen. Die beiden brillantesten militärischen Gehirne der Galaxis vereint? Ein erschreckender Gedanke.
Ein Soldat stürmte in den Raum und schob eine Bahre vor sich her. Baruch erhob sich, um nicht im Weg zu sein, und half dann mit, Tahn vorsichtig auf die Bahre zu heben. Coles Gesicht verzog sich vor Schmerz. Der Soldat schob Cole aus der Höhle, und der größte Teil des Sicherheitsteams folgte ihnen. Die beiden Frauen bezogen draußen vor der Tür Stellung.
Amirah zog die Beine an. Baruch kam zu ihr hinüber und betrachtete sie eingehend.
»Tut mir leid wegen der ganzen Geschichte, Captain«, erklärte er. »Lassen Sie mich Ihnen zuerst mitteilen, daß Ihr Schiff in Sicherheit ist. Die Sargonid hat gar nicht am Kampf teilgenommen, sondern war schon fort, als wir hier eintrafen.«
All die Angst und die Sorgen, die in den letzten Tagen auf Amirah gelastet hatten, waren wie weggewischt. Oh, Jason, Jason, gute Arbeit. »Danke, daß Sie mir das gesagt haben, Commander.«
Baruch kniete neben ihr nieder und zog einen elektromagnetischen Schlüssel aus der Tasche. »Ich nehme an, Ihre Hände sind schon vor Stunden taub geworden. Lassen Sie mich Ihnen die Fesseln abnehmen.«