KAPITEL
43
Jason preßte sich die Hände auf den Magen, als die Erschütterungen der Sargonid aufhörten und das schreckliche Gefühl der Desorientierung von ihm wich. Ihm war übel. Er glaubte, sich übergeben zu müssen und hatte Schwierigkeiten, seine Umgebung richtig wahrzunehmen.
»Was, zum Teufel, war das?« fragte Rad.
Jason schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Monitor zu, auf dem das Innere des Hangars zu sehen war. Ob die Untergrundleute damit zu tun hatten? Nein, der Jäger ruhte noch immer friedlich auf dem Boden des Hangars. Jason wirbelte herum und rief: »Schafft die Gamanten hier fort. Alle anderen nehmen die vorgesehenen Plätze für den Hinterhalt ein!«
Die Medotechniker injizierten den Gefangenen milde Sedativa, um sie gefügiger zu machen, und entfernten dann die Sondierungshelme von ihren Köpfen. Sybil schlug wild um sich, doch bei den Männern schien das Mittel schon zu wirken. Jason begab sich in die Mitte des Raumes, um sich einen Überblick über die Vorbereitungen zu verschaffen. Überall auf den drei Ebenen des Maschinenraums gingen die Soldaten in Stellung, überprüften die Ladungen der Gewehre oder leckten sich nervös die Lippen. Jeder an Bord träumte schon lange davon, Jeremiel Baruch und Cole Tahn in die Finger zu bekommen. Die Magistraten hatten schon vor Jahren angeordnet, auch den letzten Rest an Informationen aus den Gehirnen der beiden Männer herauszuquetschen. Anschließend würden sie weniger Verstand besitzen als eine Kartoffel, aber wenn man bedachte, wie viele unschuldige Menschen der gamantische Untergrund im letzten Vierteljahrhundert niedergemetzelt hatte, verdienten sie kein Mitleid. Vor allem Tahn nicht! Der infamste Verräter der magistratischen Geschichte. Wenn es Jason gelang, diesen Mann zu fangen, würden die Magistraten ihm ein eigenes Schiff geben, und er müßte nicht länger darunter leiden …
»Lieutenant«, unterbrach Chefingenieur Rad seine Gedanken. Er hielt den Blick fest auf den Hangarmonitor gerichtet. »Sie sollten sich das hier besser mal ansehen.«
Jason eilte zu ihm und stützte sich mit einer Hand auf das Bildschirmgehäuse. Sein Unterkiefer klappte herunter, als zwei Männer den Jäger mit erhobenen Händen verließen. Eine kleinere Gestalt – eine Frau –, die wie die Männer einen Druckanzug trug, folgte ihnen mit einer Pistole in der Hand.
Sie dirigierte die Männer zum Ausgang des Hangars und drückte dort auf den Knopf des Interkoms.
»Lieutenant Woloc?« Amirahs kräftige Stimme drang aus allen Lautsprechern des Schiffes.
Ein paar Hochrufe wurden im Innern des Maschinenraums laut. »Der Captain hat Baruch und Tahn selbst gefangen!«
»Lieber Himmel, ist das zu glauben? Jossel bringt wirklich alles fertig!«
Jason drückte auf den Antwortknopf. »Amirah! Sie leben!«
»Lebendig, aber auch todmüde«, erwiderte Jossel. »Könnten Sie mit einem Sicherheitsteam herkommen und die beiden Gefangenen übernehmen? Danach brauche ich ein gutes Essen und zehn Stunden Schlaf.«
»Jawohl, Captain. Wir sind schon unterwegs.«
Er unterbrach die Verbindung und wandte sich an Qery: »Sergeant, sammeln Sie Ihr Team, und folgen Sie mir.«
»Schon erledigt, Sir«, verkündete Qery.
Jason verließ eilends den Maschinenraum. In seiner Brust tobten Gefühle, die er sich nicht anmerken lassen durfte. In den vergangenen Tagen hatte er sich solche Sorgen um Amirah gemacht, daß er jetzt am liebsten losgerannt wäre, um sich zu vergewissern, ob sie wirklich heil und gesund war. Doch das durfte er natürlich nicht. Statt dessen mußte er die Dinge professionell handhaben und Amirah mit der reservierten Freude begrüßen, wie er es auch bei jedem anderen Mannschaftsmitglied gehandhabt hätte.
Sie eilten den Gang entlang und drängten sich dann in die Fahrstuhlkabine. Während der Aufzug sie nach unten brachte, überkam Jason plötzlich ein Gefühl der Verzweiflung. Alles würde jetzt wieder von vorn beginnen. All der Kummer und der Schmerz.
Die Kabine hielt an, und Qery schwärmte mit seinen Männern aus, um den Gang zu sichern. Jason zog die Pistole, machte ein paar Schritte und spähte vorsichtig um die Ecke.
Amirah und ihre beiden Gefangenen hatten mittlerweile die Helme abgenommen. Ihre Augen zeigten einen Ausdruck, der zwischen Argwohn und Neugier zu schwanken schien. Baruch stand ruhig da und verzog keine Miene. Tahn hingegen marschierte unruhig auf und ab und flüsterte Baruch gelegentlich eine Bemerkung zu, die dieser mit einem ruhigen Kopfnicken quittierte.
Jason nickte Qery zu, der mit seinen Männern nachrückte. Gemeinsam stürmten sie in den Korridor. Das Sicherheitsteam drängte Baruch und Tahn gegen die Wand und durchsuchte sie.
Amirah wich einen Schritt zurück. Erleichterung leuchtete auf ihrem Gesicht, als sie Woloc erkannte.
»Schön, Sie gesund wiederzusehen, Captain«, meinte Jason, als er zu ihr gelangte.
»Gleichfalls, Lieutenant.«
Amirah schwankte ein wenig, und Jason ergriff ihren Ellbogen, um sie zu stützen.
Leise fragte er: »Alles in Ordnung?«
»Ja«, erwiderte sie. »Ich bin nur völlig erschöpft.«
»Kann ich mir vorstellen.« Jason drückte ihren Arm sanft. Es tat ihm gut, ihr so nahe zu sein. Er warf einen Blick zu Baruch und Tahn hinüber und erstarrte innerlich. Tahn betrachtete ihn mit geradezu unheimlicher Intensität. Zögernd ließ Jason Amirahs Arm los und sagte: »Ich kann es kaum erwarten, endlich zu erfahren, wie Sie die beiden schlimmsten Desperados der Galaxis geschnappt haben.«
Amirah schaute zu Tahn hinüber. Der Captain stand reglos da, als die Soldaten ihm die Hände fesselten, doch seine Augen funkelten voller Zorn. Jason blickte zwischen Amirah und Tahn hin und her. Die beiden schienen stumme Fragen auszutauschen. Dann grinste Tahn plötzlich, und Amirah senkte den Blick und beantwortete endlich Jasons Bemerkung. »Ich freue mich auch schon darauf. Treffen wir uns zu einem Glas in meiner Kabine? So gegen neunzehn Uhr?«
»Ja, sehr gern. Aber jetzt sollten Sie sich erst mal ausruhen. Ich schicke einen Funkspruch nach Palaia, um mitzuteilen, daß Sie heil und gesund sind und daß wir Baruch und Tahn in unserer Gewalt haben. Anschließend setzen wir unseren Flug fort, und ich kümmere mich darum, daß Doktor Hilberg die beiden sofort einer Sondierung unterzieht …«
»Nein!« brach es aus Amirah hervor. »Nein, stecken Sie sie einfach in die Brigg, bis ich mir in Ruhe überlegt habe, was mit ihnen geschehen soll.«
Jason runzelte die Stirn. »Ganz wie Sie meinen, obwohl die Standard-Vorgehensweise vorsieht …«
»Ich bin mir dessen durchaus bewußt, Lieutenant!« sagte Amirah in so scharfem Tonfall, daß die Männer des Sicherheitsteams neugierig zu ihnen hinüberschauten.
Jason hob entschuldigend die Arme. »Ich wollte nicht respektlos erscheinen, Captain.«
Und dann tat Amirah etwas, das sie noch nie gemacht hatte. Sie setzte eine schuldbewußte Miene auf, legte ihm die Hand auf die Schulter und meinte: »Tut mir leid, Jason. Ich bin völlig übermüdet.«
»Ich verstehe schon. Sehen Sie zu, daß Sie ein paar Stunden Ruhe finden. Ich kümmere mich um das Schiff.«
Amirah klopfte ihm auf die Schulter und machte sich auf den Weg.
Als das Sicherheitsteam Tahn in die entgegengesetzte Richtung fortzerren wollte, wehrte er sich und rief: »Amirah? Amirah!«
Jason wollte dem Gefangenen schon gebieten, den Mund zu halten, da bemerkte er, daß Jossel plötzlich stehenblieb, als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen. Sie drehte sich nicht um, sondern hob das Gesicht zur Decke und fragte: »Was ist, Cole?«
Jason klappte verdutzt den Mund auf, weil sie seinen Vornamen benutzte.
Mit der sanftesten Stimme, die Jason je gehört hatte, sagte Tahn: »Wenn Sie … irgend etwas … brauchen, lassen Sie mich holen. Haben Sie verstanden?«
Jason schnaubte ungläubig bei der Vorstellung, Jossel könnte jemals einen anderen Menschen brauchen. Doch zu seinem Erstaunen drehte sich Amirah um. »Ja, ich habe verstanden, Cole. Aber jetzt bin ich wieder daheim. Und alles kommt wieder in Ordnung.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging.
Jason versuchte herauszufinden, um was es bei diesem Gespräch eigentlich gegangen war, gab dann aber auf. »Qery, schaffen Sie die Gefangenen in die Brigg.«
»Jawohl, Sir.« Der Sergeant gab seinen Leuten einen Wink, und der Trupp setzte sich in Bewegung. Jason schaute ihnen nach. Baruch sagte etwas zu Tahn, worauf dieser mit einem Kichern reagierte und dann hinzufügte: »Nun, zumindest müssen wir uns nicht mehr um die Verteidigungsschirme sorgen.«
Jason runzelte die Stirn. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als er sich auf den Weg zur Brücke machte.
Amirah betrat ihre Kabine und ließ sich gegen die Wand sinken. Weshalb hatten sich Baruch und Tahn ergeben? Wenn sie tatsächlich den Verdacht hatten, Jason hätte den Kreuzer zurückerobert, hätten sie mit Leichtigkeit fliehen können. Doch Baruch hatte darauf bestanden, sich zu ergeben. Wieso? Gamanten waren wirklich schwer zu …
»Verdammt, du bist doch selbst eine Gamantin!«
Sie schaute sich in der Kabine um und genoß das Gefühl der Sicherheit, das ihr die vertraute Umgebung vermittelte. Rechts von ihr standen der Tisch und vier Stühle, und darüber hing ein kleines Bücherregal an der Wand. Auf der anderen Seite befand sich das Bett, das durch ein Regal vom Rest des Zimmers abgetrennt war. Das Regal enthielt Andenken an alle möglichen Welten überall in der Galaxis, darunter auch vielfarbige Weingläser, die aus Hevron auf der Alten Erde stammten. Ihre Großmutter hatte sie ihr einmal geschenkt. Es war schon sehr lange her, doch Amirah erinnerte sich noch genau, wie Sefer ihr geholfen hatte, die Gläser zu verpacken.
»Du bist eine Gamantin, Amirah«, wiederholte sie. »Du bist die Enkelin einer großen gamantischen Heldin.«
Hektisch riß sie sich den Druckanzug und die Uniform vom Leib und preßte dann ihre Hände gegen den schmerzenden Kopf. Wie aus weiter Ferne hörte sie Tahns Stimme: Eines Tages werden Sie aufhören müssen, vor sich selbst wegzulaufen.
Sie eilte unter die Dusche und blieb zwanzig Minuten unter dem heißen Wasserstrahl stehen. Als sie wieder herauskam, fühlte sie sich etwas besser.
Daheim zu sein, erfüllte sie mit einem Gefühl der Wärme und Sicherheit. Im Grunde war das Schiff immer ihr einziger Geliebter gewesen, ihr Gefährte in guten wie in schlechten Tagen.
Amirah ging zum Bett, legte sich hinein und zog die Decke bis zum Hals. Sie versuchte zu schlafen, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Gespräch an Bord des Jägers zurück. Was hatte Baruch gemeint, als er erwähnte, nach Palaia zu gehen? Was konnten zwei Männer dort schon ausrichten, an einem derart gesicherten Ort? Nicht einmal, wenn sie frei wären, hätten sie eine Chance, dort einzudringen.
Nachdem sie sich zwei Stunden ruhelos im Bett herumgewälzt hatte, stand sie auf, ging zum Druckanzug und holte das Blatt heraus, das Tahn ihr zugesteckt hatte. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Liste. Sie hatte mit fünf oder sechs Einträgen gerechnet, aber nicht mit siebenundsiebzig.
Sie setzte sich vor das Terminal, stellte die Verbindung zum Zentralcomputer auf Palaia her und forderte die erste der Aufzeichnungen an. Nach kurzer Zeit leuchtete ein Schriftzug auf. Akte unter Verschluß. Bitte Autorisierungscode eingeben.
»Was?« fragte sie ungläubig.
Wieso wurde für derartige Unterlagen eine Klassifizierung verlangt, wie sie nur einem Captain zugeteilt wurde? Sie schlug mit der Faust auf den Tisch und gab dann die entsprechende Sequenz ein. Sicherheitshalber ließ sie dann gleich sämtliche aufgelisteten Dateien in die Speicherbänke der Sargonid überspielen.
Als alles erledigt war, verharrten ihre Finger zögernd über der Tastatur. Doch schließlich forderte sie alle verfügbaren Daten über Captain Amirah Malkenu Jossel an. Ihre Hände zitterten, als sie die Datenflut sah. Wußten sie wirklich soviel über sie? Die Unterlagen mußten mehr als vierhundert Seiten umfassen.
Amirah holte sich die Decke vom Bett, legte sie um die Schultern und überlegte, welche Akten sie sich zuerst vornehmen sollte.
»Wenn sie nicht hier sind«, fragte Rudy mit zusammengebissenen Zähnen, »wo sind sie dann?« Er umklammerte sein verletztes Bein, als er über die Brücke der Orphica zum Navigationspult humpelte.
Die anderen Brückenoffiziere warfen ihm besorgte Blicke zu.
Merle stützte sich auf die Lehne des Kommandantensessels und betrachtete des Bild auf dem Frontschirm. Zwei Dutzend Sternensegler und eine Reihe von Frachtern waren inzwischen aufgetaucht, jedoch kein Kreuzer. »Wenn sie nicht hier sind, dann auf Palaia.«
Rudy beugte sich über die Konsole und schüttelte den Kopf. »Was, zum Teufel, sollen wir jetzt machen, Merle? Wenn die Magistraten auf Horeb einen Hinterhalt legen konnten, durfte Jeremiel und Cole auf Palaia das gleiche erwarten. Selbst wenn es ihnen gelungen sein sollte, die Sargonid zu …«
Merle riß die Hand hoch, um ihn zu unterbrechen. Rudy schaute zum Schirm hinüber, wo gerade zwei Kreuzer auftauchten.
»Unsere, Kopal?«
Rudy warf einen Blick auf die Anzeigen auf seinem Pult. »Ja«, seufzte er erleichtert, »die Zilpah und die Hammadi.«
Merle ließ sich zurücksinken. »Rudy, wir müssen sofort feststellen, in welchem Zustand sie sich befinden. Wenn beide einsatzbereit sind, können wir die Flüchtlinge mit einem einzigen Schiff nach Shyr bringen. Und dann …«
»Ja!« rief Rudy. »Mit zwei Kreuzern und den übrigen Schiffen können wir schon einiges ausrichten. Also los!«