KAPITEL
49

 

 

Sybil erwachte und schob sich aus ihrer Koje in der Brigg. Die Schulter tat ihr immer noch bei jeder Bewegung weh, doch die schlimmsten Schmerzen waren vergangen. Schweigend betrachtete sie die Reihe der Kojen, in denen Mikael, Ari und Yosef schliefen. Wie friedlich sie aussahen. Sie schienen nichts von den Horden der Feinde zu ahnen, die sie umringten.

Jeremiel lief weiterhin besorgt vor der Tür auf und ab und hielt die Hände in die Hüften gestemmt. Jedesmal während der letzten Stunden, wenn Sybil wach geworden war, hatte sie ihn so dort gesehen. Als sie vor zwei Stunden die Augen geöffnet hatte, war Cole Tahn verschwunden gewesen. Er war immer noch nicht zurückgekehrt. Sie hatte versucht, Jeremiel nach seinem Verbleib zu befragen, doch Baruch hatte nur heftig den Kopf geschüttelt und in Richtung der Monitore geblickt, die jeden Quadratzentimeter des Raumes erfaßten.

Mikael spürte, daß Sybil sich regte, und rollte sich auf die Seite. Er lächelte sie schlaftrunken an. Träge hob er eine Hand, legte sie ihr auf den Arm und drückte ihn ermutigend.

»Wie geht es dir?« fragte er leise. Die schwarzen Locken umrahmten sein blasses Gesicht.

»Mikael«, antwortete sie, »ich weiß, wo Nathan ist.«

Er blinzelte, bis er die Augen ganz öffnen konnte. »Wo?«

Sie berichtete ihm im Flüsterton von ihrem Traum und den Namen, die sie darin gehört hatte. »Yeshwah, der Mann, der mit Nathan zusammen war, nannte die Stadt Yerushalaim. Sie muß sich auf einem sehr abgelegenen Planeten befinden. Es gab dort überhaupt keine Technologie, wenn man von den primitiven Schwertern und den Pferden absieht, die man dort als Zugtiere eingesetzt hat. Und die Bewohner trugen grobe, selbstgenähte Gewänder.«

Mikael schüttelte ein paar Strähnen aus seinem Gesicht.

Sein Blick schweifte durchs Zimmer, während er nachdachte. Schließlich beugte er sich zu ihr vor und flüsterte: »Sybil, erinnerst du dich an die alten Geschichten über die Vorväter der Gamanten? Avram, Yeshwah und Sinlayzan? Hat man Yeshwah nicht in einer Stadt mit Namen Yershulim getötet? Das könnte doch dieselbe Stadt sein, oder? Im Lauf der Jahrhunderte verändern sich Aussprache und Schreibweise.«

»Vielleicht.« In ihrem Kopf erschienen wieder die Bilder von dem metallisch grünen Wasser und den Menschen in den langen weißen Gewändern. Wie hatte man das Land genannt? Sie rang mit ihrer Erinnerung und suchte nach den alten Geschichten, die ihr Vater ihr erzählt hatte … Die Gestade des Meers von Arabah …

Sybil nahm Mikaels Hand und drückte sie fest. »Die Alte Erde …«

»Warum sollte deine Mutter Nathan dorthin führen?«

Sie setzte zu einer Antwort an, schwieg aber, als sie bemerkte, daß Jeremiel stehengeblieben war. Aufs äußerste gespannt, verharrte er an der Tür, legte den Kopf schief und lauschte auf Geräusche, die von draußen kommen mußten. Jetzt ballte er sogar die Fäuste, als wolle er die Lichtschranken mit Gewalt durchbrechen. Und dann vernahm Sybil vom Gang die Stimme Tahns.

Sie drehte sich rasch zu Mikael um und versuchte, seine Frage zu beantworten, bevor Cole hereinkam. »Auf dem Balkon, damals nach dem Kampf, hat Mama mir gesagt, daß sie das Königreich Gottes erbaue. Damals wußte ich nicht, was das bedeuten sollte, aber jetzt …«

Tahn marschierte in den Raum, und die Wachen schalteten hinter ihm die Lichtschranken wieder ein. Sofort ertönte wieder das leise Summen. Sybil bemerkte besorgt, wie er Baruch einen ernsten Blick zuwarf und dann an ihm vorbei zum Tisch schritt. Er zog mit der Stiefelspitze einen Stuhl zu sich heran und stellte dann den Fuß darauf, ehe er Jeremiel verschmitzt angrinste. »Weißt du, die Magistraten sind schon eine verdammte Bande von Nahash-Hurensöhnen.«

Baruch nickte und begab sich zu Cole. »Das ist mir schon seit längerem bekannt. Eben typische ›Schlangen‹, jeder einzelne von ihnen.«

»Ist dir bekannt, daß das Wort ›Naas‹ im Giclasianischen Schlange bedeutet? Paßt doch irgendwie, oder?«

Jeremiel zögerte kaum merklich. »Das war mir nicht bekannt, aber ich muß dir recht geben. Du warst vier Stunden fort, Cole. Was haben die Nahash-Hurensöhne mit dir angestellt?«

»Och, eigentlich habe ich nur ein wenig Zeit mit Woloc und Jossel verbracht, dann hat der Lieutenant mich ins medizinische Labor hinabgeführt und für ein paar Stunden unter eine Sonde gelegt.«

Baruch machte ein Gesicht, als wollte er jemanden umbringen. »Ehrlich? Und ich dachte …«

»Sie hat ihre Meinung eben geändert. Wie Frauen das nun mal tun.« Tahn verzog das Gesicht und winkte ab. Er konnte Jeremiel hier und jetzt nicht mitteilen, daß Woloc keine andere Wahl geblieben war. Als er und der Lieutenant nämlich Amirahs Kabine verlassen hatten, waren sie dem Schiffsarzt direkt in die Arme gelaufen. Woloc hatte sich rasch etwas einfallen lassen müssen.

Tahn ließ den Blick durch den Raum schweifen, sah die angespannten Mienen von Mikael und Sybil und bemerkte die neugierigen Gesichter von Funk und Calas. Er zuckte die Achseln. »Ist nicht weiter schlimm. Mit mir ist alles in Ordnung, bis auf ein leises Unwohlsein im Magen.«

»Setz dich doch«, riet Jeremiel ihm. Er zog für Cole einen Stuhl unter dem Tisch hervor, und Tahn ließ sich dankbar darauf plumpsen. »Sie sind wirklich eine Schlangenbrut.«

Baruch setzte sich neben Cole und lehnte sich zurück. »Was ich dir jetzt sage, wird dich sicher interessieren, Freund. Es gibt da nämlich eine alte Legende der Gamanten über Schlangen. Sie erzählt, daß der erste Mann und die erste Frau aus Reinem Licht erschaffen wurden und in einer wunderbaren Gartenwelt lebten. Ihre Namen lauteten Adom und Hava. Doch dann kam eine Schlange und verleitete sie dazu, ihre Lichtkleider abzulegen und sich statt dessen in Schlangenhäute zu kleiden. Als Epagael das entdeckte, bestrafte er sie. Er warf sie aus dem Garten hinaus und verdammte sie dazu, auf alle Ewigkeit in Metallbergen zu leben. Die gamantischen Zaddiks haben diesen Ort stets als spirituelle Finsternis interpretiert. Es heißt, daß die Menschen erst dann aus dieser Finsternis erwachen, wenn die Heilige Schlange in den Abgrund steigt und die Schwärze überwindet.«

Cole schnaubte geringschätzig. »Metallberge, wie? Vielleicht so etwas wie Raumstationen? Palaia ist ganz gewiß ein Zentrum der spirituellen Finsternis, das kann ich dir versichern. Aber was um alles in der Welt habe ich mir unter einer Heiligen Schlange vorzustellen? Ich dachte immer, in der gamantischen Mythologie stünden Schlangen stets für etwas Böses, Teuflisches.«

»Nein.« Mikael trat zu ihnen und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Seine dunklen Augen funkelten, so, als wäre ihm bereits klar, wonach Tahn und Baruch noch suchten. »Nicht alle Schlangen sind böse. Die Legende geht nämlich noch weiter und berichtet im folgenden, wie die Spirituelle Frau, die Mutter des Lebens, die den weiblichen Aspekt des Königreichs des Lichts repräsentiert, sich in eine Schlange verwandelt und sich dem schlafenden Adom nähert, um ihn zu wecken – um ihm die Lichtgewänder zurückzugeben.«

»Aber warum erscheint sie ihm als Schlange? Man sollte doch meinen, eine Göttin könne sich zumindest in eine weniger schreckliche Gestalt verwandeln.«

Baruch winkte mit dem Zeigefinger ab. »Aber versteh doch, es handelte sich dabei um eine Tarnung. Auf diese Weise hielten die Schlangen im Abgrund sie für eine der ihren, und …«

Jason Wolocs Stimme ließ ihn verstummen. Cole drehte sich langsam zu dem jungen Lieutenant um. Woloc tat so, als läge nichts Besonderes vor und unterhielt sich leutselig mit den beiden Corporals, die draußen Wache hielten. Aber Tahn entging nicht, daß seine Rechte das Pistolenholster wie einen Rettungsring umklammerte.

Die Lichtschranken erloschen, und einer der Posten stürmte herein und richtete seine Pistole auf Cole. Tahn verzog das Gesicht und erhob sich.

»Was ist denn jetzt schon wieder, Lieutenant?« rief er trotzig, während er sich auf die Tür zubewegte. »Noch eine Folterstunde? Nach so kurzer Zeit?«

Jason machte eine finstere Miene und zog seine Waffe, als Cole im Korridor stand. »Folgen Sie mir, Tahn. Ihr Sondenstuhl ist noch warm.«

Cole zuckte unwillkürlich zusammen. Woloc hatte so geklungen, als sei es ihm wirklich ernst damit. »Dessen bin ich mir bewußt, Lieutenant.«

Der junge Offizier deutete mit der Pistole nach vorn. »Sie kennen ja den Weg zum Aufzug, Captain.«

Als sie um die Ecke bogen und den Fahrstuhl betraten, sackte der Lieutenant sichtlich zusammen. Er lehnte sich schwer gegen die Wand und drückte auf den Knopf für Deck Zwanzig. »Sie erwartet Sie dort in der Lounge, Tahn.«

»Dann ist sie also aus ihrer Starre erwacht?«

»Ja, und es geht ihr gut, fast so, als wäre nie etwas geschehen.« Amirah konnte sich nicht einmal mehr erinnern. Jason hielt inne und machte ein unglückliches Gesicht. »Einfach an nichts mehr, was letzte Nacht geschah.«

»Hat Amirah Sie danach gefragt?«

»Ja. Ich habe ihr alles erzählt, was ich wußte. Ich hatte richtige Todesangst, denn ich konnte ja nicht wissen, wie sie reagiert, wenn ich ihr berichte, wie die Holo-Geschichte ausgegangen ist.«

»Und? Wie hat sie darauf reagiert?«

»Zuerst wollte sie mir nicht glauben. Aber ich habe es ihr noch einmal versichert. Und dann hat sie das Loch im Schreibtischsessel entdeckt. Ich glaube, Amirah ist jetzt überzeugt. Sie setzt sämtliche Puzzlestücke zusammen und ist tief beunruhigt.«

»Das ist ja wohl verständlich. Warum gerade die Lounge auf Deck Zwanzig?«

»Ich hielt es für zu gefährlich, wenn Sie Amirah wieder in ihrer Kabine aufsuchen würden. Die meisten Mitglieder der technischen Mannschaft haben sich zu einer Lagebesprechung im Konferenzraum 2010 versammelt.«

»Ich nehme an, der befindet sich am anderen Ende des Decks.«

»Richtig.«

»Gut.«

Der Aufzug hielt. Woloc stieg aus und überprüfte die Lage im Gang. »Alles klar, kommen Sie.«

Cole eilte im Laufschritt los und bog rechts in den Seitenkorridor ein. Als sie die Lounge erreichten, sagte der Lieutenant: »Sie ist verschlossen. Treten Sie zurück.«

Tahn gehorchte, und Woloc gab den Code ein, mit dem sich die Tür öffnen ließ. Als sie leise zischend aufglitt, hielt der Lieutenant Cole am Arm zurück und erklärte ihm in verschwörerischem Flüsterton: »Nehmen Sie sie nicht zu hart ran, Tahn. Sie ist immer noch ziemlich durcheinander. Ich weiß nicht, wie weit sie sich schon wieder gefangen hat.«

»Danke für die Warnung, Lieutenant. Ich werde sie schon nicht überfordern.« Damit trat er in die Lounge. Hinter ihm schloß sich die Tür. Eine rote Lampe auf dem Öffner zeigte ihm an, daß sie auch wieder verriegelt war. Er konnte nicht mehr nach draußen, solange niemand kam, der den entsprechenden Code kannte und ihn befreite.

Tahn blieb einen Moment stehen, damit seine Augen sich an das Halbdunkel des nur von Kerzen beleuchteten Zimmers gewöhnen konnten. Eigenartig, dachte er, daß ich schon vergessen habe, wie angenehm auf magistratischen Kreuzern die Lounges auf Deck Zwanzig eingerichtet waren. Kerzenschein und Geigenmusik trieben über die kleinen Holztische, und Holos, die verschiedene Baumarten zeigten, zierten die rot, gelb und grün gestrichenen Wände.

Als Cole deutlicher sehen konnte, machte er auch Amirah aus. Sie saß allein in einer Nische am gegenüberliegenden Ende der Lounge. Vor ihr türmte sich ein Stapel uralter, leicht zerfledderter Bücher. Der Kerzenschimmer verlieh ihrer figurbetonten Uniform einen bronzefarbenen Schein.

Cole schob die Hände in die Overalltaschen, durchquerte den Raum und blieb dann unschlüssig vor der Nische stehen. Amirahs Gesicht wirkte golden.

»Ich habe gehört, daß es Ihnen besser geht.«

Sie hob den Kopf und blickte ihn mit unsteten Augen an. »Kommt drauf an, worauf Sie das beziehen. Rein körperlich fühle ich mich wieder fit. Jason hat mir erzählt, was Sie letzte Nacht getan haben. Vielen Dank.«

»Gern geschehen.«

Mit einer fahrigen Bewegung ihrer Hand bedeutete sie ihm, auf der gegenüberliegenden Bank Platz zu nehmen. »Setzen Sie sich, Captain. Ich habe einige Dinge nachgeschlagen, die Sie interessieren dürften.«

Er glitt auf die Bank und legte den Kopf schief. »Was für Dinge?«

»Großmutter pflegte zu sagen: ›Amirah, du mußt dir den Alptraum des Exils deines Volkes zu Herzen nehmen, sonst wirst du niemals frei sein.‹«

Tahn betrachtete ihren verkniffenen Mund. »Hört sich für mich typisch gamantisch an. Was hat sie denn damit gemeint?«

Amirah legte die Bücher zu einem Stapel zusammen und schob sie ihm dann zu. Verblaßte und abgeblätterte goldene Lettern zeigten sich auf den Buchrücken. »Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«

Er warf einen erwartungsvollen Blick auf die Bände. »Ja, in Ihrer Kabine, auf dem Tisch. Was sind das für Bücher?«

»Lieutenant Rad hat sie von den alten Männern konfisziert, die die Steueranlage besetzt hatten. Er meinte, wir sollten sie wegsperren, weil Informationen der höchsten Geheimhaltungsstufe darin enthalten seien.«

»Informationen worüber?«

Amirah zog einen Band aus dem Stapel, blätterte durch die brüchigen Seiten, fand die Stelle, die sie suchte, und antwortete: »Über die Geschichte und Konstruktion der Station Palaia. Sehen Sie sich das einmal an, Cole.«

Ihre Stimme klang so eindringlich, daß Tahn sich unverzüglich erhob und neben ihr auf der Bank Platz nahm. Sie zeigte ihm die betreffende Stelle im Text. Fremdartige Diagramme auf einer vergilbten Seite.

Er studierte die Symbole, mußte aber schließlich fragen: »Und was soll das darstellen?«

»Diese Entwürfe zeigen die Entwicklung der verschiedenen Strukturen der heiligen Sefiroth an. Meine Großmutter hat sie mir buchstäblich eingebleut.«

»Und was sind Sefiroth?«

»Sphären – ursprünglich Hüllen des Lichts, die explodiert sind, um das Fundament der Schöpfung zu bilden. Gemeinsam stellen die Sefiroth das Reich der Göttlichkeit dar, auf dem alles existiert, das wir sehen, hören oder berühren können. Dieses Reich ist in aller Schöpfung aktiv. Die alte gamantische Mystik besagt, daß die Erlösung darin besteht, alle verstreuten Funken einzusammeln und Gott zurückzugeben.«

Coles Herz schlug schneller, so als wisse sein Körper etwas, das seinem Geist noch nicht bewußt geworden war. »Funken?«

»Im Zusammenhang mit dem, was wir nun bereden wollen, sollten wir sie besser primordiale Schwarze Löcher nennen, die uns aufgrund ihrer Verdunstungsrate als Weiße Löcher erscheinen.«

»Richtig … Funken.« Sein Herz schlug einen Trommelwirbel. »Und wie kann man gemäß der alten Mystik all diese Funken einsammeln?«

»Durch einen komplizierten Prozeß namens Tikkun. Danach ist übrigens auch Baruchs Heimatwelt benannt. Dieser Prozeß sollte alles auf seine ursprüngliche Wurzeln zurückführen.«

»Sie meinen den Urknall?«

»Nein, ich spreche von der Zeit davor. Die Mystiker nennen es den Schatz des Lichts. Es handelt sich dabei um einen … einen Urozean aus reiner Energie.«

Tahn rieb sich das Kinn. »Vielleicht sollte ich mir diese Diagramme doch einmal genauer ansehen.«

Sie machte ihm Platz, und er hielt das Buch mit beiden Händen fest. Dreizehn geometrische Zeichnungen zeigten sich auf der Seite. Während er sie studierte, befiel ihn ein Erstickungsgefühl, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Alles fügte sich zusammen: die miteinander verbundenen Diagramme, die vertikale Orientierung und die beiden Horizonte im Fünfundvierziggradwinkel. »Sefiroth …«, flüsterte er.

»Genau.«

Ihre Blicke trafen sich, der ihre ernst, der seine erstaunt. »Sie wissen genauso gut wie ich, daß wir hier die Raum-Zeit-Darstellung eines elektrisch aufgeladenen Schwarzen Loches vor uns haben. Eine nicht ganz exakte Zeichnung, aber sie erfüllt ihren Zweck.«

Amirah nickte. »Und das ist noch längst nicht alles. Lassen Sie mich Ihnen ein anderes Buch zeigen.« Sie zog einen neuen Band aus dem Stapel.

Während sie nach der richtigen Seite suchte, beschlich Tahn eine unheimliche Vorahnung, und ein eisiges Gefühl kroch über sein Rückgrat. Er zitterte, als seine Gedanken in der Zeit zurückflogen. Vor zwölf Jahren, als er an Bord der Hoyer in seiner Kabine eingeschlossen gewesen war … Rachel Eloel war voller Panik zu ihm gekommen. Er erinnerte sich an den Vorfall, als wäre es erst gestern geschehen …

Sie stand wie eine Erscheinung in seiner Tür, und ihre Silhouette hob sich von dem dunklen Gang hinter ihr ab. »Es tut mir leid, Sie zu stören.«

»Ich hatte sowieso gerade nichts zu tun«, antwortete er und fragte sich, was sie von ihm wollte. »Kommen Sie doch herein.«

Sie betrat zögernd seine Kabine, und ihr Blick wanderte forschend durch den Raum. Sie hielt ein Blatt in der Hand und schien nicht recht zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Zuerst zerknüllte sie es mit der Rechten, dann mit der Linken. Allein sie so zu sehen, machte Cole nervös.

»Ich nehme an, Sie sind nicht ohne Grund gekommen«, sagt er freundlich. »Oder sollte ich mich da geirrt haben?«

Nach einigen Minuten belangloser Unterhaltung trat sie auf ihn zu und fragte ihn mit großer Eindringlichkeit: »Captain, könnten Sie mir wohl bei einem physikalischen Problem behilflich sein?«

»Es handelt sich dabei doch hoffentlich nicht um Berechnungen, die Ihnen dabei helfen sollen, mich oder die Magistraten in die Luft zu sprengen, oder?«

»Nein.«

»Hat das Problem etwas mit dem Blatt zu tun, das Sie in der Hand halten?«

Rachel blickte hinab auf das zerknüllte Etwas und senkte entschuldigend den Kopf. »Ja. Ich hoffe, Sie können es immer noch entziffern.«

Hastig, als befürchte sie, sich schon im nächsten Moment anders zu entscheiden, drückte sie ihm das Blatt in die Hand. Cole strich es glatt und betrachtete dann ausgiebig die darauf niedergeschriebenen fünf Gleichungen. Sie faszinierten ihn von Minute zu Minute mehr, und schließlich sah er Rachel bewundernd an.

»Sie brauchen keine Hilfe von mir. Für mich sieht das alles perfekt aus. Ich hätte da nur noch eine Frage bezüglich Ihrer Statistiken zu Masse und Ladung. Sind Sie sicher, daß Sie die korrekt berechnet haben?«

Rachel starrte ihn verwirrt an. »Ich glaube ja. Wieso?«

Sie war eine attraktive Frau, und ihre Augen hielten ihn in ihrem Bann. Und sie schaute ihn an, als wisse er mehr als Gott selbst und als würde sie ihn auf der Stelle erschlagen, wenn er sie nicht bald mit den richtigen Antworten versorgte. »Sehen Sie bitte her, dann zeige ich Ihnen, was ich meine.«

Rachel stellte sich neben ihn, und ihr langes schwarzes Haar fiel auf seinen Arm. »Sie geben das hier korrekt wieder, und auch bei den Ereignishorizonten sind Sie richtig vorgegangen. Elektrisch aufgeladene Schwarze Löcher haben nämlich zwei davon, einen, der die Masse reflektiert, und einen weiteren für die Ladung. Aber hier blicke ich nicht ganz durch. Wenn Sie ständig die Ladung erhöhen, wie Sie es bei diesen fünf Gleichungen getan haben, wird der innere Ereignishorizont sich ausdehnen, während der äußere schrumpft. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Nicht so ganz.«

»Nun, die maximale mögliche Ladung tritt dann ein, wenn der innere und der äußere Horizont miteinander verschmelzen, nicht wahr?«

Rachel nickte, wirkte aber immer noch verwirrt. »Fahren Sie bitte fort.«

Obwohl sie die Stirn in Falten gelegt hatte, konnte Cole sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Rachel überhaupt keine Ahnung hatte, wovon er eigentlich sprach.

»Ich meine damit, wenn Sie mit dieser Sequenz fortfahren, fürchte ich, daß es …«

Wie durch göttliche Inspiration erschienen Rachels Gleichungen wie silberne Runen in der Lounge, tanzten über die Wände und webten um Tahn herum ein Netz. Er las sie, und sein Pulsschlag hämmerte wie ein Preßlufthammer. Fürchte ich, daß Sie zu einer nackten Singularität gelangen …

 

»Sehen Sie bitte her, Cole«, drang Amirahs Stimme in seine Gedanken. »In diesem Abschnitt geht es um Phasen-Transitions-Dynamik. Das Werk heißt Die Geheime Geschichte der Großen Hallen von Giclas. Er führt die exakten – verstehen Sie? – die genauen Spezifikationen für die Station Palaia auf. Begreifen Sie, worauf ich hinauswill? Die Löcher innerhalb von Palaia weisen eine negative Ladung auf. Zohar besitzt eine negative Ladung. Die Station erreicht das Perihelion zu Zohar in wenigen Stunden. Ich kenne zwar nicht die genaue Gleichung der Formel, aber …«

»Ich aber.« Er lehnte sich zurück, und in seinen Adern kochte das Blut. »Das einzige, was ich nicht berechnen kann, sind die momentanen Werte von Masse oder Ladung.« Er wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Wann ist das Perihelion erreicht?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. In zehn oder zwölf Stunden, vielleicht. Könnte knapp werden. Ich halte es nicht für günstig, zum Hauptkontrollraum vorzudringen. Die Ingenieurstürme an den Stadtausläufern werden weniger gut bewacht, und sobald wir in einen dieser Türme eingedrungen sind, kann uns praktisch nichts mehr passieren.«

»Also die Türme …« Er rieb sich den Nacken. Die Türme erhoben sich eine gute halbe Meile außerhalb von Naas, und man hatte sie äußerlich als geologische Formationen getarnt. »Ich glaube nicht, Amirah, daß es ein Spaziergang wird, über die grasbewachsenen Hügel auf sie zuzulaufen.

Aber die Idee hat etwas für sich. Wir müssen nur in eine Kontrollkammer gelangen, die Frequenzen so weit ändern, daß die Stationshülle instabil wird, dann so rasch wie möglich verschwinden und darauf zu warten, daß die Funken nach Zohar heimkehren können …«Er breitete die Arme aus. »Und danach wird ganz Palaia und alles in ihrem Umkreis von der nackten Singularität aufgesaugt. O ja, das würde mir gefallen. Aber wie wollen wir …«

»Wer sagt denn, daß wir früh genug wieder hinauskommen?« unterbrach sie ihn mit enervierender Ruhe. Ihre Miene war leer, und ihre Worte klangen, als habe sie gerade einem Kellner mitgeteilt, daß sie statt Steak-Soße lieber Ketchup wolle.

Er strich nervös über die Seiten des uralten Buchs. Sie fühlten sich kalt und trocken an. Cole lächelte Amirah an, aber es war nicht mehr als ein erzwungenes Lächeln. Er atmete tief durch, um Mut zu fassen, und entgegnete: »Da haben Sie natürlich recht. Jemand muß zurückbleiben, um die Kontrollen manuell bedienen können, falls die Magistraten über eine Bypass-Vorrichtung verfügen – was höchstwahrscheinlich der Fall ist. Wissen Sie darüber Bescheid?«

»Nein, aber ich gehe ebenfalls davon aus.«

»Ja, genau.« Er klopfte mit dem Zeigefinger auf das Buch und lauschte kurz dem hohlen Geräusch. Amirah blickte ihn erwartungsvoll an. »Gut …«, platzte es schließlich aus ihm heraus. »Dann lassen Sie uns über Ihre Gründe für diese Tat sprechen. Woloc sagte mir, er habe Sie von der Sache mit Ihrer Großmutter in Kenntnis gesetzt.«

Ihre hellblauen Augen verdunkelten sich. Sie wandte den Blick ab, starrte auf die anderen Tische und schien nur noch die süßliche Musik der Geigen zu vernehmen. Tränen funkelten auf ihren Wimpern. »Ja. Es ergibt einen Sinn. Ich komme nur noch nicht dahinter, wie Slothens Ziel aussieht. Was steckt in mir, Cole? Ich spüre, daß es wächst wie eine gräßliche Kreatur!«

Er legte seine Rechte auf ihre zitternden Hände und hielt sie fest. »Wir wissen es auch nicht. Aber solange Sie auf unserer Seite stehen, können wir Sie im Auge behalten und hoffentlich den Kreis kurzschließen, bevor Sie ihn geschlossen haben.« Er strich sanft über ihre Finger. »Amirah, ich muß mit Baruch darüber reden. Gibt es hier irgendeinen ungestörten Ort? Ich meine, könnten Sie etwas arrangieren …«

»Das wird sehr gefährlich. Ihnen ist doch sicher bewußt, daß jeder Kreuzer mit Spionen gespickt ist.« Die Züge um ihren Mund wurden hart. »Aber ich will es wenigstens versuchen.«

Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
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