KAPITEL
57
Carey nahm eine Kiste mit Notrationen, trug sie aus der Kapsel und stellte sie auf dem sandigen Ufer ab. Rings um sie trugen rund zwanzig Menschen geschäftig Kisten und Schachteln zu den nahegelegenen Hügeln, die von Höhlen durchzogen waren. Gleich hinter den Hügeln erstreckte sich ein dichter Wald. Direkt nach der Landung waren Millhyser und zwei andere magistratische Soldaten geflüchtet und in den Wald entkommen. Carey hatte darauf verzichtet, ihnen jemand nachzuschicken. Sie konnte hier niemanden entbehren – und außerdem wollte sie ihre früheren Kameraden nicht töten.
»Lieutenant?« rief Sandy Joad, ein rothaariger junger Mann, der Carey durch seine ruhige und zugleich kompetente Art aufgefallen war.
»Was gibt’s denn, Sandy?«
»Ma’am, was machen wir mit den Verwundeten? Mindestens sechs werden sterben, wenn sie nicht bald ausreichende Pflege bekommen.«
»In jedem der Pods befinden sich zwei Antigrav-Bahren. Suchen Sie sich jemand, der die medizinische Notausrüstung aus den Wandschränken holt, und dann schaffen Sie die Verletzten in die größte und geschützteste Höhle, die Sie finden können.«
»Bin schon unterwegs«, erwiderte der junge Mann und rannte los.
Carey wollte gerade die Kiste wieder aufnehmen, da stoppte sie Joads Stimme. »Lieutenant!«
Sie drehte sich um und sah, daß er zu ihr zurücklief.
»Stimmt etwas nicht?«
»Wir bekommen Besuch.« Er deutete zum Himmel.
Carey blickte nach oben. »Ich sehe nichts.«
»Es ist aber da. Ich habe irgendwas silbern aufblitzen sehen.«
Obwohl Carey noch immer nichts erkennen konnte, zog sie ihre Pistole. »Sandy, schaffen Sie die Leute in die Höhlen. Schnell!«
Der junge Mann lief los, winkte und schrie: »Deckung! Alles in die Höhlen! Lauft!«
Die Menschen ließen ihre Lasten fallen und rannten auf die Felsen zu.
Carey und Sandy suchten in einer winzigen, kaum sechs Fuß hohen und fünf Fuß tiefen Höhle Unterschlupf. »Wenn das die Magistraten sind, werde ich versuchen, ihr Feuer auf mich zu ziehen«, erklärte Carey. »Nehmen Sie so viele Leute wie möglich mit und verschwinden Sie in den Wäldern. Dann haben Sie den Felsen zwischen sich und den Schiffen. Verstanden?«
Sandy nickte.
Sie hörten deutlich das Geräusch, mit dem ein Schiff im Sand aufsetzte. Carey schob sich etwas vor und spähte hinaus. Ein großgewachsener Mann stand im Schatten neben dem Shuttle.
Als er einen Schritt vorwärts machte und ins Licht hinaustrat, setzte Careys Herz für einen Schlag aus. Sie sprang auf und stürmte los.
Tahn entdeckte sie und lief ihr entgegen. Er riß sie in die Arme und schwenkte sie durch die Luft. »Carey! Ich dachte, Sie wären tot.«
»Bei Ihnen war ich mir da auch nicht so sicher.«
Cole schob sie auf Armeslänge von sich weg und sah sie fragend an. »Aber wenn nicht Sie dieses brillante Manöver …«
»Neil Dannon.«
Tahn blickte sie verblüfft an und nickte dann nachdenklich. »Nun, ich glaube, das dürfte Baruch interessieren.«
»Jeremiel lebt? Wo ist er? Warum ist er nicht …« Sie wollte zum Shuttle laufen, doch Cole hielt sie fest.
»Es geht ihm nicht gut, Carey.«
Es schien ihr, als würde der Boden unter ihr nachgeben. »Was ist los? Sagen Sie es mir!«
»Er wird wieder gesund. Lichtner hat offenbar seine ganze Wut auf die Gamanten an ihm ausgelassen. Er hat schwere Verbrennungen am ganzen Körper.«
Carey stieß einen Schrei aus Wut und Entsetzen aus. »Ist er bei Bewußtsein?«
»Kaum. Den ganzen Flug über befand er sich im Delirium. Wir haben Mittel gegen Schmerzen, aber ansonsten kaum Medikamente an Bord.«
Carey nickte. »Ich verstehe. Dannon hat die Gamanten alles, was sie an medizinischen Hilfsgütern auftreiben konnten, in die Kapseln schaffen lassen.«
»Vielleicht hatte er ja eine Vorahnung, was seinen alten Freund betraf.«
Als sie sich dem Shuttle näherten, trat Rachel mit angespanntem Gesicht heraus. »Halloway? Meine Tochter? Ist sie …«
»Sie befindet sich zusammen mit Mikael auf Palaia.«
Rachels Schritt stockte. »Was?«
»Kurz bevor die Schlacht begann, erhielten wir Anweisung, Mikael zu übergeben. Sybil bestand darauf, ihn zu begleiten. Ich habe ihnen Funk und Calas als Wachen mitgegeben. Ich nehme an, es geht ihnen.«
Rachels Gesicht verdüsterte sich, doch sie nickte.
Carey betrat das Shuttle und blieb neben Jeremiels Bahre stehen. Ihr Blick glitt über seine Wunden.
»Verdammt, Jeremiel. Ich sage dir, daß ich dich liebe, und du läßt dich fast umbringen«, murmelte sie.
Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »War auch nicht so geplant.« Sein unverbundenes Auge öffnete sich. »Was ist passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte. Eine Neil-Dannon-Geschichte. Wie kräftig fühlst du dich? Willst du sie jetzt hören oder …«
»Jetzt.«