KAPITEL
59
Du mußt zum Licht im Geist der Stille werden. Ich habe die Ketten zerschmettert. Ich habe das Tor der Erbarmungslosigkeit niedergerissen … Ich kam um des Stolzes des Schöpfers und seiner Engel willen, die sagen, ›Wir sind Götter!‹ Zermalme ihre Anhänger! Zerbrich ihr Joch!
Die Sophia Yesu
Manuskript im sahidischen Dialekt der Alten Erde,
4. Jahrhundert allgemeiner Zeitrechnung
Fragment, entdeckt in den boskionischen Höhlen, Pitbon, 5212
Rachel stand auf einem Felsplateau in der Nähe der hentopanischen See. Der Geruch von Fisch und Moos würzte die kühle Brise, die ihr Gesicht umschmeichelte. Hinter sich hörte sie die Geräusche der Männer und Frauen, die im Wald arbeiteten. In den vergangenen zwei Wochen hatten sie eine Reihe von Höhlen entdeckt, die sich schier endlos entlang der Küste und teilweise auch unterhalb der See erstreckten, und die ihnen jetzt als Unterkunft dienten.
Obwohl sie einige Geräte aus dem Shuttle ausgebaut hatten und jetzt als Alarmanlagen nutzten, waren die Siedler doch noch besorgt wegen der Suchtrupps, die immer wieder in dieser Gegend auftauchten – insbesondere, seit das Schiff und die Kapseln in einigen Meilen Entfernung entdeckt worden waren.
Jeremiel und Baruch hofften täglich auf ein Zeichen von Rudy Kopal oder anderen Überlebenden der Untergrundflotte, während Rachel die Höhlen durchstreifte und darüber grübelte, ob Sybil noch lebte und sie sich jemals wiedersehen würden.
Als die leisen Schritte hinter ihr erklangen, war sie nicht sehr überrascht – im Gegenteil, sie hatte sie schon längst erwartet. Ohne sich umzudrehen, fragte sie: »Wir brauchten Cole Tahn auf unserer Seite. Das war der Grund, nicht wahr?«
»Hauptsächlich.«
Aktariels Stimme klang so sanft und liebevoll wie immer.
»Warum Tahn?« fragte Rachel.
»Er kennt sich in der speziellen Physik von Singularitäten aus.«
»Was uns direkt zu den Schätzen des Lichts führt?«
»Ja.«
»Wie kommst du darauf, Tahn würde uns helfen? Du hast sein Schiff vernichtet und seine Freunde getötet. Und du hast ihn zu einem Ausgestoßenen unter seinen eigenen Leuten gemacht.«
Aktariel stützte die Hände in die Hüften. »Kein Wesen wird geschaffen, ohne daß die Schlange in sein Herz kröche, Rachel. Wir alle werden in einen Boden aus Feuer und Wasser gesät.«
Aktariel griff in die Tasche und zog ein Mea hervor. Er betrachtete es nachdenklich und reichte es ihr dann. »Sybil weint jede Nacht nach dir.«
»Wann darf ich sie sehen?«
»Sobald du das hier aus meiner Hand entgegennimmst.«
»Muß ich? Ich hasse Meas.«
»Laß mich dir ihre Geheimnisse erklären. Ich glaube, dann wirst du deine Meinung ändern. Außerdem ist es vorerst der einzige Weg, um Sybil wiederzusehen.«
Rachel griff nach der Kette, und das Mea flammte auf und warf einen leuchtenden Schein auf sie beide.
»Ich werde dir zu Anfang helfen«, murmelte er. »Danach bist du frei.«
»Damals auf Horeb hast du zugegeben, alle Meas gestohlen zu haben. Was hast du damit gemacht?«
»Die alten Legenden berichten davon.«
»Sie behaupten, du hättest sie den Magistraten gegeben.«
»Ja.«
»Und stimmt das?«
»Nicht alle, aber genug. Sie existieren in synchronem Orbit innerhalb von Palaia Station.«
Verwundert schaute Rachel auf. »Aber warum solltest du sie der Regierung geben?«
»Weil, meine liebe Rachel, Gott schon bald das Große Licht aussenden wird, und in der Dunkelheit findet das Gericht statt. Nur ein Wesen, dessen Blut das Licht ist, wird überleben. Hast du verstanden?«
»Nein.«
Aktariel streckte die Hand aus und strich ihr über die Wange.
»Du wirst.«
ENDE