KAPITEL
21
Jasper Jacoby bog um eine Ecke und marschierte den Gang zwischen den Regalen des Lebensmittelgeschäfts entlang. Sein Einkaufswagen hatte ein verbogenes Rad, was es schwierig machte, den Wagen zu steuern. Jasper mußte ein wenig nach links lenken und zusätzlich drücken, um geradeaus zu fahren. Die Leute, die ihn kommen sahen, wichen ihm wie aufgeschreckte Hühner aus. Jasper fand das ganz angenehm, denn der Laden war heute völlig überfüllt. Hauptsächlich Frauen kauften hier frische Früchte und Brot für den Shabbat ein. Ihre frischgestärkten Kleider leuchteten in allen Farben. Jasper gefiel der erschreckte Ausdruck auf ihren Gesichtern, wenn er sich ihnen mit dem quietschenden Gefährt näherte.
»Trotzdem bleibst du ein verdammtes Mistding«, fluchte er und versetzte dem Wagen einen Tritt.
Die letzten beiden Tage hatte er in einem der größten Obdachlosenlager nördlich von Derow verbracht. Die Burschen dort wußten, wie man durchkam. Sie sagten niemandem ihren richtigen Namen, und sie hatten auch Jasper nicht nach dem seinen gefragt. Hin und wieder waren Soldaten dort aufgetaucht, doch niemand hatte ihnen irgend etwas verraten. Dennoch … Jasper hatte ein Gefühl drohenden Unheils – so, als liefe ihm die Zeit davon.
Jasper schob den Wagen in Richtung Kasse. Vor ihm in der Reihe stand eine fette junge Frau mit zwei häßlichen Kindern. Der kleinere Junge hing wie eine Klette am Rock seiner Mutter und plärrte wegen eines Spielzeugs, das er haben wollte.
»Ich will den Bären haben, Mama! Du hast mir versprochen, ein Spielzeug zu kaufen. Aber du hast gelogen. Du hast gelogen!«
»Pst!« zischte die Mutter und klopfte ihm auf die Finger, was alles noch verschlimmerte. Der Junge fing an zu kreischen und hüpfte wütend auf der Stelle. »Hör auf damit! Du bringst uns alle in Verlegenheit!« Sie warf einen Seitenblick auf Jasper. »Siehst du den Mann dort, Tomasz? Er denkt, du bist ein böser Junge.«
Jasper zog ein finsteres Gesicht, als der Junge ihn stirnrunzelnd anschaute. »Ein Junge? Eine kleine Ratte ist das. Warum ziehen Sie keine menschlichen Wesen auf?«
Der Mund der fetten Frau klappte auf. »Wie können Sie es wagen …«
»Legen Sie sich nicht mit mir an. Sie würden es bereuen.«
»Sie alter Knacker! Machen Sie Platz!« Die Frau stieß ihren Einkaufswagen zurück und zwang Jasper, auszuweichen. Dann rauschte sie an ihm vorbei und zu einer anderen Kasse hinüber. Ihr Sohn streckte Jasper die Zunge heraus.
Jasper kicherte. Die Frau vor ihm hatte gerade bezahlt, nahm ihre Tasche und ging hinaus. Jasper stieß seinen Wagen vorwärts.
»Guten Morgen, Mr. Jacoby«, begrüßte ihn der dunkelhaarige Junge an der Kasse. Smuel war achtzehn Jahre alt und sah mit den dichten Augenbrauen und der gewaltigen Hakennase wie ein Höhlenmensch aus.
»Hallo, Smuel. Wie geht’s deinem Vater?«
»Oh, schon viel besser, danke. Der neue Doktor hat ihm ein paar Pillen gegeben, und jetzt ist er schon wieder auf den Beinen.«
»Freut mich zu hören. Schließlich muß er ja vor Mildred Sloane davonlaufen können. Und ich weiß, wovon ich rede.«
Der Junge unterdrückte ein Lächeln und zog Jaspers Einkaufswagen zu sich heran. Dann blickte er freundlich auf und streckte die Hand aus. »Darf ich Ihre Zuteilungskarte sehen?«
»Meine was?«
»Ihre Zuteilungskarte. Das ist diese gelbe Karte, die man Ihnen gegeben hat, als Sie sich haben registrieren lassen.«
»Ich habe mich nicht registrieren lassen.«
Smuel wurde blaß. Unsicher schaute er zu der Menschenschlange, die hinter Jasper wartete, und senkte die Stimme. »Tut mir leid, Sir, aber ich darf Lebensmittel nur an Leute verkaufen, die eine Zuteilungskarte besitzen.«
»Was? Soll das heißen, mein Geld ist nicht mehr gut genug für diesen Laden?«
»Geld ist nicht das Problem. Niemand in Darew darf Ihnen Lebensmittel verkaufen, ohne Ihre Zuteilungskarte zu überprüfen. Die Magistraten haben jedem Lebensmittelhändler die Todesstrafe angedroht, der sich nicht daran hält.«
Jasper mußte sich auf die Theke stützen. So gehen sie also vor. Wenn du dich nicht registrieren läßt, bekommst du nichts zu essen. Wut flammte in ihm auf. »So, und was willst du jetzt tun? Läßt du deine Verwandten verhungern, weil sie sich nicht unter der Knute der Magistraten beugen wollen?«
Mittlerweile hatte sich eine kleine Menschenmenge angesammelt, die sich flüsternd hinter Jasper zusammendrängte. Er wirbelte auf dem Absatz herum und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Hört mit dem Getuschel auf und verschwindet! Sie da drüben! Haben Sie sich registrieren lassen?«
Der kleine alte Mann in dem abgetragenen Gewand hob ängstlich eine gelbe Karte hoch.
»Sie armseliger Narr! Wenn die Magistraten kommen, um Sie abzuholen, denken Sie hoffentlich daran, daß ein paar von uns Widerstand geleistet haben! Sie hätten diese Chance auch gehabt!«
Jasper stieß Smuel den Einkaufswagen gegen den Bauch und verließ knurrend den Laden.
Draußen regnete es, als ginge eine Flut von Tränen nieder. Statt Schutz unter den Vordächern der Geschäfte zu suchen, schritt Jasper am äußeren Rand des Bürgersteigs entlang und ließ sich von Regen durchnässen. Vielleicht würde die Kälte ja ein wenig die Angst lindern, die in ihm aufloderte.
Penzer Gorgon warf einen Blick auf die Monitore, die die Brücke in einem Dreihundertsechzig-Grad-Kreis umgaben. Alles schien bereit.
»Wir sollten alle noch einmal tief durchatmen«, erklärte er leise. »Sobald wir den Lichtsprung beenden, werden wir vorerst keine Zeit mehr dafür finden.«
Er ließ sich im Kommandositz zurücksinken und umklammerte die Armlehnen. Die Offiziere der Hecate saßen schweigend an ihren Konsolen. Auf dem Frontschirm war das gesamte Farbspektrum zu sehen. An den Rändern des Bildes waberten gelbe und purpurne Schlieren.
Gorgon war ein kleingewachsener Mann mit blaßblauen Augen und schütterem grauem Haar. Die Epauletten auf seinen Schultern glänzten im Licht der Brückenbeleuchtung wie gesponnene Sonnenstrahlen.
»Meursault«, wandte er sich an seinen dürren, braunhaarigen Navigationsoffizier. »Statusbericht.«
»Soweit wir wissen, halten wir immer noch Formation mit den anderen zwölf Schiffen, Sir. Wir müßten alle gleichzeitig aus dem Hyperraum kommen und die Kreuzer der Untergrundflotte völlig überraschen.«
Gorgon nickte. »Delaney? Alles bereit?«
»Aye, Sir.« Die grünäugige Blondine beugte sich über ihr Pult. »Alle Waffen aufgeladen.«
»Gut. Da wir die Führung haben, greifen Sie das erste Schiff an, das Sie sehen. Der Angriff erfolgt etwa dreißig Sekunden. Meursault …«
Seine Stimme stockte, als das Licht schwächer wurde. »Verdammt, haben wir einen Energieabfall? Verbinden Sie mich mit Ingenieur Horner, bevor ich …«
Delaney schrie auf und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Rückwand. Ein großer schwarzer Schatten huschte über die Brücke. Auf den Gesichtern der Mannschaft spiegelte sich Panik wieder. Alle sprangen aus ihren Sitzen auf.
Gorgon stolperte rückwärts. »Was ist das?«
»Lichtsprung beendet, Sir!« rief Meursault. »Feindschiffe auf dem Schirm!«
Aktariel schaute schweigend zu.
Martin Qaf fuhr herum, als die Kreuzer wie leuchtende Streifen aus der Schwärze des Alls auftauchten. Die zwölf Männer und Frauen auf der Brücke wurden bleich. Qaf riß die Augen schreckerfüllt auf. »O mein Gott … Nunes! Bringen Sie uns hier raus. Weslan, die Schilde hoch! Wir müssen …«
Aktariel schloß die Augen, als Gorgons erster Schuß aus der Dunkelheit heranraste. Die Brücke der Khezr wurde augenblicklich zerstört, als die Schiffshülle aufriß. Leichen wurden mitsamt der Schiffsatmosphäre in die Schwärze über Abulafia hinausgeschleudert.
Aktariel umklammerte den blauen Samt über seiner Brust und ließ sich zu Deck sechzehn hinabtreiben. Schweigend schritt er durch die Gänge, sein Umhang wehte hinter ihm her. Menschen in schwarzen Kampfanzügen eilten an ihm vorbei. Manche schluchzten.
»O Gott, o Gott«, jammerte eine Frau mit blondem Haar. Sie kniete neben Aktariel auf dem Flur und entfernte eine Abdeckung an der Wand. Dann gab sie hektisch eine Reihe von Befehlen in den Computerterminal ein, der sich hinter der Abdeckung befand. »Bitte, Epagael, nur noch ein einziges Mal. Hol uns hier heraus, und ich tue alles, was du willst. Oh, Jeremiel, ich wollte, du wärst jetzt hier. Du würdest uns hier herausschaffen. Ich weiß …«
Ein schrilles Pfeifen erklang. Aktariel legte schützend die Hände über die Ohren.
»Nein!« schrie die Frau. »O Gott, nein!«
Sie klammerte sich an einem Türrahmen fest, als die Atmosphäre sich verflüchtigte. Ihre Lunge wurden zerrissen, die Augen platzten aus ihren Höhlen, und dann rutschte ihr Körper in Richtung der offenen Schleusentür.
Aktariel senkte den Kopf.
Er ließ sich auf Deck vierzehn herabsinken und landete in einer der Mannschaftskabinen, wo die Dekompression nicht ganz so schnell wirksam wurde. Ein junger Mann krümmte sich auf dem Boden. Er war kaum älter als zwanzig und tastete verzweifelt nach dem Druckanzug, der sich gerade außerhalb seiner Reichweite befand. Der Junge rollte zur Seite, und seine Augen weiteten sich.
»Hilfe…«
Aktariel blinzelte überrascht. Der hier stammte vom Haus Ephraim ab. Ein sonderbarer Zufall. Davon gab es höchstens noch eine Handvoll im gesamten Universum, dafür hatte er gesorgt. »Ich kann nicht.«
Der Junge streckte die Hand aus. »Bitte?«
»Es tut mir leid. Das hier muß sein – für uns alle.« Aktariel kniete nieder und strich sanft über die Stirn des Corporals. »Vergib mir. Wenn ich dich retten könnte, würde ich es tun.«
Als der letzte Rest Luft verschwand, rann Blut aus der Nase des Jungen, und sein Blick wurde leer.
Aktariel erhob sich und lauschte auf seinen eigenen Herzschlag. Es wurde schwarz im Schiff. Die Energie war ausgefallen.
Aktariel blickte auf und schaute durch das dünne Metall in die sternengesprenkelte Leere hinaus. Überall um ihn herum flammten Schiffe auf und fielen der Vernichtung anheim. Doch die Schreie Tausender hallten fort und breiteten sich über die Ewigkeit aus. Ein Kreuzer der Untergrundflotte brach aus dem Kampfgetümmel aus, beschleunigte zum Lichtsprung und verschwand.
Aktariel beobachtete geistesabwesend, wie sechs magistratische Kreuzer die Verfolgung aufnahmen. Er weitete seine Sinne aus und suchte nach einem Hinweis auf Verständnis oder gar Mitleid, das den Stoff zwischen dem Schatz des Lichtes und dem Abgrund durchdrang. Doch er fand nichts.
Aktariel neigte den Kopf und vernahm schwach, sehr schwach eine leise Stimme, die ihn rief – die Stimme eines weinenden Jungen.
Die Stimme rief. Und rief abermals.
Langsam zog Aktariel sein Mea unter dem Umhang hervor und streckte eine Hand in die Dunkelheit hinaus, die das Schiff erfüllte.