KAPITEL
20
Carey lag erschöpft im Sondierungsstuhl. Auf dem Tisch vor ihr schimmerten die Instrumente im harten Licht der Deckenlampen. Die elektromagnetischen Fesseln ließen ihr genug Spielraum, um auf dem Sitz hin und her zu rutschen und so die Schmerzen in ihrem Rücken und den Beinen ein wenig zu lindern, doch sie stemmte sich dessenungeachtet weiterhin dagegen. Jede Nervenfaser in ihrem Körper drängte sie, sich zu bewegen.
Praktisch überall in der Galaxis würde man das hier als Folter bezeichnen und als Verstoß gegen unzählige Abkommen betrachten. Doch nicht auf Palaia. In dieser geheimen Bastion der Regierung kann Slothen anordnen, was immer ihm beliebt, und niemand wird es je erfahren.
Der Helm ruhte noch immer auf ihrem Kopf. Carey blinzelte erschöpft auf die Katheter hinunter, die man ihr angelegt hatte. Es gab noch andere dieser Röhren, die zu ihren Armen und ihrem Mund führten und sie mit Nahrung und Atemluft versorgten, ob ihr das nun gefiel oder nicht. Irgendwann während der Nacht hatten sie Samuals fortgebracht. Vermutlich war er in ein Krankenhaus verlegt worden. Er hatte stundenlang geschrien, um Gnade gefleht und ihnen alles verraten, was er wußte.
Aus den Augenwinkeln konnte Carey zu den Fenstern neben der Tür hinübersehen. Im Moment hockte dort keines der giclasianischen Monster. Sie alle waren in den frühen Morgenstunden verschwunden. Carey überlegte, wie spät es jetzt sein mochte. Vier Uhr? Mundus hatte ihren Stuhl herumgedreht, so daß sie den Chronometer nicht mehr sehen konnte. Sie schaute jetzt zu dem Platz hinüber, wo Samuals Bahre zuletzt gestanden hatte. An der Wand waren noch immer die Kratzer erkennbar, die seine Fingernägel hinterlassen hatten.
Irgendwo tief in ihrer Seele erklang eine sanfte, beruhigend dunkle Stimme. Carey erschauerte und verbannte Jeremiels vertrautes Gesicht aus ihren Gedanken.
»Du darfst nicht träumen«, befahl sie sich selbst. »Hör sofort damit auf!«
Sie hatten die Sonden aus einem bestimmten Grund an Ort und Stelle belassen: Irgendwann mußte sie schlafen. Wenn das geschah, konnte sie keinen Einfluß auf ihre Träume nehmen, die von den Monitoren Bild für Bild aufgezeichnet werden würden. Ihre einzige Abwehr bestand darin, für wenige Minuten in tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen und dann wieder hochzuschrecken. Doch diese Methode erschöpfte sie zusehends. Gestern hatte sie dreimal verzweifelte Weinkrämpfe erlitten. Wut und Haß wollten sich nicht mehr einstellen. Diese Emotionen hatten die Giclasianer bereits gründlich ausgeschaltet. Lediglich Kummer und Verzweiflung vermochten jetzt noch die Sonden von den gefährlichen Erinnerungen fernzuhalten.
Doch wie lange würde es noch dauern, bis ihr Widerstand endgültig zusammenbrach? Samuals hatte viel früher aufgegeben, als Carey erwartet hatte, und das machte ihr Angst.
Wie lange hältst du noch durch, Schätzchen? Die Mannschaft der Zilpah hält dich für eine hartgesottene Hexe. Bist du das wirklich? Lieber Gott, laß Jeremiel und Cole weit fort sein, wenn ich zusammenbreche.
Sicher hatten sie inzwischen entsprechende Maßnahmen für den Fall eingeleitet, daß einer der Offiziere den Kampf auf Kiskanu überlebt hatte. Ob sie vermuteten, daß sie noch lebte? Ihr Hände begannen plötzlich zu zittern, und sie umklammerte die Lehnen des Sessels. Wenn Jeremiel oder Cole einen dahingehenden Verdacht hatten, würden sie vor Sorge und Verzweiflung schier durchdrehen. Wenn sie nur eine Möglichkeit fände, sich selbst zu töten, dann wären die beiden …
»Nein, Lieutenant, das wird nicht nötig sein.«
Die sanfte Stimme erfüllte den Raum. Verstört blinzelte Carey zur Wand hinüber. Ein mächtiger, monströser Schatten waberte dort.
In einem plötzlichen Ausbruch gleißenden Lichts erschien ein Mann von kristallener Schönheit. Er trug einen jadefarbenen Mantel aus feinstem Samt. In der übergezogenen Kapuze glühte ein prachtvoll goldenes Gesicht, dessen einzelne Züge wie aus reinem Licht gemeißelt wirkten.
Und Carey wußte, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte … auf der Brücke eines zum Untergang verurteilten Sternenschiffs, als das Überleben der gamantischen Zivilisation auf des Messers Schneide stand. Careys Herzschlag setzte aus, als er auf sie zukam.
»Engel«, flüsterte sie. Der rauhe Klang ihrer Stimme erschreckte sie. Hatte sie während der letzten ›Behandlung‹ so viel geschrien?
»Ja, Lieutenant«, antwortete der Mann aus Licht freundlich.
Er beugte sich über sie und betrachtete sie mit einem Blick voller Mitgefühl und Besorgnis. Mit einer gleitenden Bewegung strich er die Kapuze zurück und streckte dann zögernd eine Hand aus, um ihre Wange zu streicheln. Die zarte Berührung sandte einen warmen Schauer durch Careys erschöpften Körper.
»Warum bist du hier?« krächzte sie.
»Um dir zu helfen.«
»Kannst du mich von Palaia fortbringen?«
Er senkte den Blick und betrachtete die Plastikröhren, die mit ihrem Körper verbunden waren. »Zumindest auf die Weise, die wirklich zählt.«
»Was soll das bedeuten?«
»Ich kann dich nicht physisch von hier fortschaffen. Es tut mir leid, aber deine Anwesenheit hier verschafft Jeremiel und Cole Zeit. Zeit, die sie dringend brauchen.«
»Aber wie …«
»Wenn du mich läßt, kann ich deiner Seele Flügel verleihen.«
Carey sah ihn ängstlich an. »Wie?«
Mit zärtlichen Bewegungen nahm er das Mea ab und legte es ihr um. Dann griff er hinter sie und holte Jeremiels Mea aus einer Schublade. Es flammte in seiner Hand auf. Die plötzliche blaue Lichtflut erfüllte den Raum und tanzte wie Elmsfeuer auf allen Gegenständen.
»Warum?« flüsterte Carey. »Warum brauchst du …«
»Ich bin nicht sicher, ob ich es brauche«, erwiderte er leise. »Aber es wäre möglich. Und meines wird dir ebenso gute Dienste leisten, wenn du die sieben Himmel durchschreiten willst.«
Er strich ihr sanft das herbstfarbene Haar aus dem blassen Gesicht, hob Careys neues Mea und drückte es gegen ihre Stirn.
»Laß mich dir den Weg zu Gott zeigen«, flüsterte der Engel. »Schließ die Augen.«
Carey spürte die Wärme seiner Finger auf ihrer Stirn. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er das Leben Tausender Gamanten gerettet. Sie war zwar nicht bereit, irgend jemandem zu vertrauen, doch sie folgte seinen Anweisungen und schloß die Augen.
»Ja, so ist es gut, Carey. Kläre deinen Verstand von allen Gedanken. Und jetzt geh tiefer, immer tiefer, und suche nach dem Ort in dir, der immer lauscht.«
Es kam ihr so vor, als würde sie stundenlang der Anleitung seiner Stimme folgen. Immer, wenn sie einen falschen Schritt machte, korrigierte er sie in einem beruhigenden, ermutigenden Tonfall und führte sie auf den rechten Pfad zurück – bis sie schließlich einen fremdartigen, stillen Ort betrat. Hier fühlte sie sich auf eine sonderbare Weise sicher und geborgen, wie in einer schützenden Höhle aus Licht. Es kam ihr so vor, als wäre ihr ganzes Leben nichts als ein Echo dieser ewigen Helligkeit.
»Das ist es, Carey. Bleib hier. Spürst du noch immer das Mea auf deiner Stirn? Gut … sehr gut. Jetzt möchte ich, daß du dir einen Tunnel vorstellst, einen Tunnel aus reinem Licht, der von dir ausgeht und dich mit dem Mea verbindet.«
Carey konzentrierte sich, und der Tunnel schien sich aus dem Nichts zu bilden und wirbelte vor ihr wie ein feuriger Vortex.
»Ja, sehr gut, Carey. Und jetzt geh. Geh einfach … von hier aus … bis zu den Pforten des Himmels. Komm, ich begleite dich, so weit ich kann.«
Er blieb dicht hinter ihr, als sie den Tunnel durchschritt. Sie sprachen über die Lichtzyklone, die unter ihren Füßen entstanden, und über das Glitzern, das von oben herabfiel. Manchmal schien sein bernsteinfarbener Körper mit der Tunnelwand zu verschmelzen, bis nur noch sein grüner Umhang sichtbar war. Der leuchtende Vortex drehte sich immer weiter hinauf. Carey hatte stets an die Geschichten der alten gamantischen Zaddiks über Engel und Gott geglaubt – allerdings hatte sie auch den starken Verdacht gehabt, es handle sich dabei um Aliens aus einem anderen Universum.
Ein kühler Wind strich ihr über das erhitzte Gesicht, und sie sah, wie sich vor ihr eine klaffende schwarze Leere öffnete und den Tunnel aus Licht verschlang.
Carey wich einen Schritt zurück.
Der Engel ergriff stützend ihren Arm. »Das ist schon in Ordnung. Es scheint nur so, als würde die Dunkelheit das Licht besiegen. Das ist eine kurze Illusion, die du durchschreiten mußt. Doch dorthin kann ich dir nicht folgen.«
Plötzliche Furcht keimte in Carey auf. »Und was ist das?«
»Der Weg zu Gott. Bist du tapfer genug, ihn zu beschreiten?«
»Ich? Tapfer?« Carey lächelte über sich selbst. »Wie komme ich dorthin?«
Der Engel deutete mitten in die Dunkelheit. »Geh einfach geradeaus. Laß dich von den Bildern, die du sehen wirst, nicht erschrecken. Die Leere enthält die Abdrücke der Gesichter aller Lebewesen, die jemals den Pfad der Erleuchtung beschriften haben. Doch nichts davon ist real. Sie können dir nichts tun.«
Carey holte tief Luft und dachte an Gott. All die alten gamantischen Geschichten tauchten aus ihrer Erinnerung hervor. »Weißt du, daß ich immer hiervon geträumt habe?«
Die Augen des Engels flammten auf. »Ja, ich weiß. Was wirst du Ihm sagen?«
Carey verschränkte die Arme. Träumte sie auch jetzt? Vielleicht hatte ihr Gehirn ja auch den idealen Weg gefunden, um sich den Sonden zu entziehen: Träume, die nicht auf Erinnerungen basierten. Konnte sie diese Träume auch kontrollieren? Falls ja, würde das ihrem erschöpften Körper eine Ruhepause gewähren.
Sie drehte sich um und warf dem Engel einen neugierigen Blick zu. »Ich glaube, ich werde ihn fragen, weshalb er sich so wenig um sein auserwähltes Volk kümmert.«
Der Engel neigte den Kopf. »Ich hatte gehofft, du würdest diese Frage stellen.«
Er strich ihr sanft über die Hand und ging dann langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren. Über die Schulter rief er ihr zu: »Wenn es irgendwelche Probleme gibt, dann verlange nach dem Archistrategos Michael. Ganz gleich, was die niederen Engel dir erzählen, du hast das Recht, die Frage deines Zutritts vor einem höheren Richter vorzubringen.«
»Aber wer bist du? Was soll ich sagen, wer mich hergeschickt hat?«
Doch der Engel hob nur eine Hand zum Abschiedsgruß. Carey sah ihm nach, bis er verschwunden war; dann wandte sie sich wieder der dunklen Leere zu.
Irgendwo tief in ihren Erinnerungen hörte sie Coles Stimme. »Oh, jetzt begreife ich. Dir gefällt der Gedanke, von einem Schwarzen Loch verschluckt zu werden. Und ich habe fünfundzwanzig Jahre lang geglaubt, du hättest Geschmack.«
»Alles ist besser als die Sonden, Cole«, seufzte sie und machte einen Schritt vorwärts.