KAPITEL
50
Jeremiel marschierte festen Schrittes durch den Gang. Cole lief ihm voraus, und Woloc bildete den Schlußmann. Als sie um eine Ecke bogen, sah Baruch aus dem Augenwinkel Jasons gezogene Pistole. Er bekam eine Gänsehaut. Tahn hatte ihm vorhin klargemacht, daß etwas im Gang war, doch Jeremiel konnte sich noch keine Vorstellung davon machen, um was es dabei gehen sollte. Ihm war lediglich klar, daß Cole mit Jossel gesprochen hatte. Dieser Umstand war nicht dazu angetan, seine Nervosität zu lindern, Jossel ist unberechenbar. Selbst wenn sie sich für die Sache der Gamanten entschieden haben sollte, dürfen wir ihr nicht unbedingt vertrauen.
»Jetzt nach rechts«, befahl Woloc kurz angebunden. »In den Fahrstuhl.«
Tahn hieb mit der Faust auf den Öffnungsknopf, und die Tür glitt zurück. Baruch folgte ihm in den Aufzug. Die kleine Kabine kam ihm noch erstickend beengter vor als sonst, als Jason mit seiner Pistole eintrat und sich in die hinterste Ecke stellte.
Als die Tür sich wieder schloß, drückte der Lieutenant auf den Knopf für Deck Zwanzig und betätigte den Schalter für Frachttransport, der die langsamste Beförderung bedeutete.
»Sie haben drei Minuten, Tahn. Neunzig Sekunden abwärts und neunzig Sekunden aufwärts. Beeilen Sie sich.«
Cole stellte sich vor Jeremiel, und die Worte sprudelten ihm so rasch über die Lippen, wie es ihm das nur möglich war. »Ich kenne jetzt einen Weg, die Station Palaia in die Hölle zu schicken. Mir bleibt nicht mehr die Zeit, dir alle Berechnungen darzulegen. Es muß einfach genügen, dir zu sagen, daß Palaia und Zohar in wenigen Stunden in das Perihelion treten. Die ursprünglichen Löcher auf der Station sind negativ aufgeladen. Sobald wir Palaia erreichen, sondern Jossel und ich uns ab und begeben uns zum alternativen Kontrollsystem in den Steuerungstürmen außerhalb von Naas. Sobald wir dort sind, verändern wir die Frequenzen des Gebildes. Wenn nämlich Masse und Ladung …«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Fahr fort.«
»In der Zwischenzeit mußt du Carey finden und von hier fortbringen, Jeremiel. In dem ganzen Durcheinander, das Amirah und ich anrichten, dürfte es dir möglich sein, dich auf dem Flugfeld bei Naas eines Schiffes zu bemächtigen …«
»Alles klar.« Baruch schaute ihn an und bemerkte den suchenden Blick und die beschleunigte Atmung seines Freundes. »Jetzt möchte ich nur noch erfahren, wie du rechtzeitig von der Station verschwinden willst.«
Tahn biß die Zähne so fest zusammen, daß die Wangenmuskeln dick hervortraten. »Sobald mir ein Weg eingefallen ist, lasse ich es dich wissen. Uns bleiben nur noch einige Sekunden, also laß uns lieber …«
»Erkläre mir, warum Jossel plötzlich bereit ist, uns zu helfen.«
»Woloc ist auf ein Holo gestoßen, auf dem zu sehen ist, wie Amirah auf Slothens Befehl hin ihre Großmutter getötet hat. Die Regierung muß den Auslöser in ihr betätigt haben, um festzustellen …«
»Hast du herausgefunden, wer das Ziel ihrer Programmierung ist?«
»Nein, noch nicht.«
»Wie steht’s denn mit ihrer geistigen Stabilität? Ich meine, können wir ihr wirklich trauen?«
Tahn zögerte und warf einen Blick auf den Lieutenant. »Ja, ich denke schon. Ich weiß zwar nicht, wie sie unter Druck reagieren wird, aber ich glaube, wir können ihr vertrauen.«
»Und was für eine Ablenkung wird sie hervorrufen, um …«
»Keine Ahnung.« Cole warf die Hände hoch. Schweißflecken breiteten sich am Hals und an der Seiten seines Overalls. »Wir können nur abwarten, welche Trümpfe Slothen noch im Ärmel hat. Dann wird es sich zeigen.«
»Wo bekommen wir Waffen her? Wird Jossel …«
»Ja, sie und Woloc tragen zusätzliche Pistolen. Wenn der rechte Moment gekommen ist …«
»Also werden nur du und ich bewaffnet sein.«
»Ja, mehr kann sie leider nicht bewerkstelligen. Und jetzt will ich dir eine Karte vom zentralen Nervensystem der Station zeigen, außerdem vom Hauptkontrollzentrum und von den Steuerungstürmen.« Tahn streckte eine Hand aus, und der Lieutenant zog rasch ein Papier aus der Brusttasche und reichte es Cole. Baruch starrte Woloc an, während Tahn das Blatt auseinanderfaltete. Warum sollte der junge Offizier ihnen helfen wollen? Vielleicht wegen Jossel? Aber nein, das ergab keinen Sinn. Und so etwas war gar nicht nach Jeremiels Geschmack.
Cole preßte den Zettel mit einer Hand an die Wand und zeigte rasch auf einige Punkte. »Sieh her, Jeremiel. Unser Shuttle dürfte hier landen. Auf dieser Route bewegen wir uns durch den Gebäudekomplex, und dort befindet sich das Neuro-Zentrum.« Er zog mit dem Zeigefinger einen Kreis. »Na ja, vermutlich irgendwo hier. Bei diesem Komplex handelt es sich um das Sicherheits-Krankenhaus. Amirah und ich verdrücken uns an diesem Punkt und bewegen uns in dieser Richtung. Wir müssen eine halbe Meile offenes Gelände überwinden, aber ich schätze, das dürfte uns gelingen. Und hier siehst du die Anlage der Kontrolleinrichtungen in den Türmen …«
Woloc hob seine Pistole, als der Fahrstuhl zum Stehen kam. »Das muß jetzt reichen, Tahn. Geben Sie mir das Blatt zurück.«
Cole stieß es ihm in die Hand und blickte zornig auf die Decknummer, die blau über der Tür aufleuchtete. Kurz bevor sie sich öffnete, fragte Baruch den Lieutenant: »Warum machen Sie dabei mit, Woloc? Was haben Sie dabei zu gewinnen?«
Die Tür glitt auf. Dahinter zeigte sich ein hellerleuchteter Gang mit sechs Wächtern. Die Soldaten blickten wachsam in die Kabine. Als sie Woloc erblickten, nahm sie sofort Haltung an.
»Rühren, Männer«, befahl der Lieutenant und richtete den Blick auf einen rothaarigen Corporal. »Tuler, wo hält sich Lieutenant Rad zur Zeit auf? Er sollte mich hier treffen.«
Die Augen des Corporals wurden groß. »Da-das weiß ich nicht, Sir. Er sagte mir, er ginge hinauf zum Sondenraum in der Krankenstation, um dort mit Ihnen Tahn und Baruch zu verhören.«
Woloc verzog erst unwillig das Gesicht, als wolle er explodieren, und winkte dann ab. »Da scheint es sich um ein Mißverständnis zu halten. Ich begebe mich sofort zur Krankenstation. Weitermachen, Männer.«
»Aye, Sir.«
Der Lieutenant kehrte in den Fahrstuhl zurück und lehnte sich an die Wand. Offenbar hatte er noch nicht viel Erfahrung damit, seine Untergebenen anzulügen. Er nahm die Pistole in die Linke und wischte sich die verschwitzte Rechte an der Uniformhose ab.
Jeremiel verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich vor Woloc auf. »Sie sind für mich immer noch der große unbekannte Faktor, Lieutenant. Welches Motiv sollten Sie für einen Verrat haben? Keines, oder?«
Jason hob den Kopf und hielt Baruchs strengem Blick stand. »Ich denke doch. Schließlich habe ich die Holos von Tikkun, Kayan und Jumes gesehen. Und auch das, auf dem zu sehen ist, wozu die Regierung Amirah gezwungen hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Dafür bleibt uns jetzt keine Zeit.« Er warf einen beziehungsreichen Blick auf Tahn. »Amirah ist vielmehr die große Unbekannte in unserer Rechnung. Jedenfalls weiß ich nicht, was uns bei ihr erwartet. Ich glaube, da kann man sich bei keinem Offizier sicher sein, von dem verlangt wird, sich alljährlich einer psychischen Untersuchung auf Palaia zu unterziehen. Ich für meinen Teil würde so etwas nie und nimmer ein zweites Mal über mich ergehen lassen.« Er leckte sich über die Lippen. »Und was das Allerwichtigste ist, Baruch, ich nehme an dieser Mission teil; weil mein Captain mich braucht.«
Jeremiel nickte ihm anerkennend zu. Trotz des Umstands, daß ihm dieser junge Offizier auf Anhieb sympathisch gewesen war, konnte er es sich nicht erlauben, sich auf jemanden zu verlassen, dessen Motive ihm nicht klar waren. Er wußte allerdings nicht, ob Woloc sich des vollen Ausmaßes der Konsequenzen seines Tuns bewußt war.
»Lieben Sie Amirah, Lieutenant?« bohrte Baruch weiter. »Oder kommen Sie deswegen mit, weil Sie sich bewußt sind, von welch strategischer Bedeutung Ihre Anwesenheit für das Gelingen unseres Plans ist?«
Woloc verzog wütend das Gesicht und machte Miene, als wollte er um sich schlagen. Volle zwei Sekunden verblieb er in dieser Haltung, ehe er antwortete: »Jeder der beiden Gründe wäre für sich allein schon ausreichend, nicht wahr, Commander?«
Aus den verschlossenen Regionen seines Gedächtnisses drang Careys trockenes, aber zugeneigtes Lächeln in sein Bewußtsein. Baruchs Hände fingen zu zittern an, und er schob sie rasch in die Overalltaschen. »Das kommt ganz darauf an. Lieben Sie Amirah so sehr, daß Sie um ihretwillen Ihr Schiff, Ihre Truppe und Ihr ganzes bisheriges Leben aufzugeben bereit sind? Für jemanden zu sterben, ist nicht schwer. Aber danach ohne den Betreffenden weiterzuleben, ist ungleich schwieriger. Wenn Jossel stirbt und Sie überleben – wobei ich natürlich zugeben muß, daß dieser Fall wenig wahrscheinlich ist –, bleibt Ihnen nichts mehr von Ihrem bisherigen Leben, Lieutenant. Sind Sie dazu bereit? Was wollen Sie dann ohne Jossel und ohne Ihre Heimat anfangen?«
Woloc starrte ihn verwirrt an, so, als habe er das noch gar nicht bedacht. Die Tür glitt auf, und schon drangen die strengen Gerüche von Antiseptika, Reinigungsmitteln und Anästhetika von der Krankenstation in die Kabine.
»Denken Sie mal gründlich darüber nach, Lieutenant«, ermahnte ihn Jeremiel und verließ den Fahrstuhl. Er kannte auf Magistratenschiffen den Weg zu den Sonden-Laboren in- und auswendig, doch als er dem Raum näherkam, wollten seine Beine fast nicht mehr weiter. Cole und Woloc folgten ihm, und er hörte, wie die beiden ein paar knappe Unfreundlichkeiten austauschten.
Tahn beschleunigte seine Schritte, um zu Baruch aufzuschließen. Der Lieutenant hingegen blieb etwas zurück, um ihnen mit seiner Waffe Rückenschutz zu geben. Cole sah Jeremiel an, verdrehte kurz die Augen und meinte: »Es hat mich immer schon fasziniert, miterleben zu dürfen, mit welch traumwandlerischer Sicherheit du Menschen auf deine Seite zu ziehen verstehst. Hast du lange üben müssen, um soviel Überzeugungskraft zu erwerben?«
Baruch starrte ihn verständnislos an. »Wäre es dir lieber, daß ihm diese Fragen erst in den Sinn kommen, wenn wir mittendrin stecken?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Tahn grinsend.
Jeremiel sah ihn an. Cole wirkte grimmig, als hätte er in Gedanken bereits die Stunden durchlebt, die jetzt vor ihnen lagen. »Du hast nicht vor, den Turm wieder zu verlassen, oder?«
»Nein«, antwortete Tahn mit einem leisen Lächeln.
Rachel hockte auf dem Verbindungsstück zweier universaler Leeren und hatte Tränen in den Augen. Die Zeit wurde verdammt knapp. Sie mußte unbedingt nach Palaia, um sich mit Aktariel zu treffen, doch Furcht schnürte ihr die Kehle zu.
Die Finsternis hinter ihr bewegte sich nicht mehr. Sie wirkte wie ein Raubtier, das darauf wartet, daß seine Beute sich rührt. Rachel schaukelte vor und zurück, um den Schmerz ihrer Magenkrämpfe zu lindern.
Zu ihrer Linken bedeckte das Halbdunkel der Vordämmerung Gulgolet. Ein dunkelhaariger Mann hing mit zerschmetterten Beinen und blutverschmiertem Gesicht an einem großen Kreuz. Zu seinen Füßen hockte Nathan, hieb mit der Faust in den losen Sand und schluchzte würgend.
Zu ihrer Rechten flammten die strahlend hellen Lichter an Bord der Sargonid. Sybil lag in ihrer Koje und las. Braune Locken umrahmten das Gesicht ihrer Tochter und betonten ihre braunen Augen sowie die unnatürliche Blässe ihrer Haut.
Rachel hob die Hände ans Gesicht, um all diese furchtbaren Bilder zu verdrängen. »Steh auf, verdammt noch mal! Erheb dich! Du hast alles getan, was dir möglich war. Jetzt geh … brich auf, und erledige das, wozu Aktariel dich braucht – das, was du ihm zu tun versprochen hast!«
Müde erhob sie sich.