KAPITEL
30
Jason Woloc ging mit raschen Schritten durch den langen weißen Korridor auf Deck sechs. Sein Ziel war die Krankenstation. Die Beleuchtung war auf Nachtbetrieb umgestellt und verbreitete nicht mehr Licht als der Vollmond. Überall dort, wo zwei Gänge aufeinander trafen, gaben Chronometer die Zeit in hellen blauen Ziffern an. Woloc wandte sich nach links und drängte sich durch eine Gruppe dienstfreier Offiziere. Er schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf – jemand verfluchte die bunt zusammengewürfelte Truppe von Gamanten auf Ingle 7, die es geschafft hatte, dreitausend magistratische Soldaten einzukesseln; ein anderer machte das gnadenlose Vorgehen der Magistraten für dieses Ereignis verantwortlich. Ein Streitgespräch entbrannte. Lis Sherwood, Sergeant der Sicherheitsabteilung, verteidigte die Gamanten. Jason machte sich im Geist eine Notiz, dieses Thema ihr gegenüber anzuschneiden. Offensichtlich bedurfte sie einer Erläuterung der Gründe, die die Regierung zum Einsatz von Gewalt bewogen.
Vor ihm, am Ende des Gangs, wurden die breiten Doppeltüren des Lazaretteingangs sichtbar. Woloc stieß einen unterdrückten Fluch aus, als er an das Problem dachte, mit dem er sich zur Zeit herumschlug. Als er Slothen direkt nach der Übernahme von Mikael und Sybil Calas über Funk informiert hatte, daß Captain Jossel noch immer vermißt wurde und auch noch keine Lösegeldforderung eingegangen war, hatte der Magistrat erstaunlich unbekümmert reagiert. Er hatte zwar versprochen, sich sobald wie möglich um Amirahs wenig erfreuliche Lage zu kümmern, doch es sei absolut vorrangig, Mikael Calas sofort nach Palaia zu bringen. Zudem hatte Slothen von Jason verlangt, er solle Calas die ungewöhnliche Halskette abnehmen, die der Mann trage. Das Schmuckstück, eine kleine graue, an einer Goldkette befestigte Kugel, befand sich jetzt in Jasons Kabine.
All diese bizarren Befehle verursachten Woloc Bauchgrimmen. Es war ihm noch nie besonders leicht gefallen, all die Unterströmungen zu begreifen, die die galaktische Politik beeinflußten. Wenn doch nur Amirah hier wäre. Sie würde diese Dinge bestimmt verstehen. Ja, sie hatte ein ausgeprägtes Gespür … Denk später an sie, aber nicht jetzt!
Jason durchschritt die Doppeltür und betrat den großen rechteckigen Raum, wobei er die Ehrenbezeugungen der Sicherheitsposten erwiderte, die sämtliche Ausgänge überwachten. Rechts und links standen Betten entlang der Wände aufgereiht, doch nur eines davon war belegt – von Sybil Calas. Ihr Körper steckte in einer silbernen Medo-Einheit, so daß nur ihr Kopf sichtbar war, der auf dem Kissen ruhte, umgeben von ihrer braunen Lockenpracht. Neben dem Bett standen ihr Ehemann und Doktor York Hilberg, in ein Gespräch vertieft. Hilberg, ein kleiner, schmächtig gebauter und kahlköpfiger Mann, schaute auf, als Jason das Lazarett betrat.
»Lieutenant«, grüßte er Woloc. »Unserer Patientin geht es recht gut.«
Jason warf einen Blick auf Sybils schlafendes Gesicht und nickte. »Wie ich hörte, ist ihre Lunge verletzt.«
»Ja. Sie hat sehr viel Blut verloren, aber das haben wir inzwischen ausgeglichen. Sie kann froh sein, daß sie hier ist. Auf Horeb hätte es Monate gedauert, bis sie wieder gesund geworden wäre – falls überhaupt. Doch dank unserer Regenerationsgeräte sollte sie in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein.«
»Sehr gut. Tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht, Doktor.«
Jason wandte sich an Mikael Calas. Der Zwanzigjährige mit dem pechschwarzen Haar und dem ebenso dunklen Vollbart besaß scharfe, haßerfüllte Augen. Man hatte ihm einen braunen Overall gegeben, der seine breiten Schultern und die schmalen Hüften unterstrich. »Führer Calas, können wir miteinander reden?« fragte Jason höflich. »Es gibt ein paar Fragen bezüglich Ihrer Festnahme auf dem Planeten, die noch einer Klärung bedürfen.«
Calas strich seiner Frau sanft über das Haar, bevor er Jason zu einer Sitzecke folgte. Dort ließ er sich müde auf einen Stuhl sinken. Woloc nahm ihm gegenüber Platz.
»Was wollen Sie von mir wissen, Lieutenant?« fragte Calas kühl.
»Zunächst möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, daß Sie als Kriegsgefangener betrachtet werden. Sie müssen auf keine meiner Fragen antworten, wenn Sie nicht wollen. Allerdings würden die Magistraten eine kooperative Haltung Ihrerseits durchaus zu schätzen wissen, und das könnte positive Auswirkungen darauf haben, was Sie auf Palaia erwartet.«
Calas schmunzelte amüsiert. »Also bitte, Lieutenant. Ich kenne Slothen. Als ich sieben Jahre alt war, habe ich acht Monate unter seinen Gehirnsonden auf Palaia zugebracht. Was er mit mir vorhat, wird er auch durchführen, ganz gleich, wie ich mich hier verhalte. Wenn er auf Informationen aus ist, wird er versuchen, sie sich auf dem schnellstmöglichen Weg zu verschaffen – wahrscheinlich durch Folter. Also, verzichten wir auf die üblichen Spielchen. Was wollen Sie wissen?«
Jason stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Folter? Calas waren die ausgefeilten Methoden der Gehirnsondierung offenbar unbekannt. Folter wurde nur sehr selten und unter ungewöhnlichen Umständen eingesetzt – üblicherweise bei primitiven Fremdrassen, die nicht über nutzbare neurologische Systeme verfügten. »Wo ist Gouverneur Ornias? Wir konnten ihn nicht ausfindig machen.«
Calas’ dunkle Augen glitzerten. »Das weiß ich nicht.«
»Sie haben ihn nicht getötet?«
»Nein.«
»Wäre es möglich, daß Ihre Streitkräfte ihn entführt haben? Fenris Midgard, den Verteidigungsminister, konnten wir ebenfalls nicht finden. Wir vermuten, die beiden könnten zusammen sein. Entweder als Gefangene oder in irgendeinem Versteck.«
Calas zuckte die Achseln. »Ich kann Ihnen nichts dazu sagen, Lieutenant. Ornias hat meine Streitmacht vernichtet. Seine Marines drangen in die polaren Kammern ein und töteten unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder. Er hat jeden einzelnen Punkt des Vertrags von Lysomia gebrochen.« Mikael hielt inne. Seine Augen wurden schmal. »Ich hatte angenommen, er würde auf Ihren Befehl handeln, oder auf den Ihres Captains.«
»Mein Captain hatte Anweisung, dem Gouverneur jegliche Unterstützung bei Ihrer Ergreifung zu leisten, einschließlich der Bereitstellung zusätzlicher Bodentruppen – doch von der Verletzung geltenden Rechts war nie die Rede.« Jason zupfte nervös an seinem Ärmel, ohne sich dessen bewußt zu sein. Hätte Amirah ihn nicht informiert, falls derart ungewöhnliche Befehle eingegangen wären? »Wir machen uns zudem Gedanken über den Verbleib Ihres Kindes, Führer. Es ist offensichtlich, daß Ihre Frau erst vor kurzem entbunden hat. Wo ist das Kind?«
»Das weiß ich auch nicht.« Ein harter Zug trat in Mikaels Gesicht.
»Führer, die Ereignisse der letzten Tage sind ausgesprochen verwirrend. Wenn Ihr Kind gefangen oder von feindlichen Kräften als Geisel genommen wurde, dann lassen Sie uns bitte helfen, es zurückzuholen. Die Magistraten werden sicher …«
»Ich weiß nicht, was mit meinem Sohn geschehen ist, Lieutenant.«
Jason biß die Zähne zusammen. Wollte dieser Junge denn gar keine Hilfe sein? Wütend sah er hoch. Calas erwiderte den Blick mit gleicher Intensität. Wie war es möglich, daß ein so junger Mensch soviel Wut und Haß in seinen Augen zeigen konnte? Hatte er in seinem kurzen Leben schon soviel Schreckliches gesehen? »Ich verstehe. Nun, kommen wir zu einem anderen Punkt. Ihnen ist zweifellos bekannt, daß Amirah Jossel, unser Captain, von terroristischen Kräften auf Ihrem Planeten als Geisel genommen wurde?«
Calas schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Könnten Sie mir denn sagen, wer dafür verantwortlich ist?«
»Nein. Meine Leute waren es mit Sicherheit nicht, und von anderen Widerstandsbewegungen auf Horeb ist mir nichts bekannt.«
Jason verschränkte die Finger und warf einen kurzen Blick zu den Wachtposten hinüber, die sich leise lachend unterhielten. »Ich wollte, Sie würden sich ein bißchen kooperativer zeigen, Führer. Wir können es uns nicht leisten …«
»Lieutenant«, seufzte Calas, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist Ihnen schon der Gedanke gekommen, daß vielleicht Ornias’ Männer für das Verschwinden Ihres Captains verantwortlich sind?«
Jason war verblüfft. »Wie … wie kommen Sie auf diese Idee?«
»Weil das genau zu seinem üblichen Verhalten passen würde. Falls er glaubte, die Entführung Jossels könnte ihm irgendeinen Vorteil verschaffen, hätte er genau das arrangiert und mir die Verantwortung dafür in die Schuhe geschoben.«
»Welche Beweise haben Sie für eine derartige …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Calas, »daß Slothen mehrere Minister nach Horeb entsandt hat, um Ornias im Auge zu behalten. Alle verschwanden auf mysteriöse Weise. Major Winfield, Colonel Vahr und vermutlich auch Midgard. Zweifellos ist jeder von ihnen über die eine oder andere von Ornias’ nicht gesetzeskonformen Aktivitäten gestolpert und wurde ausgeschaltet, bevor er einen entsprechenden Bericht absenden konnte. Sie müssen jetzt nur überlegen, ob Ornias aus der Gefangennahme Jossels irgendeinen Vorteil ziehen konnte. Falls ja, sollten Sie besser schleunigst auf Gegenkurs gehen und sämtliche Geheimgänge und Verstecke des Gouverneurpalastes durchsuchen.«
Jasons Nackenhaare richteten sich auf. Er hatte einige der Geheimbefehle gelesen, die Amirah in Bezug auf Horeb erhalten hatte, auch wenn das eigentlich nicht zulässig war. Trotzdem zeigte sie ihm solche Dinge üblicherweise, da sie ihm vertraute. Slothens Befehle lauteten, Ornias aus dem Amt zu entfernen und zu disziplinarischen Maßnahmen nach Palaia zu bringen, sofern es ihm nicht gelang, Calas festzunehmen, »oder wenn nach Ansicht des Captains die Korruption innerhalb der Verwaltung des Gouverneurs eine derartige Maßnahme erforderlich macht.« Doch Amirah würde diesen Zusatz gegenüber dem Gouverneur doch sicher nicht erwähnen. Oder doch?
Jason spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Er wischte sie an der Hose ab. Angenommen, Amirah hatte diesen Befehl doch erwähnt – wie hätte Ornias dann reagiert? Hätte er seine Streitkräfte angewiesen, Calas ohne Rücksicht auf Verluste zu ergreifen, um dann zusammen mit Amirah zu verschwinden – um auf diese Weise noch ein As im Ärmel zu haben, falls seine Marines versagten? Das ergab durchaus Sinn. Und vielleicht war das auch der Grund, weshalb der Funkspruch der Terroristen von so vielen Orten gleichzeitig zu kommen schien. Wenn er von einem geheimen, unterirdischen Versteck auf Horeb gesendet worden war, wäre der Strahl von jeder steinernen Oberfläche reflektiert worden.
»Führer, kennen Sie irgendeines dieser Geheimverstecke?«
Calas nickte ruhig. »Alle, würde ich sagen.«
»Könnten Sie mir entsprechende Pläne oder Karten besorgen?«
»Schon möglich.« Mikaels Gesicht nahm einen berechnenden Ausdruck an. »Sofern Sie den Preis bezahlen können.«
Jason holte tief Luft und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. »Führer, Ihnen ist doch klar, daß wir dank unserer Einrichtungen zur Gehirnsondierung diese Informationen so oder so beschaffen können. Es ginge nur schneller, wenn Sie …«
»Die Sonden funktionieren bei mir nicht, Lieutenant. Vielleicht hätten Sie Ihre Unterlagen gründlicher studieren sollen. Als ich sieben war, hat Slothen alle Sondierungsmethoden an mir ausprobiert, die ihm zur Verfügung standen. Die Ärzte waren damals der Ansicht, ich besäße offenbar die sonderbare Fähigkeit, bestimmte Teile meines Gehirns abzuschotten.«
»Wie?«
»Durch Unterbrechung der Produktion von Neurotransmittern in jenen Bereichen, die gerade sondiert wurden.« Calas lächelte grimmig.
Jasons Augen verengten sich. Wenn das zutraf, handelte es sich wirklich um eine außergewöhnliche Fähigkeit. Die Funktionsweise der Sonden hing von einer ausreichenden Menge von Neurotransmittern ab. Fehlte es daran, war eine korrekte elektrochemische Analyse nicht durchführbar. Deshalb gelang es auch einigen Menschen, die Sonden lahmzulegen, indem sie ihr Gehirn mit anderen Substanzen überfluteten, vorzugsweise jenen, die durch starke Emotionen wie Wut und Haß erzeugt wurden. Allerdings besaß diese Taktik bestenfalls hinhaltenden Charakter, da sich die entsprechenden Fähigkeiten des Delinquenten irgendwann erschöpften und die Sonden dann wieder ihre Arbeit aufnehmen konnten. Ob Calas dieses Talent wirklich besitzt, spielt keine Rolle. Es wird auf jeden Fall schwer sein, ihn zu sondieren, und wir können nicht wochenlang auf Ergebnisse warten.
»An welchen Preis haben Sie gedacht, Calas? Was können wir Ihnen anbieten, um uns Ihrer Mitarbeit zu versichern?«
Mikael beugte sich vor und sah Jason direkt in die Augen. »Ich möchte eine Garantiererklärung von Ihnen haben. Was mit mir geschieht, wenn wir Palaia erreichen, ist mir gleich, aber ich möchte meine Frau in Sicherheit wissen. Es gibt eine kleine Enklave von Horeb stammender Gamanten auf Satellit 10. Dort sind auch einige Freunde aus Sybils Kindheit eingesperrt. Bringen Sie sie dorthin, ohne daß zuvor eine Sondierung bei ihr vorgenommen wird.«
Jason trommelte nachdenklich mit den Fingern auf seinem Oberschenkel. Slothen mochte das durchgehen lassen. Der Magistrat hatte lediglich verlangt, Mikael Calas um jeden Preis herbeizuschaffen. Und vermutlich würde man davon ausgehen, daß Sybil auch nicht mehr wußte als ihr Mann. »Wir befinden uns derzeit im Lichtsprung, Führer. Ich werde ihn unterbrechen müssen, um wegen Ihrer Forderungen mit den Magistraten Kontakt aufzunehmen.« Vermutlich werden die Magistraten mich deshalb vor ein Kriegsgericht stellen, aber wenn sie dem Handel zustimmen, kann ich Calas’ Karten an Williamson senden, damit er sofort das betreffende Gebiet durchsucht.
»Wie lange wird das dauern?«
»Ich leite die Unterbrechungssequenz sofort ein. Die Antwort sollte binnen einer Stunde eintreffen.« Jason griff nach dem Interkom auf dem Tisch und gab den Brückencode ein. Orah Pirkes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Lieutenant Pirke, ich habe ein paar wichtige Informationen erhalten, die sofort an die Magistraten weitergeleitet werden müssen. Bitte bereiten Sie eine Unterbrechung des Lichtsprungs vor.«
Orah runzelte die Stirn. »Aber, Sir, Slothen hat uns doch angewiesen, Calas unverzüglich …«
»Dessen bin ich mir durchaus bewußt, Lieutenant. Wir unterbrechen den Flug auch nur für sehr kurze Zeit.«
»Jawohl, Sir. Ich leite die entsprechende Sequenz ein.«
»Danke, Orah. Informieren Sie mich, sobald die Verbindung zu den Magistraten steht.«
Er unterbrach die Verbindung und schaute wieder zu Calas hinüber. Das Gesicht des jungen Mannes entspannte sich ein wenig, als er spürte, wie die Schiffsmaschinen ihre Leistung verringerten.
Jason empfand ein gewisses Mitgefühl für ihn, als er sich erhob. Calas stand ebenfalls auf, und Woloc reichte ihm die Hand.
»Danke, daß Sie so offen mit mir geredet haben, Sir. Ich informiere Sie sofort über die Antwort aus Palaia, sobald …«
Er hielt inne, als Sergeant Qery in den Raum stürzte und dabei die beiden Sicherheitsposten fast über den Haufen rannte.
Jason eilte ihm entgegen. »Was ist los?« fragte er.
Qery salutierte eilig. »Wir wissen nicht genau, was geschehen ist, Sir. Offenbar haben sich an Bord eines der Shuttles, die auf Horeb gelandet sind, zwei blinde Passagiere eingeschlichen. Sie befinden sich jetzt im Maschinenraum und haben Chefingenieur Rad und zwei Mitglieder seines Stabes als Geiseln genommen.«
Jason wurde blaß. »Woher haben sie die Waffen?«
»Sie benutzten zwei Phiolen mit Hypinitronium, um die Besatzung des Maschinenraums zu zwingen, ihre Waffen abzulegen. Jetzt verfügen sie über eine stattliche Anzahl von Gewehren und Pistolen – zusätzlich zu den Phiolen.«
Jason schüttelte ungläubig den Kopf. »Wer sind die beiden?«
»Das wissen wir nicht. Aber sie verlangen, mit Ihnen zu sprechen, Sir.«
Jason setzte sich in Richtung Flur in Bewegung. »Lassen Sie draußen vor dem Maschinenraum ein Interkom mit Bildschirm anbringen. Und stellen Sie ein Sicherheitsteam zusammen, das sich in fünfzehn Minuten dort mit mir trifft.«
»Jawohl, Sir.« Qery salutierte und stürmte davon.
Jason spürte, wie sein Puls raste. Als er die Krankenstation verließ, war er sich bewußt, daß Mikaels forschender Blick auf ihm ruhte.
Zadok verlangsamte seinen Schritt, als sie sich der grauen Öffnung näherten. Um ihn herum wogte die vollkommene Schwärze der Leere. Die Öffnung vor ihm wirkte groß genug für zwei Menschen. Würde Epagael ihm zum erstenmal seit mehr als einer Dekade gestatten, hindurchzuschreiten? Er holte tief Luft und eilte vorwärts. Hinter ihm stieg Carey durch das Loch und trat auf die grasbewachsene Ebene des ersten Himmels hinaus.
Zadok hob erleichtert und triumphierend die Arme und atmete die süße Frühlingsluft ein. »Ich bin durch!«
Halloway trat neben ihn und sah sich um, als erwarte sie, feindliche Soldaten zu entdecken. »Was meinen Sie, warum hat Epagael beschlossen, Sie durchzulassen?«
»Vermutlich braucht er mich für irgend etwas.«
»Etwas, das mit Horeb zu tun hat, nehme ich an.«
Zadoks Augen verengten sich. »Vermutlich.« Die schrecklichen Dinge, die sie ihm unterwegs erzählt hatte, beunruhigten ihn zutiefst. Doch konnte das wirklich alles stimmen? Ein Holocaust auf Tikkun? Massenmord auf Horeb? Eine gamantische Revolte, die sich über die Galaxis ausbreitete, weil die Menschen versuchten, der Tyrannei der Magistraten zu entkommen? Gerade dieser letzte Punkt erschien ihm durchaus glaubhaft. Er selbst hatte schließlich genug Revolten angeführt, um zu wissen, wozu die Gamanten in ihrer Verzweiflung fähig waren. Doch was den Rest anging, so konnte er es sich kaum vorstellen. Epagael hätte ihm davon berichtet und ihm gezeigt, wie er Mikael anleiten mußte, um derartige Verbrechen zu verhindern. Doch falls er das nicht getan hatte – nun, Gottes Wege waren unerforschlich.
Er warf wieder einen Blick auf Halloway. Obwohl die Frau erschöpft wirkte, schien sie die Umgebung begeistert aufzunehmen. Ihr Blick strich über die blühenden Orangenbäume und wanderte zu den mächtigen Eichen hinüber, deren Äste sich leise im Wind wiegten.
Zadok zog an ihrem Ärmel. »Kommen Sie. Gehen wir durch das Tor und finden wir heraus, was wirklich vorgeht.«
Er folgte einem ungepflasterten Weg, der durch eine Wiese voller Wildblumen führte. Epagaels Gründe, ihm den Zutritt zu gestatten, mußten mit dieser Frau zusammenhängen. Doch was hatte sie mit dem Überleben der gamantischen Zivilisation zu tun?
Als sie eine kleine Felsgruppe erreichten, sagte Carey: »Zadok, hätten Sie etwas dagegen, wenn wir hier eine kleine Rast einlegen? Ich möchte mich gern noch ein wenig mit Ihnen unterhalten, bevor wir uns dem Torwächter stellen.«
»Ich habe durchaus nichts dagegen. Meine verdammten Knie quälen mich schon seit Jahrhunderten.«
Er humpelte zu einem flachen Felsbrocken hinüber und ließ sich erleichtert niedersinken. Carey blieb neben ihm stehen, stellte einen Fuß auf den Felsen und beugte sich vor, um ihre Arme auf dem Knie abzustützen.
Sie warf einen Blick in die Runde und meinte: »Mein Gott, ist es hier schön. Viel schöner, als ich mir je hätte träumen lassen. Vorausgesetzt, ich träume nicht tatsächlich.«
»Sie träumen nicht«, versicherte ihr Zadok. »Und alle Himmel sind schön. Ein jeder hat seine eigene Pracht. Warten Sie nur ab, bis wir Arabot erreichen, den siebenten Himmel. Die Majestät der Musik dort wird Sie überraschen.«
»Wie kommen wir durch die Tore? Heißt es nicht, wer sie passieren will, muß seine Eignung beweisen, indem er ein paar obskure Fragen beantwortet?«
»Ja, und diese Fragen sind mitunter wirklich sehr obskur. Ich bin sicher, Sedriel denkt sich im Moment schon wieder irgend etwas Lächerliches aus.«
»Nun, in dem Fall bin ich wirklich froh, Sie getroffen zu haben, Zadok, denn ich kenne keines der geheimen Zeichen oder Worte, die einem den Eintritt erlauben.«
Zadok rieb sich das Kinn. »Ja, das habe ich mich auch schon gefragt.«
»Was gefragt?«
»Weshalb der Engel, mit dem Sie gesprochen haben, Sie nicht gleich im siebenten Palast abgesetzt hat. Gewiß besaß er doch die Macht dazu. Ich mußte natürlich all die Jahre den schwierigen Weg nehmen, weil die Engel zu eigensinnig waren, um mir zu helfen. Aber in Ihrem Fall … Ich verstehe das nicht. Warum hat er Sie überhaupt in die Leere geführt?«
Carey fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Ich weiß nicht. Es sei denn, ihm war bekannt, daß Sie sich dort aufhielten, und er wollte, daß wir zuerst miteinander sprechen. Sie sind übrigens eines der ganz großen Vorbilder meines Mannes. In den letzten zwölf Jahren habe ich Jeremiel oft klagen hören, wie anders alles aussähe, würden Sie noch leben. Vielleicht dachte der Engel ja auch, er könnte Jeremiel auf dem Umweg über mich helfen.«
Zadok zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht. Wie geht es Jeremiel?«
Careys Gesichtsmuskeln spannten sich, und Zadok erkannte, wie sehr die Sorge um ihren Mann sie quälte.
»Jeremiel geht es gut. Vor zwölf Jahren wäre er auf Tikkun fast gestorben, aber …«
»Fast gestorben? Was ist passiert?«
»Oh, das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen zum Teil schon erzählt habe. Erinnern Sie sich, wie ich von Cole Tahns Angriff auf Horeb berichtet habe? Die Attacke löste eine Reihe verheerender Brände aus, die den ganzen Planeten erfaßten. Nachdem Jeremiel die Hoyer erobert hatte, versuchte er, so viele der Überlebenden wie möglich an Bord zu schaffen. Später erhielt die Hoyer den Befehl, nach Tikkun zu fliegen, um die Aufstände zu unterdrücken, die überall aufflammten. Jeremiel blieb nichts anderes übrig, als den Befehl zu befolgen, sonst wäre sofort klar gewesen, daß Cole nicht mehr die Kontrolle über den Kreuzer besaß. Doch in der Zwischenzeit fand Jeremiel heraus, daß die Magistraten bezüglich der Hoyer Verdacht geschöpft und fünf Kreuzer in Marsch gesetzt hatten, um das Schiff über Tikkun in die Zange zu nehmen. Jeremiel wußte, daß seine einzige Chance, die gamantischen Flüchtlinge zu retten, darin bestand, sie in einer abgelegenen Gegend auf Tikkun abzusetzen. Doch zuvor wollte er sich selbst von der Lage auf Tikkun überzeugen. Er zwang Tahn, zusammen mit ihm eine der ›Forschungseinrichtungen‹ zu inspizieren, die von den Magistraten auf Tikkun errichtet worden waren. Jeremiel wurde von Major Johannes Lichtner gefangen und schlimm gefoltert. Lichtner zwang ihn zu einem Spießrutenlauf zwischen zwei Reihen von Soldaten, die mit Elektrostäben bewaffnet waren. Einer der Zeugen meinte später, Jeremiels Haut habe regelrecht gekocht, als er das Ende der Reihe erreichte.« Sie hielt inne, als würde ihr die Erzählung Schmerzen bereiten. »Jeremiels Haut habe zu mehr als achtzig Prozent Verbrennungen dritten Grades erlitten. Wenn Cole und Rachel ihn nicht gerettet hätten, wäre er jetzt tot.«
Zadok ballte die Fäuste. Jeremiel hatte praktisch sein ganzes Leben lang gekämpft, die Gamanten und ihre Kultur zu schützen. Und Zadok erinnerte sich noch gut, fast zu gut daran, wie sanft und zugleich respektvoll Jeremiel ihn gehalten hatte, als er an jenem regnerischen Tag vor zwölf Jahren auf Kayan gestorben war.
»Ich danke Epagael, daß Sie und Cole Tahn sich dem Untergrund angeschlossen haben.« Mit einer impulsiven Bewegung beugte er sich vor und legte ihr die Hand auf die Schulter.
Carey lächelte und tätschelte seine Hand. Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn. »Ich weiß nicht, wie ich das fragen soll, ohne Sie zu beleidigen, Zadok.«
»Oh, ich bin schon so oft beleidigt worden, da werde ich es diesmal wohl auch überleben. Was wollen Sie denn wissen?«
»Es geht um Epagael. Warum hat er Sie zu so einem furchtbaren Schicksal verdammt? Es muß doch schrecklich gewesen sein, so ganz allein in der Schwärze zu leben.«
Zadok stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das war es auch. Manchmal dachte ich, ich würde verrückt. Doch dadurch bekam ich auch die Möglichkeit, mit meinem Enkel zu sprechen. Wissen Sie, da mein Körper tot war, konnte Epagael mich nicht wieder zurückschicken. Es gab kein Gefäß mehr, das meine Seele aufnehmen konnte.«
»Aber wenn Gott allmächtig ist, hätte er dann kein neues Gefäß schaffen können? Wenn er wirklich wollte, daß Sie das gamantische Volk führen …«
»Ich habe mich das auch schon gefragt. Genau genommen habe ich sogar schon seit Jahrhunderten darüber nachgedacht. Ich glaube, die Antwort liegt in der Definition von Allmacht. Es bedeutet nicht, daß Gott alles tun kann, was er will, sondern daß er die Kontrolle über alle Macht besitzt, die ihm zur Verfügung steht.«
»Und was steht ihm nicht zur Verfügung?«
»Oh, beispielsweise jener winzige Teil, der uns gehört. Ehrlich gesagt, verstehe ich das auch nicht ganz, aber ich weiß, daß es einige Dinge gibt, die er nicht tun kann. Bei der letzten gamantischen Revolte konnte Epagael den Krieg nicht selbst beenden. Deshalb mußte ich durch die Himmel reisen und von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen, um die siegreiche Strategie von ihm zu erfahren.«
»Heißt das nicht zugleich, daß Epagael auch Grenzen gesetzt sind, soweit es Güte, Wahrheit und Schönheit betrifft?« fragte Carey nachdenklich.
Zadok zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Sollen wir gehen und ihn fragen?«
»Glauben Sie, er wird es uns sagen?«
»Zu mir war er immer aufrichtig. Ich habe unbegrenztes Vertrauen in seinen Wunsch, das Überleben der gamantischen Zivilisation zu sichern.« Zadok erhob sich ächzend und nahm Careys Arm. »Kommen Sie, ringen wir mit dem Dämon, damit wir endlich in den zweiten Himmel gelangen. Ich wage mir kaum auszudenken, mit welcher Narretei Sedriel uns diesmal aufhalten wird.«
Sie schlenderten durch das duftende Gras der Wiese und erstiegen einen sanften, baumbestandenen Hügel. Als sie die Kuppe erreichten, zog Carey scharf die Luft ein. Zadok hob den Kopf und sah den messerscharfen Bogen des ersten Tores vor sich. Neben dem Tor stand Sedriel, lässig gegen den Bogen gelehnt. Er trug ein champagnerfarbenes Gewand mit einer roten Schärpe um die Hüften. Seine strahlendweißen Flügel bewegten sich leicht, um die Mückenschwärme zu vertreiben, die über seinem Kopf tanzten.
Als sie sich dem Tor näherten, erklärte Sedriel hochnäsig: »Du kommst spät, Zadok, wie üblich.«
»Was kümmert es dich?« knurrte Zadok. »Du hast ja doch nichts anderes zu tun.«
Sedriel verzog sein kristallenes Gesicht. »Vorsicht, Zadok! Du hast so schon Probleme genug. Diese Hexe Rachel spielt mit dem Feuer und weiß es nicht einmal.«
Zadok spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er schaute Carey erschrocken an. »Ich … ich verstehe das nicht. Ich habe Jeremiel doch gesagt, er soll Rachel Eloel töten. Hat er das nicht getan?« Rachel – Aktariels Dienstmagd, der Antimashiah der Legenden. Er hatte ihren Namen auf dem heiligen Schleier vor dem Thron Gottes gelesen, jenem Schleier, auf dem alle Ereignisse der Schöpfung verzeichnet waren.
Careys Augen schimmerten hart. »Nein. Zu dem Zeitpunkt glaubte er, daß Aktariel auf seiten der Gamanten kämpfte, gegen die Magistraten.«
Zadok schloß die Augen voller Verzweiflung. »O mein Gott.«
Sedriel warf Carey einen höhnischen Blick zu. »Oh, ich kann es kaum erwarten, daß ihr Epagael davon erzählt. Was nicht heißen soll, ihr würdet je dorthin gelangen. Weder du noch Zadok dürfen das Tor durchschreiten.«
»Warum nicht?« fragte Zadok.
»Weil Epagael dich nicht gerufen hat, deshalb. Ich darf dir nicht einmal irgendwelche Fragen stellen, solange Epagael nicht zugestimmt hat. Und das hat er nicht, also bleibt der Durchgang verschlossen. Geht zurück in die Leere.« Mit diesen Worten drehte Sedriel ihnen den Rücken zu.
Zadok schaute Carey an. »Sehen Sie? Ich habe ja gleich gesagt, daß er unerträglich ist. Jetzt paß mal auf, Sedriel. Diese Frau wurde von einem Engel geschickt. Vielleicht kannst du mir den Durchgang verwehren, aber sie hat sicher das Recht, weiterzugehen!«
Sedriel schnaubte und fragte über die Schulter: »Welcher Engel soll das gewesen sein, Zadok?«
»Nun, ich … ich weiß nicht …«
»Er hat mir seinen Namen nicht genannt«, warf Carey ein. »Aber er sah dir ziemlich ähnlich.«
Sedriel flatterte indigniert mit den Flügeln. »Für euch dumme Menschen sehen wir alle gleich aus. Ihr könnt euch doch nicht einmal voneinander unterscheiden, wie wollt ihr da einen Engel erkennen?«
Carey stemmte die Hände in die Hüften und flüsterte Zadok laut zu: »Sie haben recht, er ist ein arroganter Mistkerl.«
»Das habe ich gehört!« rief Sedriel und wirbelte herum. »Jetzt lasse ich dich erst recht nicht mehr durch das Tor, Zadok, ganz gleich, wie viele Fragen du richtig beantwortest!«
Zadok schnitt dem Engel eine Grimasse. »Diese gerade Haltung kenne ich von dir ja gar nicht, Sedriel. Du siehst aus, als hättest du einen Besenstiel verschluckt.«
Sedriel betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Sollte das eine Anspielung auf meine Loyalität sein?«
»Was? Oh, jetzt verstehe ich. Hexen und dergleichen. Nein, ich meinte nur …«
»Es ist unerheblich, was du meinst. Verschwinde lieber von hier, bevor ich wirklich wütend werde und Feuer und Schwefel auf dich herabrufe …« Er kratzte sich nachdenklich am Hals. »Oder etwas ähnlich Farbenprächtiges.«
Zadok murmelte eine uralte Obszönität über die Mütter von Engeln und warf die Hände hoch. »Tut mir leid, Carey, aber wenn Sedriel uns nicht passieren läßt …«
»Ich werde durch dieses Tor gehen«, sagte Carey entschlossen. »Ob es diesem Humanoiden nun gefällt oder nicht. Ich will mit Epagael sprechen. Schließlich habe ich den langen Weg nicht umsonst gemacht.«
»Humanoid!« brüllte Sedriel erregt und flatterte so heftig mit den Flügeln, daß Zadok zwei Schritte zurückgetrieben wurde.
»Jetzt beruhige dich wieder«, rief er. »Sie kennt das Ritual nicht. Carey«, wandte sich Zadok dann an die Frau, »wenn Sedriel sagt, daß wir nicht passieren dürfen, fürchte ich, bleibt uns nichts anderes übrig, als fortzugehen und inständig zu beten, daß Epagael unser Flehen erhört.«
Carey Augen schimmerten stählern. »Nein. Ich verlange, mit dem Archistrategos Michael zu sprechen.«
»Michael ist beschäftigt«, verkündete Sedriel. »Und jetzt verschwindet.«
»Ich verlange eine Audienz bei ihm. Das ist schließlich mein Recht, oder? Ich darf meinen Fall einer höheren Instanz vortragen.«
Sedriels Gesicht verzog sich mißmutig. »Woher weißt du das?«
»Von dem Engel, der mich hergebracht hat.«
»Tja, sicher war er schon länger nicht mehr hier. Wir haben diese Regel schon vor Jahrhunderten geändert. Heutzutage trifft jeder Torwächter die letzte Entscheidung. Und jetzt geht. Ich kann nicht den ganzen Tag an euch Geschmeiß verschwenden.«
Carey zog eine Augenbraue hoch und meinte: »Er hat mich als Geschmeiß bezeichnet.«
»Da hätten Sie mal hören sollen, wie er mich genannt hat, als ich das letzte Mal hier war: einen bedeutungslosen, aus einem weißen Tropfen geborenen Lumpen.«
Carey lachte, doch mit einem so gefährlichen Unterton, daß Zadoks Augen sich weiteten. Mit einer plötzlichen Bewegung wirbelte Carey herum und trat Sedriel gegen die Kniescheibe. Sedriel jaulte auf und stolperte zur Seite. Er mußte sich am Torbogen festhalten, um nicht zu stürzen.
»Sie … Sie …«, stotterte er jammernd, »sie hat mich geschlagen, Zadok! Sie hat einen Engel geschlagen!«
Zadok wußte nicht, was er sagen sollte. Wäre er nicht schon tot gewesen, hätte er sich jetzt ernsthafte Sorgen gemacht. Er deutete auf den jammernden Sedriel und starrte Carey an. »Sehen Sie, was Sie getan haben? Wie konnten Sie nur?«
»Alles nur Training«, erwiderte sie kühl, packte Zadok beim Ärmel und zerrte ihn mit sich durch das Tor.
Sie gelangten auf den Pfad, der zum zweiten Himmel führte. Zadok schaute zum Tor zurück und sah Sedriel, der noch immer sein Knie hielt und kreischte: »Das könnt ihr doch nicht tun! Kommt zurück, bevor ich es Epagael erzähle!«
»Verdammt«, fluchte Carey. »Ich wollte, ich hätte eine Pistole!«
Zadoks Mund klappte auf. »Meine Liebe, irgendwie haben Sie die falsche Einstellung, was den Himmel betrifft.«
»Nein, Zadok. Es ist nur so, daß ich nichts mehr zu verlieren habe. Vielleicht bin ich sogar schon tot. Und wenn nicht, dann wohl nur, weil die Ärzte vielleicht hoffen, sie könnten mich irgendwie aus dem katatonischen Zustand herausholen. Was nichts anderes bedeutet, daß sie meinen Körper am Leben erhalten wollen, um mir noch schlimmere Dinge anzutun.« Sie warf einen Blick auf Sedriel, der noch immer klagte. »Meine einzige Hoffnung – und ich fürchte, auch die einzige Hoffnung für den Untergrund – besteht darin, zu Epagael zu gelangen und ihn zu fragen, was, zum Teufel, hier eigentlich vorgeht.«
Zadok fand keine Worte. Ihr Körper wurde einer Gehirnsondierung unterzogen? Gesegneter Gott! »Mir war nicht klar …«
»Ist schon gut, Zadok.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Richten Sie sich lieber darauf ein, loszurennen. Dieser verdammte Engel ist gerade durch das Tor gestolpert und kommt direkt auf uns zu.«
Zadok schaute zum Himmel empor und wartete auf Vergeltung von höherer Stelle.
»Zadok?«
Die volltönende dunkle Stimme grollte durch den Himmel, und Zadok sah den Erzengel Michael über den Baumwipfeln heranschweben. Seine milchweißen Flügel reflektierten die Farben der Blätter. Er umkreiste einmal den Bogen des ersten Tores und landete dann vor ihnen. Zadok bemerkte, wie Carey ungläubig den Kopf schüttelte. Von allen Engeln war Michael fraglos der Prachtvollste.
Sedriel humpelte heran und keuchte dabei wie ein Lungenkranker. Er flatterte aufgeregt mit den Flügeln und rief anklagend: »Sieh dir das an, Michael. Diesen beiden Lumpen haben mein Recht bestritten, ihnen den Durchgang zu verwehren! Sie verlangten, mit dir zu sprechen. Ich habe ihnen gesagt, du seist beschäftigt, aber diese … diese Frau hat mich angegriffen!«
»Oh, sei still, Sedriel«, sagte Michael ungehalten. Er wandte sich an Zadok und Carey. »Warum seid ihr hier, Zadok?«
Carey stammelte: »Ich … ich muß mit dir reden, Herr. Allein.«
»Du? Ich bin überrascht. Nun gut.«
Zadok schaute ihnen nach, als die beiden zu einer mächtigen Eiche hinübergingen. Carey Lippen bewegten sich, doch kein Laut drang über die Wiese bis zu ihm. Michael hörte mit gesenktem Kopf zu und nickte gelegentlich. Als Carey einen bestimmten Punkt ihrer Erläuterungen erreicht hatte, hob Michael plötzlich den Kopf. »Beschreibe ihn mir.«
Dann schritt der Erzengel auf und ab. Er und Carey tauschten noch ein paar unverständliche Sätze aus. Sedriel humpelte ein Stück näher, umklammerte sein Knie und neigte den Kopf in der Hoffnung, das eine oder andere Wort aufzuschnappen.
»Kannst du verstehen, was sie sagen, Zadok?« fragte er hoffnungsvoll.
»Selbst wenn ich es könnte, würde ich es dir nicht erzählen.«
Sedriel machte ein beleidigtes Gesicht, schnaufte verächtlich und lehnte sich gegen einen Baumstamm.
Ein paar Minuten später marschierte Michael durch das Gras zu ihnen und befahl in unwirschem Tonfall: »Geh zurück zu deinem Tor, Sedriel. Diese Menschen haben Wichtiges mit Epagael zu besprechen.«
»Aber … aber …«, stotterte Sedriel. »Ich bin der Torwächter! Und ich glaube nicht, daß man ihnen gestatten sollte …«
»Aus dem Weg!«
Sedriel klappte den Mund zu und trat gehorsam beiseite. Zadok warf einen raschen Blick zu ihm hinüber. Der arrogante Engel seufzte und winkte mit der Hand. »Der Archistrategos hat deinen Besuch gestattet, Zadok. Und jetzt geh mir aus den Augen.«