KAPITEL
44

 

 

Jason betrachtete sich prüfend im Spiegel, strich die Uniform glatt, kämmte sich durchs Haar, nahm den ›vertraulichen‹ Funkspruch, die Bücher und die Halskette, die sie den gamantischen Gefangenen abgenommen hatten, und machte sich auf den Weg zu Amirahs Kabine.

Als er dort ankam, zögerte er kurz. Sie hatte ihn erst einmal in ihre Kabine eingeladen, und das hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Doch andererseits hatte er diesen Moment ja herbeigesehnt – eine Chance, endlich mit ihr allein zu sein.

Er drückte auf den Türmelder und rief: »Amirah? Hier ist Jason.«

»Kommen Sie herein.«

Die Tür glitt zur Seite, und Jason trat ein. Öllampen erhellten das Zimmer und verbreiteten den Duft von regennassen Wäldern. Amirah stand über den Computer gebeugt. In der Hand hielt sie ein halbleeres Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.

Als sie sich zu ihm umdrehte, erschrak Jason über die Müdigkeit in ihren Zügen. Hatte sie in den letzten acht Stunden überhaupt nicht geschlafen? Dabei hatte er doch extra die spektakuläre Botschaft von Slothen zurückgehalten, um ihre Ruhe nicht zu stören.

Amirah kam auf ihn zu und schwankte dabei leicht. Hatte sie so viel getrunken, oder war ihre Erschöpfung dafür verantwortlich? Bestimmt letzteres, beruhigte er sich.

»Setzen Sie sich, Jason«, sagte Amirah und deutete zum Tisch hinüber. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Brandy«, erwiderte Jason, während er Platz nahm und Bücher und Halskette auf den Tisch legte. »Diese Sachen haben wir den Gefangenen abgenommen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, einen Blick darauf zu werfen, aber wenn Sie …«

»Sind wir im Lichtsprung?«

»Ja, schon seit vier Stunden. Auf Palaia werden wir in etwa vierzig Stunden eintreffen.«

Amirah nickte und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zum Tisch. Als sie sein Glas füllte, zitterte ihre Hand.

»Amirah, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Haben Sie sich ausgeschlafen?«

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Nein.«

Jason warf einen Blick zum Computer hinüber. »Haben Sie Nachforschungen angestellt?«

»Ja, aber darüber möchte ich nicht sprechen – nicht jetzt. Erzählen Sie mir, wie es um das Schiff steht. Haben Sie Verbindung mit Palaia aufgenommen?«

Jason beugte sich vor und lächelte breit. »Ja, habe ich. Als ich Slothen berichtete, Sie hätten Baruch und Tahn gefangen genommen, dachte ich schon, er würde vor Überraschung in Ohnmacht fallen. Aber dann hat er sich zusammengerissen und fast normal reagiert.«

»Tatsächlich?« Amirah leerte ihr Glas mit einem Zug. »Was hat er denn gesagt?«

Jason griff in die Tasche, holte die Mitteilung heraus und schob sie ihr hin. »Slothen wollte diesen Erfolg sofort publik machen, aber ich riet ihm, damit zu warten, bis Sie sich ein wenig erholt haben.«

Amirah wurde blaß und machte ein Gesicht, als wäre sie gerade zu Unrecht eines Verbrechens angeklagt worden. Mit einer heftigen Bewegung zerknüllte sie das Blatt und erhob sich, um in der Kabine auf und ab zu gehen.

Jason war von ihrer Reaktion so überrascht, daß er mit offenem Mund dasaß. »Was stimmt denn nicht? Ich dachte, Sie würden vor Begeisterung auf dem Tisch tanzen. Bisher sind nur zehn andere mit dem magistratischen Ehrenkreuz ausgezeichnet worden. Ich bin jedenfalls so stolz auf Sie, daß ich platzen könnte!«

Ihre Augen blitzten. »Tatsächlich?«

»Ja!«

»Nun, dann werde ich Ihnen jetzt mal ein paar Einzelheiten darüber erzählen, wie ich die beiden meistgesuchten Verbrecher der Galaxis gefangen habe.«

Jason stützte die Ellbogen auf den Tisch und schaute sie erwartungsvoll an.

Amirah kam zum Tisch hinüber und blieb direkt vor ihm stehen. »Sie haben sich mir ergeben! Tahn reichte mir äußerst galant eine Pistole. Dann legten beide ihre Waffen ab und hoben die Hände über den Kopf.«

Jason verschlug es für einen Moment die Sprache. »Sie haben keinen Widerstand geleistet?«

»Nein, überhaupt keinen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht. Dabei hätten sie tausend Möglichkeiten gehabt. Beispielsweise, mich als Tauschobjekt für Calas zu benutzen. Oder ihren Sprengstoff zu entzünden und das halbe Schiff in die Luft zu jagen. Was sie statt dessen getan haben, war völlig irrational.«

Woloc betrachtete kommentarlos sein Glas.

»Jason«, sagte Amirah eindringlich, »haben Sie jemals von den Gehirnexperimenten gehört, die Creighton vor zwölf Jahren an den Gamanten auf Tikkun durchgeführt hat?«

»Nein.«

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, deutete sie zum Computer hinüber. »Auf Slothens Befehl hin wurden die ›Testobjekte‹ erst verstümmelt und anschließend, wenn sie nicht mehr von Nutzen waren, gnadenlos beiseite geschafft. Er hat unschuldige Menschen ermorden lassen!«

Jason versuchte, diese Aussage mit seinem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen – was ihm aber nicht gelang. »Was meinen Sie mit ›ermorden‹? Die Regierung würde doch nie …«

»Die Akte auf meinem Schirm listet die Befehle auf, die Major Johannes Lichtner, Kommandeur von Block 10, im Verlauf von rund sechzehn Monaten erhielt.«

Jason bemerkte die abwartende Vorsicht in ihrem Blick. Befürchtete sie, er würde sich jetzt einfach in die Rolle des ›loyalen Offiziers‹ zurückziehen? Nein, das war unmöglich.

In den vergangenen Jahren hatten sie beide so viele Schrecknisse gesehen, daß sie nicht mehr an die Propaganda von der beinahe göttlichen Unfehlbarkeit der Magistraten glaubten. Aber Mord? Nein, da hatte Amirah wohl aufgrund ihrer Erschöpfung irgend etwas mißverstanden.

Jason stand auf und fragte: »Darf ich mir mal ansehen, was Sie entdeckt haben?«

»Ja, natürlich.«

Er ging zu ihrem Schreibtisch hinüber und nahm vor dem Computer Platz. Die Überschrift auf dem Schirm lautete: ALLGEMEINE ANWEISUNGEN FÜR DAS FORSCHUNGSZENTRUM AUF TIKKUN: Eröffnet am 10. Shebat 5413. Geschlossen am 15. Nisan 5414.

Amirah trug die Flasche und die Gläser zum Schreibtisch, füllte die Gläser nach und hockte sich dann auf die Kante ihres Betts.

Jason nickte ihr kurz zu und richtete dann den Blick wieder auf den Schirm. Allgemeine Anweisung Nr. 1: Major Johannes Lichtner ist gehalten, das neurophysiologische Team unter Leitung von Colonel Jonathan Creighton während der gesamten Dauer des Projekts auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen.

»Das ist ungewöhnlich«, murmelte Jason.

»Sie meinen diese Blankoanweisung, jeden Befehl Creightons auszuführen?«

»Ja.« Er drehte sich zu ihr um. »Haben Sie schon jemals zuvor einen Befehl gesehen, der die Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Offiziere nicht in irgendeiner Weise eingeschränkt hätte?«

»Nein, ich hätte eine derartige Anweisung sogar für unmöglich gehalten.«

»Ja, das sehe ich auch so.« Jason wandte sich wieder dem Schirm zu. »Aber in gewisser Hinsicht ergibt das durchaus einen Sinn. Falls es zu unvorhergesehenen politischen Verwicklungen kommt, können die Magistraten immer ihre Hände in Unschuld waschen und behaupten, sie wären über die Einzelheiten nicht informiert gewesen und daher auch nicht dafür verantwortlich.«

»Bitte lesen Sie weiter, Jason. Ich möchte Ihre Meinung dazu hören.«

Jason legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Warum versuchen Sie nicht zu schlafen, während ich das hier lese? In fünf Stunden muß ich wieder auf die Brücke, aber bis dahin kann ich hierbleiben und mit Ihnen reden, wenn Sie wieder aufwachen.«

Amirah lächelte ihn dankbar an und sagte: »Eine gute Idee. Ich werde es versuchen.«

Jason beobachtete sie, wie sie sich auf dem Bett zusammenrollte, die Augen schloß und schon nach wenigen Minuten ruhig und gleichmäßig atmete. Die Frau aus Stahl, wie Jason sie insgeheim häufig bezeichnet hatte, wirkte auf einmal sehr verletzbar und zerbrechlich.

Woloc wandte sich wieder dem Schirm zu und rief das nächste Dokument auf. Ein Holo-Film über das Lager leitete die Akte ein. Jasons Magenmuskeln verkrampften sich, als die unbeteiligt klingende Stimme des Sprechers von der ›Eliminierung nutzloser Subjekte‹ sprach.

Auf dem Schirm hoben fünfzig oder mehr Menschen eine Grube aus, darunter auch Kinder, die kaum groß genug waren, um die Schaufel zu halten. Ein Major stolzierte vor der Grube auf und ab und begutachtete den Fortschritt der Arbeit. Schließlich befahl er den Leuten, mit dem Graben aufzuhören.

»Beeilt euch gefälligst!« brüllte er. »Ihr dreckigen gamantischen Schweine werdet jetzt die Barmherzigkeit der Magistraten kennenlernen!«

Er ließ die Menschen vor der Grube Aufstellung nehmen und wies sie an, die Hände im Nacken zu verschränken. Dann marschierten zehn Soldaten hinter ihnen auf, hoben die Gewehre und eröffneten das Feuer.

Jason krümmte sich, als die violetten Strahlen gnadenlos Männer, Frauen und Kinder niedermetzelten. Die meisten Opfer stürzten in die Grube, die sie zuvor ausgehoben hatten; die übrigen wurden von großen Räummaschinen hineingeschoben.

Jason hielt den Film an und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Ich kann es einfach nicht glauben.«

Er schüttelte sich und startete den Film erneut. Die Szene wechselte. Jetzt war ein kleiner Junge von vielleicht fünf oder sechs Jahren zu sehen, dem die Tränen über das Gesicht liefen. Er schrie auf, als ihm Soldaten die Kolben ihrer Gewehre ins Gesicht stießen.

Jason biß die Zähne zusammen und stellte den Film auf Schnelldurchlauf.

 

Zwei Stunden später wandte er sich vom Schreibtisch ab und blickte zu Amirah hinüber. Sie schlief noch in der gleichen Haltung wie zuvor.

Jason rieb sich über das Gesicht. Er kam sich so vor, als wäre er von seiner eigenen Regierung verraten worden. Offensichtlich setzten die Herrschenden ihre eigenen Regeln außer Kraft, wann immer es ihnen beliebte. Ihre hehren ethischen Prinzipien schienen für sie selbst nicht die geringste Bedeutung zu haben.

Kein Wunder, daß Amirah so verstört war. Auch sein eigener Verstand weigerte sich noch immer, die brutale Realität zu akzeptieren. Er wünschte sich verzweifelt, mit Amirah darüber zu reden. Andererseits wollte er sie nicht schon aufwecken.

Sein Blick fiel auf das zusammengefaltete Papier, das neben dem Schirm auf dem Schreibtisch lag. Er entfaltete es und las die lange Liste durch. Enthielten alle diese Dateien Bilder wie jene, die er gerade gesehen hatte?

Er beugte sich über die Tastatur und rief die Akte von Jumes auf.

Drei weitere Stunden verstrichen – Stunden, in denen Schmerz und Verzweiflung ständig wuchsen.

Das Geheimprojekt basierte auf der angeblichen Entdeckung einer genetischen Anomalie. Im Verlauf der Untersuchungen waren fünfzehntausend gamantische Frauen zwangsweise in die Forschungslabors geschafft und dort sterilisiert worden. Als die Bevölkerung darauf aufmerksam wurde und mit einem gewaltsamen Aufstand reagierte … hatte Cole Tahn, damals noch Captain der Hoyer, den Befehl erhalten, den Planeten abzufackeln. Tahn hatte den Befehl ordnungsgemäß ausgeführt. Der größte Teil des Planeten war bei dem Angriff der Stufe Eins verwüstet worden.

»Wie konntest du nur diesen Befehl befolgen, Tahn?« flüsterte Woloc. »Wußtest du nicht, was dort vor sich ging?«

War das der Grund, daß Tahn zum Verräter geworden war? Hatte er schließlich erkannt, was wirklich geschah? Und wie viele Menschenleben hatte er auf dem Gewissen, nur weil er die Anweisungen der Magistraten befolgt hatte? Eine halbe Million? Eine Million? Hatte er sich schließlich gegen die gnadenlosen Strafen aufgelehnt, die von den Magistraten über die unschuldige Zivilbevölkerung verhängt worden waren?

Ein plötzliches Gefühl der Sympathie für den ›Verräter‹ stieg in Jason auf. Wäre er an Tahns Stelle gewesen, hätte er vielleicht ähnlich reagiert.

»Warum informieren die Offiziere sich nicht besser über die Planeten, die sie vernichten sollen?«

Doch Jason kannte die Antwort. Niemand fand die Zeit dafür. Die Magistraten hielten die Mannschaften der Schlachtkreuzer so beschäftigt, daß niemand auch nur einen Tag erübrigen konnte, um sich durch den Berg von Geheimberichten zu wühlen, in dem die wesentlichen Informationen verborgen waren.

Diese Daten beispielsweise waren nicht etwa unter dem Namen des Planeten aufgeführt, und es gab auch keine Querverweise, die darauf hingewiesen hätten. Wer nicht wußte, daß er unter dem Stichwort: Neurobiologische Anomalien bei minderwertigen Rassen suchen mußte, würde niemals darauf stoßen.

Jason warf eine forschenden Blick auf Amirah. Woher hatte sie gewußt, welche Datei sie abrufen mußte?

Aus reiner Neugier gab er den Befehl ein, alle Akten aufzulisten, die sie an diesem Abend von Palaia angefordert hatte. Ein wahrer Strom von Dateien ergoß sich über den Schirm. Viele trugen fremdartige, ihm unbekannte Namen, andere verlangten eine besondere Zugangsberechtigung, und er fragte sich, welche Geheimnisse diese Dateien enthalten mochten.

Jason versuchte, ein File mit der Bezeichnung Fideles aufzurufen, erhielt jedoch keine Reaktion. Das gleiche geschah, als er Peccavi eintippte. Doch dann wählte er rein zufällig den Namen Raziel aus, und der Schirm flammte in warnendem Rot auf.

IDENTITÄTSBESTÄTIGUNG ERFORDERLICH.

Jason holte tief Luft und tippte: JASON MICHAEL WOLOC, FIRST LIEUTENANT: EIN-9171676.

GRUND DER ANFRAGE?

Jason runzelte die Stirn. »Was soll das jetzt wieder bedeuten?« Nach kurzem Zögern tippte er: ZUGANG IM INTERESSE DER SICHERHEIT DER SARGONID ERFORDERLICH.

ALARMSTUFE?

Jason stieß einen unterdrückten Fluch aus. Ganz gleich, was er jetzt eingab, Alarmbereitschaft der Stufe 1 oder Vollalarm Stufe 5, der Computer würde von nun an jede Einzelheit seiner Anfrage aufzeichnen und direkt in Slothens Büro weiterleiten, sobald sie den Lichtsprung beendet hatten.

Allerdings dürften derzeit so viele Alarmmeldungen eintreffen, daß Slothen vermutlich erst in ein paar Wochen dazu kommt, sich die Aufzeichnung anzusehen.

Jason holte abermals tief Luft und gab dann ein: STUFE 5.

Das rote Warnlicht verschwand. Statt dessen erschienen blaue Buchstaben auf dem Schirm. STATUS VON CAPTAIN AMIRAH JOSSEL ANGEBEN. MENTALE INKOMPETENZ ODER TOD?

»Du bist völlig verrückt«, murmelte Jason zu sich selbst. »Dafür kommst du vors Kriegsgericht.« Er tippte: TOT.

Der Schirm flackerte und kehrte zum Hauptmenü zurück.

Jason schüttelte den Kopf. »Das heißt wohl ›Zugriff verweigert‹.«

Er dachte kurz nach und begann dann erneut mit der Eingabeprozedur. Als er wieder aufgefordert wurde, Amirahs Status anzugeben, tippte er: MENTALE INKOMPETENZ.

IST CAPTAIN ANWESEND?

BESTÄTIGT.

NOTFALLCODE EINGEBEN.

»Das wird ja immer besser!« Jetzt sollte er die gesamte Sicherheitscodierung des Systems ändern, nur um Zugriff auf die Akte zu erhalten? Normalerweise kannte nur der Captain diesen Code, doch nach Amirahs Verschwinden hatte auch Jason Zugang zu dieser Codierung erhalten. Er tippte: 81672-11673-ALKUM.

CODE AKZEPTIERT. SICHERHEITSKENNWORT EINGEBEN.

»Was, zum Teufel, soll das nun wieder?«

Jason schloß die Datei und fühlte sich sofort besser. Da er keinen Zugriff auf die Akte erlangt hatte, würde das Schiff den Versuch auch nicht abspeichern und weitermelden.

Es wurde Zeit für ihn, auf die Brücke zu gehen. Doch bevor er das Zimmer verließ, schrieb er noch eine kurze Nachricht für Amirah auf.

 

Bitte sehen Sie sich auch die Akte über Jumes an, sowie die Dateien 2 und 3 über Tikkun. In fünf Minuten beginnt mein Brückendienst, doch ich würde gern mit Ihnen reden, sobald Sie wach sind.

Jason

 

Auf dem Weg zur Tür warf Jason noch einen Blick auf den Kabinenthermostat. Amirah hatte sich häufig beklagt, auf der Brücke sei es ihr zu kalt. Er lächelte und schob den Temperaturregler nach oben.

 

Emon hatte sich im warmen Untergrund von Satellit 4 verkrochen und schaute durch einen Riß im Plastik nach oben. Die künstlich angelegten Tunnel bildeten ein regelrechtes Netz um ihn herum. Soldaten bewegten sich durch den Irrgarten, und der Widerhall ihrer geflüsterten Bemerkungen klang wie das Zischen in einer Schlangengrube.

Emon warf einen Blick auf Arikha. Die kleine dunkelhaarige Frau hatte sich dicht neben ihm zusammengekauert. Sie spähte zu den Lagerfeuern hinüber, die ihre Gegner bei Einbruch der Dunkelheit auf der Oberfläche des Satelliten entzündet hatten. Weiter hinten war das Hauptquartier von General Ornias zu erkennen, dessen verspiegelte Wände die Lichter der Straßenbeleuchtung reflektierten.

»Arikha«, flüsterte Emon und umklammerte ihr Handgelenk. »Du mußt das jetzt nicht mehr tun. Wir sind schon fast da. Der Zugang zu den Höhlen befindet sich gleich hinter dem nächsten Hügel. Es ist viel zu gefährlich, jetzt dorthin zu gehen.«

Arikha sah zu ihm hinüber. »Es muß sein, Emon. Gott wird mich schützen. Ich habe keine Angst.«

Emon murmelte etwas Unverständliches. »Jetzt hör mir zu, Arikha. Wir haben die Gegend so gut wie möglich erkundet, aber wir wissen noch immer nicht genau, an welcher Stelle der Tunnel die Oberfläche erreicht. Wenn du Pech hast, landest du genau in einem Zelt der blauen Bestien. Laß es bleiben! Wenigstens für heute nacht. Ich habe ein sehr ungutes Gefühl dabei.«

Arikha lächelte ihn an. »Der Mashiah ist nahe, Emon. Wir müssen ihm den Weg bereiten. Wenn mir etwas passiert, mußt du unsere Truppen anführen. Warte einfach auf das Zeichen.«

»Was für ein Zeichen?«

»Der Himmel, Emon«, entgegnete Arikha. »Achte auf den Himmel. Die Legenden erzählen, das Schiff habe die geheiligte Form. Warte, bis du siehst, wie es angreift. Doch jetzt, heute nacht, müssen wir die magistratischen Hunde zurückdrängen, damit wir sie töten können, wenn die Zeit gekommen ist. Und nun muß ich gehen.« Sie packte ihr Gewehr und kroch zum Ausgang.

»Arikha, warte!«

Emon griff nach ihrem Gewand, um sie festzuhalten, doch sie war schon fort. Er sah, wie sie gleich einem schwarzen Gespenst auf das Lager der Feinde zustrebte. Und dann erklang ihre kraftvolle Stimme: »Vorwärts! Das himmlische Königreich ist nahe!«

Bei ihrem Ruf erhoben sich die Giclasianer von ihren Lagerfeuern und zeichneten sich wie mächtige dunkle Tintenfische vor dem Himmel ab.

Arikha lief betend voran und führte ihre Truppen in einen verzweifelten Kampf, der die Giclasianer um ein paar hundert Schritte zurückwerfen und von der Hügelkuppe vertreiben sollte.

Emon gab seinen Soldaten mit der Hand das Angriffssignal. »Vorwärts! Diesmal machen wir sie fertig!«

In mehreren Wogen brachen die Soldaten aus dem Untergrund hervor und schossen auf jede blaue Gestalt, die vor ihnen auftauchte.

Emon stürmte quer durch das Lager und kämpfte, bis jeder einzelne Muskel seines Körpers schmerzte. Doch es gelang ihnen, den Widerstand zu brechen. Die Reste der feindlichen Soldaten flohen in Richtung des Hauptquartiers.

Emon warf einen Blick über das blutbedeckte Schlachtfeld. Die meisten seiner Soldaten hatten sich bereits wieder in die schützenden Höhlen zurückgezogen, doch ein paar beherztere waren noch geblieben, um Gewehre und Energieladungen einzusammeln.

Aber wo war Arikha?

Emon stürmte auf die nächste Öffnung im Boden zu und drängte sich rücksichtslos zwischen den Soldaten hindurch. »Arikha? Du da«, wandte er sich an einen der Männer, »hast du Anpin gesehen? Wo ist sie?«

Der Mann starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Ich habe sie hier nicht gesehen.«

Emon wirbelte herum und riß die Arme hoch. »Beeilung! Wir müssen sie suchen! Schnell!«

Die Menschen um ihn herum setzten sich in Bewegung und durchsuchten das Labyrinth.

 

Arikha beobachtete, wie die Sonne über den Hörnern des Kalbs von Palaia aufging. Der Anblick erschien ihr wie eine Verheißung.

Rings um sie lagen Hunderte von Leichen, und der stechende Geruch giclasianischen Blutes erfüllte die Luft. Von ihrem Platz aus konnte sie das Gesicht der Bestie erkennen, die vor ein paar Stunden auf sie geschossen hatte. Selbst im Tod schien das blaue Monster sie noch anzugrinsen.

Arikha wußte, daß sie schwer verletzt war. Offenbar hatte der Schuß ihre Wirbelsäule getroffen, denn sie konnte die Beine nicht bewegen.

Aber das machte nichts. Sie …

»Da ist eine!« rief eine giclasianische Stimme.

Arikha drehte mühsam den Kopf und sah eine große blaue Bestie auf sich zukommen. Der rubinrote Mund des Aliens wirkte im Morgenlicht besonders abstoßend.

Neben dem Giclasianer tauchte eine menschliche Gestalt auf. Arikha hätte ihn auch ohne seine Generalsuniform jederzeit an seinen limonengrünen Augen wiedererkannt. Sie nahm alle Kraft zusammen und spie ihn an.

»Ja«, bemerkte der General, »das ist sie. Bringt sie nach Palaia. Creighton und Mundus warten schon auf sie.«

Arikha verlor das Bewußtsein, als sie spürte, wie kalte Alienhände sie packten.

Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
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