KAPITEL
4
Jeremiel wischte sich die feuchten Handflächen an der schwarzen Uniform ab, während er durch die langen weißen Korridore der Zilpah schritt. Seine Stiefel trafen mit dumpfen Lauten auf den grauen Teppichboden. Die einzelnen Gänge waren in einem Fischgrätmuster angeordnet und schnitten sich jeweils nach etwa zehn Metern. Hier und dort hingen Holos von verschiedenen Planeten an den Wänden und sorgten für ein paar bunte Farbtupfer. Jeremiels Atem ging schnell und flach. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit tiefliegenden blauen Augen und welligem blondem Haar. Ein kurzgeschnittener rotblonder Bart bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts.
Er bog um eine Ecke und schlug mit der Faust auf die Ruftaste des Aufzugs. Während er wartete, erwiderte er geistesabwesend die Ehrenbezeugungen der Mannschaftsmitglieder, die an ihm vorbeikamen. Obwohl die Trisagion und die Hullin gerade erst an Bord geholt worden waren, zeigten die besorgten Blicke der Mannschaft, daß sich die Nachricht bereits verbreitet hatte. Angesichts der bevorstehenden Kämpfe auf Horeb fragten sie sich natürlich, wie Jeremiel reagieren würde. Er selbst hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Erst mußte er alles über Careys … Sag es. Mach schon. In ein paar Minuten mußt du ohnehin darüber reden. Tot. Sie ist tot …
Doch tief in seinem Innern schrie eine klagende Stimme auf: Nein, das kann nicht sein.
Der Aufzug kam, und Jeremiel betrat die Kabine. »Deck neunzehn.«
Die Decksanzeigen flackerten in blauen Ziffern über ihm auf, als der Aufzug nach unten fuhr. In diesem Moment der Einsamkeit kam es ihm so vor, als hätte sich seine Brust in einen Eisblock verwandelt. Er hob den Kopf, starrte zur Deckenbeleuchtung empor und bemühte sich, jegliche Empfindung zu unterdrücken.
Die Kabine hielt an, und die Tür glitt zur Seite. Jeremiel trat auf den Gang hinaus, bog an der nächsten Kreuzung links ab und blieb vor der Tür zum Hangar stehen. »Mach schon«, flüsterte er heiser zu sich selbst. Cole und Rudy würden erschöpft sein und ihm so rasch wie möglich Bericht erstatten wollen, damit sie sich anschließend in ihre Kabinen zurückziehen konnten. Jeremiel kämpfte gegen die Panik an, die ihn zu überwältigen drohte. Schon jetzt malte er sich Bilder dessen aus, was geschehen war. Ein tödlicher Schuß mußte sie in die Brust getroffen haben, oder … oder in den Kopf. Nein! Stell es dir nicht vor. Um Gottes willen, hör auf damit! Hör auf! Er drückte auf den Türöffner.
Vor ihm öffnete sich ein heller, weißgekachelter Raum, der etwa hundertzwanzig Quadratmeter durchmaß. Die mehr als zwanzig Meter hohe Decke ließ den Raum noch größer erscheinen. Die Jäger ruhten wie rußgeschwärzte Dolche auf dem Boden. Sanitäter eilten zwischen ihnen umher und schoben Antigrav-Liegen zu den Notaufzügen, um die Verletzten zur Krankenabteilung auf Deck sechs zu bringen. Rudy und Cole standen in abgerissenen Kampfanzügen neben ihrem Jäger und sprachen mit einem Dutzend Technikern.
Als Cole sich umwandte und Jeremiels Blick begegnete, sagte er etwas zu Rudy und verließ dann die Gruppe. Er bewegte sich langsam und hob die Füße kaum vom Boden. Das braune Haar hing ihm in verschwitzten Strähnen ins Gesicht. Sein Blick erschütterte Jeremiel. Die sonst so scharfen blauvioletten Augen wirkten jetzt stumpf und leblos.
Cole trat auf Jeremiel zu und erklärte: »Ich habe Rudy gesagt, wir würden ihn im Konferenzraum 1900 treffen.«
»In Ordnung.«
Jeremiel drehte sich um und verließ den Hangar. Cole ging neben ihm her, doch keiner von ihnen traute sich, ein Wort zu sagen. Jeremiel bemerkte, wie erschöpft Cole war, wie müde er einen Fuß vor den anderen setzte. Als sie den Besprechungsraum erreichten, drückte Jeremiel auf den Öffner und ließ Cole den Vortritt.
Der größte Teil des Zimmers wurde von einem Tisch und sechs Stühlen eingenommen. An den Wänden hingen Hologramme galaktischer Nebel, die merkwürdig verschwommen wirkten. Cole hockte sich auf die Tischkante und stellte einen Fuß auf die Sitzfläche eines Stuhls. Sein Gesicht wirkte hölzern, und der ungewohnte Bart bildete einen scharfen Kontrast zu der bleichen Haut. Er hatte die Lippen fest zusammengepreßt, als kämpfe er gegen eine tödliche Krankheit, die ihn von innen her auffraß.
Jeremiel zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. »Sag mir, wie es dir geht, Cole. Wenn du nach Kiskanu und dem Gefecht zu müde bist …«
»Nein, bringen wir es hinter uns, Jeremiel. Sie kamen praktisch aus dem Nichts. Es waren mindestens hundert Giclasianer. Wir verluden gerade den Nachschub, als sie uns angriffen. Carey …« Coles Stimme brach. Er holte tief Luft, und Jeremiel wappnete sich innerlich. »Carey bekam einen Treffer … in die Brust, glaube ich. Rudy konnte es besser sehen als ich.«
Jeremiel nickte kurz. Stimmen aus der Erinnerung umgaben ihn. Syenes helles Lachen, gemischt mit der dunkleren Stimmlage Careys. Seine Kehle wurde eng. Careys Gesicht tauchte vor ihm auf und überdeckte das von Syene an jenem kalten Wintertag auf Silmar. Braunes Haar nahm Herbstfarben an …
Die Tür des Konferenzraums öffnete sich. Rudy kam herein und blieb zwischen Cole und Jeremiel stehen.
»Bist du sicher, daß sie tot ist?« fragte Jeremiel mit überraschend ruhiger Stimme.
Rudy lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. »Ja. Ohne jeden Zweifel.«
Jeremiel spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich.
Cole erhob sich, ging langsam zur Rückseite des Zimmers und starrte auf die roten und grünen Wirbel eines Hologramms des Loggerhead-Nebels.
»Wie viele haben möglicherweise überlebt und sind in Gefangenschaft geraten?« erkundigte sich Jeremiel.
Kopal hob in einer unsicheren Geste die Hände. »Ich weiß es nicht. Vielleicht zehn. Ich glaube, alle anderen …«
»Und jeder von ihnen könnte den genauen Aufenthaltsort der Flotte enthüllen, wenn man ihn einer Behandlung mit den Gehirnsonden unterzieht. Wir werden schnell reagieren müssen. Wie viele Offiziere haben eventuell überlebt?«
Cole drehte sich um und bedachte Jeremiel mit einem besorgten Blick. »Bis auf einen sind entweder alle tot oder gerettet. Als ich Josh Samuals zuletzt sah, hatte er eine schwere Beinverletzung. Wenn er es geschafft hat, irgendwo in Deckung zu gehen …«
»Dann könnte er noch leben.« Jeremiel verschränkte die Finger für einen Moment vor dem Mund. »Samuals kennt zumindest die grundsätzlichen Pläne für unseren Einsatz auf Horeb. Falls er gefangengenommen wurde, haben sie ihn wahrscheinlich nach Palaia gebracht. Sie werden ihn als zu wertvoll einstufen, um seine Befragung einem der regionalen Neurocenter zu überlassen.«
Rudy verlagerte sein Gewicht auf den linken Fuß. »Du meinst, wir sollten versuchen, dort jemanden einzuschleusen? Das wäre ein Selbstmordkommando, aber ich glaube, wir könnten einen Freiwilligen finden. Weder Samuals noch der Freiwillige würden dort jemals wieder herauskommen, aber vielleicht könnten wir Samuals erwischen, bevor sie ihn der Gehirnsondierung unterziehen.«
»Jetzt erzähl keinen Unsinn, Kopal«, wandte Tahn ein. »Abgesehen von dem Umstand, daß Palaia viel zu gut gesichert ist und unser Freiwilliger höchstwahrscheinlich ergriffen und damit alles noch verschlimmern würde, ist es doch so, daß die Magistraten bei der geringsten Aktion unsererseits ihr Sicherheitsnetz um Horeb massiv verstärken. Und dann werden wir unsere Leute niemals von diesem Höllenloch fortschaffen! Unsere einzige Möglichkeit besteht darin, den Einsatz auf Horeb sofort zu starten. Da wir unsere Flotte ohnehin verlegen müssen, sollten wir augenblicklich auf Horeb zuschlagen, bevor es zu spät ist!«
»Bist du verrückt?« rief Rudy. »Wir haben die Vorbereitungen noch gar nicht abgeschlossen.«
Jeremiel lauschte diesem heftigen Wortwechsel noch mehrere Minuten, ohne wirklich etwas davon wahrzunehmen. Irgendwo in seinem Verstand hörte er Carey immer und immer wieder seinen Namen rufen – als wäre sie noch am Leben. Und gleichzeitig flüsterte der logische Teil seines Gehirns: »Sie ist tot. Akzeptiere das. Diesmal wird sie nicht zurückkehren.«
Jeremiel warf einen Blick auf Cole, dessen Gesicht gerötet war, und der dicht vor einem Wutanfall zu stehen schien. Rudy machte ebenfalls den Eindruck, als würde er am liebsten jeden Moment zuschlagen. Sie waren beide völlig übermüdet.
Jeremiel stemmte sich aus seinem Sitz. »Geht jetzt und ruht euch aus. Wir werden über Coles Vorschlag nachdenken. Möglicherweise werden wir den Einsatz auf Horeb tatsächlich vorziehen müssen. Ich setze für morgen früh um neun Uhr eine Strategiebesprechung an.«
»In Ordnung«, erwiderte Rudy müde. Er bewegte sich in Richtung Tür, blieb dann neben Jeremiel stehen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Kopal roch so stark nach altem, eingetrocknetem Blut, daß Jeremiel beinahe übel wurde. Blutspritzer waren auf den weißen Streifen an Rudys Ärmel zu sehen. Rotes Blut, kein blaues. Menschliches Blut. Wessen Blut?
»Rudy, sobald du Zeit hast, stellst du bitte eine Liste der Gefallenen auf. Ich brauche sie, um die Familien zu benachrichtigen.«
»Ich kümmere mich darum.« Er klopfte Jeremiel auf die Schulter und ging rasch hinaus. Hinter ihm schloß sich die Tür wieder.
Tahn stand noch immer am anderen Ende des Raumes, hatte eine Faust gegen die Lippen gepreßt und starrte zu Boden.
»Cole, wenn du etwas gegessen und geschlafen hast, würde ich mich gern mit dir unterhalten … über Carey.«
Tahn holte tief Luft und nickte. »Laß es mich wissen, wenn du Zeit hast.«
»Morgen abend. Dann werde ich … dazu in der Lage sein.«
»Ich verstehe«, erwiderte Tahn leise.
Jeremiel drückte auf den Öffner, und die Tür glitt zur Seite. Stimmen drangen vom Flur herein, die sich über die Schäden an der Trisagion unterhielten. Jeremiel ging schweigend hinaus.
Irgend etwas bewegte sich in ihrem Innern wie ein Knäuel von Schlangen, die sich umeinander wanden.
Sie keuchte und versuchte, trotz des Blutes, daß ihr in die Kehle rann, nach Luft zu schnappen. Doch das Blut strömte zu heftig. Sie spürte, wie sie ertrank, als die warme Flüssigkeit in ihre Lungen drängte. Beweg dich! Roll dich auf die Seite, oder du stirbst! Beweg dich!
Doch ihre Muskeln reagierten nicht. Vom Hals abwärts konnte sie ihren Körper nicht mehr spüren. Verletzung des Rückenmarks …
Panik erfüllte sie, und sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern schoß.
Und dann hörte sie Stimmen.
Keine Gamanten. Feinde.