KAPITEL
54

 

 

Tahn und Rachel stapften nebeneinander durch den nassen Sand. Der Regen fiel noch immer in dichten Schwaden.

Zwanzig Soldaten kamen auf sie zu und richteten ihre Gewehre auf sie. Dem Summen nach zu urteilen, waren die Waffen auf höchste Ladung eingestellt. Tahn zog eine Augenbraue hoch. »Sergeant Manstein«, wandte er sich den dünnen, kahlköpfigen Mann, der die Wachen anführte, »was hat dieser Aufmarsch zu bedeuten?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Captain. Major Lichtner hat ihren Anflug bemerkt und verlangt den Anlaß Ihres Besuchs zu erfahren.«

Tahn machte ein pikiertes Gesicht. »Wie bitte? Ist das hier eine magistratische Einrichtung oder nicht? Ich brauche seine Erlaubnis nicht, Mister!«

Manstein schluckte. »Der Anlaß Ihres Besuchs, Captain?«

Tahn knirschte mit den Zähnen. »Sagen Sie dem schleimigen Hurenb …« Er unterbrach sich und holte tief Luft. »Teilen Sie Ihrem kommandierenden Offizier mit, daß er mir eine Führung versprochen hat – mit einer Person, die hier Bescheid weiß, und diese Führung will ich verdammt noch mal machen!«

»Natürlich, Captain. Bitte warten Sie einen Moment hier.«

Manstein zog ein Funkgerät aus dem Gürtel und entfernte sich ein paar Schritte, um mit gesenkter Stimme hineinzusprechen.

Schließlich kehrte Manstein zurück und erklärte mit eine leichten Verbeugung: »Bitte entschuldigen Sie, Captain. Major Lichtner sagt, das wäre ihm leider entfallen, er würde sich aber sofort darum kümmern. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

»Entfallen!« knurrte Tahn und marschierte auf das Tor zu. Rachel folgte ihm und warf dabei den Wachen finstere Blicke zu.

Manstein schloß zu Tahn auf und meinte: »Captain, der Major möchte Sie in seinem Apartment empfangen.«

»Dann beeilen wir uns besser. Schließlich muß ich mich auch noch um mein Schiff kümmern. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, so wie Lichtner.«

Sie gingen durch eine enge Seitengasse bis zu einem schwarzen Tor. Als Manstein auf eine. Kontaktplatte drückte, schwang das Tor auf und enthüllte einen kleinen Platz, der von sechsstöckigen Gebäuden umgeben war. Sie überquerten den Platz und blieben vor einem der Eingänge stehen. Manstein trat einen Schritt vor und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Uman? Wir sind da.«

Die Tür glitt beiseite, und sie betraten wieder den überaus prächtig ausgestatteten Raum. Lichtner kam soeben die Treppe herunter und rief mit schriller Stimme: »Tahn, da habe ich doch glatt Ihren Wunsch nach einer ›wissenschaftlichen‹ Führung vergessen. Können Sie mir noch einmal vergeben?«

»Hören Sie zu, Lichtner«, erwiderte Tahn mit unterdrückter Wut. »Ich erwarte von Ihnen nicht mehr als die ganz normale Höflichkeit, die ein Kommandeur dem anderen entgegenbringen sollte. Falls Ihnen das Probleme bereitet, können wir gern zum nächsten Funkgerät gehen und uns mit Palaia in Verbindung setzen, um die Angelegenheit klären zu lassen. Ich bin jedenfalls nicht bereit, Ihr unverschämtes Benehmen und das Ihrer Leute noch länger hinzunehmen.«

»Unverschämt?« Lichtner lachte höhnisch. »Ich nehme Baruch gefangen, rette Ihr Schiff, und Sie wagen …«

»Mein Schiff? Wovon reden Sie da, zum Teufel? Die Hoyer war nie in Gefahr!«

Lichtner schaute verwirrt drein. »Aber ich dachte … das heißt, Bogomil meinte …«

»Brent hatte doch gar keine Ahnung, was auf meinem Schiff los war! Wir hatten in der letzten Woche eine massive Fehlfunktion des Computersystems. Unsere Kommunikationswege waren erheblich gestört.«

»Und wie kam dann Baruch …«

Tahn warf ärgerlich die Arme hoch. »Ich habe einen Fehler gemacht, den Baruch ausnutzte und mich zwang, ihn hierher zu bringen.«

Lichtner blinzelte überrascht; dann aber erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. »Tatsächlich? Versagen Sie so oft, wie es den Anschein hat, Captain? Das könnten die Magistraten recht interessant finden.«

»Vermutlich genauso interessant wie Ihre Verletzung der ethischen Prinzipien, denke ich.«

Lichtner reckte das Kinn energisch vor, doch in seinen Augen war Besorgnis zu erkennen. »Ich glaube, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für gegenseitige Beschuldigungen, Captain. Mein wissenschaftlicher Stab ist noch mit den Vorbereitungen für die Führung beschäftigt. Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit einen Whiskey anbieten?«

»Nein, danke!«

Lichtner tänzelte die Treppe herab, machte einen Bogen um Tahn und ging zum Barschrank hinüber.

Tahn folgte ihm, und Rachel schloß sich an. Sie überlegte, was Tahn gemeint haben mochte, als er von ethischen Vergehen sprach. Plötzlich fiel ihr Blick auf das Metz, das mitten auf dem Tisch lag. Lichtner mußte es Jeremiel abgenommen haben.

Tahn ließ sich auf einem Stuhl nieder und Rachel setzte sich vorsichtig neben ihn. Das Mea schien ihre Anwesenheit zu spüren, denn der blaue Schimmer verdüsterte sich leicht. Aktariel? Kannst du mich jetzt hören? Was geschieht hier? Sprich mit mir! Gewaltsam wandte sie den Blick ab und schaute zu Lichtner hinüber. Der Major nahm eine Flasche aus dem Schrank und hielt mitten in der Bewegung inne, als würde er Rachel jetzt erst bemerken. Ein wölfisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während er die Frau von oben bis unten begutachtete.

»Wer ist denn Ihr Sicherheitsoffizier, Tahn?«

»Sergeant Eloel.«

Rachel neigte den Kopf. »Erfreut, Sie kennenzulernen, Major.«

Lichtner schenkte ein Glas Whiskey für sich selbst ein, setzte es auf dem Tisch ab und ging dann zu Rachel hinüber.

»Miss Eloel, welch eine Freude, eine Schönheit wie Sie auf unserem öden, staubigen Planeten zu sehen. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, vielen Dank.«

Lichtner zog die Augenbrauen hoch. »Nicht einmal ein Glas süßen Likör?«

»Nein.«

Tahn packte ihn am Arm und zog ihn beiseite. »Sie ist ausgesprochen temperamentvoll, Major. Lassen Sie die Frau lieber in Ruhe.«

Lichtner machte ein finsteres Gesicht und nahm Rachel gegenüber Platz. Er trank sein Glas in einem Zug leer und füllte es wieder.

Tahn erhob sich und begann, auf und ab zu gehen. »Major, das Lager wirkt heute ungewöhnlich ruhig. Liegt ein besonderer Grund vor?«

Lichtner winkte abwehrend. »Ach, wir sortieren nur gerade auf der anderen Seite des Lagers die Jungen. Das wird noch ungefähr eine Stunde dauern, und solange sind alle anderen Teilnehmer unseres Programms angewiesen, in ihren Unterkünften zu bleiben. Sie regen sich sonst zu sehr über die routinemäßigen Eliminierungen auf.«

Rachel warf einen Blick auf Tahn. Wovon war die Rede? Von Mord? Offensichtlich. Aber … Jungen? Kinder?

»Ich nehme an, Ihr wissenschaftliches Team ist mit dem Auswahlprozeß beschäftigt und steht deshalb nicht zur Verfügung?« fragte Tahn mit scharfer Stimme.

»Exakt.«

»Nun gut, dann würden Sergeant Eloel und ich uns unterdessen gern einige andere Teile des Lagers ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Soll ich meinen eigenen Zeitplan abändern, um Sie zu begleiten, Tahn?«

Der Captain lächelte gewinnend. »Vielen Dank für Ihr Angebot, Major. Wirklich sehr freundlich. Als erstes würde ich gern sehen, was Sie mit meinem Gefangenen gemacht haben. Mit Baruch, meine ich.«

Lichtners Gesicht zuckte nervös. »Ich glaube kaum, daß Sie qualifiziert sind …«

»Falls Sie hier über Zuständigkeiten diskutieren wollen, Lichtner, schlage ich vor, wir umgehen die Auseinandersetzung und wenden uns gleich an die Magistraten.«

»Nun, Captain, immerhin haben Sie ihn gewissermaßen verloren, als Sie zu seiner Geisel wurden.«

»Nach Paragraph 1141 geht ein Gefangener nur dann in andere Hände über, wenn der bevollmächtigte Offizier – in diesem Fall also ich – ausdrücklich um Unterstützung bittet und zudem die entsprechenden Unterlagen ausfüllt. Soweit ich mich entsinne, habe ich weder das eine noch das andere getan.«

Lichtner lächelte hinterhältig. »Er hat Sie beinahe wie einen Bruder behandelt, Tahn. Als wären Sie nicht seine Geisel, sondern … sein Komplize.«

Tahn ballte die Fäuste. »Ich würde Ihnen empfehlen, das nicht zu wiederholen, Major.«

»Na schön … dann kommen Sie bitte mit. Wir werden schon etwas finden, um Sie zu beschäftigen, Tahn.«

»Baruch.«

Lichtner leerte sein Glas und schritt dann rasch durch den Raum. Das Dutzend Sicherheitsleute folgte ihm auf dem Fuß, Tahn ebenfalls. Rachel griff nach dem Mea, steckte es in die Tasche und eilte dann hinter den anderen her.

In der Nähe der Tür hielt Lichtner kurz an, um eine reichverzierte Pistole von einem Beistelltisch zu nehmen und in sein Gürtelholster zu schieben.

Rachel beugte sich zu Tahn vor und flüsterte. »Zu leicht. Warum hat er nachgegeben?«

Tahn schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Es sei denn, er hätte bereits Befehle erhalten, die Baruch betreffen.«

»Befehle?«

»Später.«

Während sie in Richtung des großen Platzes gingen, spielte Rachels Daumen mit dem Sicherungsflügel des Gewehrs. Unauffällig merkte sie sich die Positionen, die Lichtners Sicherheitsleute einnahmen.

»Major?« sagte Tahn mit scharfer Stimme. »Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, daß wir Baruch sehen wollen.«

»Von mir aus, Captain. Aber ich muß Sie vorwarnen. Er hat heute morgen einen Fluchtversuch unternommen. Wir waren gezwungen, entsprechend zu reagieren.«

Rachels Augen blitzten. Wenn ihr Jeremiel verletzt habt …

Sie gingen zu einem neu errichteten Gebäude hinüber, das erst teilweise fertiggestellt war. Vor dem Bauwerk stand eine Reihe kleiner, weinender Jungen. Etwas weiter entfernt arbeiteten etwa sechzig Männer an den Teilen des Hauses, die sich noch im Rohbau befanden. Rund zwanzig bewaffnete Wächter schauten ihnen dabei zu.

Sie betraten das Gebäude, in dem Ärzte und Pfleger geschäftig hin und her eilten. Lichtner ging einen Gang entlang, blieb vor der dritten Tür stehen, öffnete sie und trat einen Schritt zurück, um Tahn vorbeizulassen. Rachel folgte ihm.

Jeremiel lag regungslos in einem Bett. Seine rechte Kopfseite war verbunden und verdeckte auch das Auge. Schlief er – oder war er tot? Der sichtbare Teil seines Gesichts wies schwere Brandwunden auf, die mit einer gelblichen Salbe behandelt worden waren. Rachel versuchte zu erkennen, ob sich seine Brust hob und senkte.

Tahn schlug die Decke zurück und erstarrte bei dem Anblick. Jeremiels Körper war über und über von Brandblasen und nässenden Wunden bedeckt. Cole ballte die Fäuste, drehte sich ganz langsam um und holte zum Schlag aus.

»Wachen!« kreischte Lichtner und wich zurück. Zwei Soldaten packten Tahns Arme und hielten ihn zurück. »Was, zum Teufel, haben Sie mit ihm gemacht, Lichtner?« knurrte Tahn. »Und erzählen Sie mir nicht, das wäre bei einem Fluchtversuch passiert.«

Vor Wut zitternd brüllte Lichtner: »Wie können Sie es wagen, meine Worte in Frage zu stellen! Meine Wachen werden bezeugen, wie er seine Wunden erhalten hat. Außerdem habe ich sofort befohlen, ihn herzubringen und medizinisch zu versorgen! Ich weiß schließlich, wie wertvoll dieser Mann ist!«

Während die beiden Männer sich anbrüllten, trat Rachel an Jeremiels Bett und legte sanft eine Hand auf seinen Arm. Er fühlte sich heiß an, viel zu heiß. Sie verstärkte ihren Griff und drückte sanft. Sein Augenlid flatterte, und für einen kurzen Moment öffnete er es und sah Rachel an. Er versuchte zu sprechen, fand aber kaum die nötige die Kraft. Schließlich hauchte er: »Versucht es nicht. Geht. Schnell.«

Rachel drückte noch einmal seinen Arm und trat zurück. Hinter ihr brüllte Tahn: »Holen Sie eine Bahre, verdammt nochmal. Sie schaffen ihn jetzt sofort zu meinem Shuttle, oder ich …«

»Drohen Sie mir ja nicht!«

Tahns Gesicht war vor Wut rot angelaufen. Er schüttelte die Hände der Wachen ab und sagte mit gefährlich leiser Stimme: »Lichtner, ich garantiere Ihnen eine Untersuchung. Und dabei werde ich auch die Geschichte auf Silmar zur Sprache bringen. Haben Sie verstanden?«

Lichtners Kinn klappte nach unten. »Dann wird es eine Gegenklage geben, Captain. Ich lasse Ihnen das nicht so einfach durchgehen …«

Tahn trat einen Schritt vor. »Holen Sie eine Bahre. In fünfzehn Minuten will ich Baruch an Bord meines Shuttles haben. Von den medizinischen Möglichkeiten der Hoyer können Sie hier unten ja nur träumen. Also machen Sie schon!«

»Kommandieren Sie mich nicht herum, Tahn. Sie haben hier keine Befehlsgewalt …«

Lichtner verstummte plötzlich, als Rachel gelassen ihr Gewehr hob und es genau auf sein Gesicht richtete. Es klickte laut, als sie den Sicherungsflügel umlegte. »Ich glaube, mein Captain hat gerade verlangt, daß Sie ihm seinen Gefangenen überlassen, Major. Ich empfehle Ihnen, das auch zu tun.«

Lichtners Gesicht verzerrte sich vor Wut, doch er war klug genug, einem seiner Männer zu winken. »Sokal, tun Sie, was er gesagt hat. Ich will mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.« Er wandte sich um und stürmte davon. Seine Wachen folgten ihm.

Als Rachel und Tahn allein waren, drehte sich der Captain um und meinte: »Lieber Himmel, so langsam gefällt mir die gamantische Dreistigkeit, Lieutenant Eloel. So, jetzt sollten wir uns aber beeilen. Ich weiß nicht, wie lange Lichtner still hält. Möglicherweise funkt er in diesem Moment sogar schon die Magistraten an.«

»Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Wenn die Wachen Baruch auf die Bahre legen, schieben Sie heimlich eine Ihrer Pistolen unter das Laken. Ich bezweifle zwar, daß er die Kraft hat …«

»Die habe ich«, flüsterte eine schwache Stimme.

Rachel wirbelte herum. Jeremiels gesundes Auge öffnete sich langsam. Ein Lächeln huschte über Tahns Gesicht. »Hätte ich mir auch denken können«, meinte er.

Draußen klapperte es. Dann kamen zwei weißgekleidete Männer mit einer Antigrav-Bahre herein. Sie warfen einen Blick auf Tahns finstere Miene und bewegten sich sichtlich schneller. Zweifellos hatte jeder im Umkreis von fünf Meilen seine wutschnaubenden Befehle mitgehört. Jeremiel stöhnte leise, als sie ihn hochhoben und auf die Bahre legten. Tahn schaute sie durchbohrend an und kommandierte: »Sie beide! Kommen Sie mal mit raus.«

Sobald Tahn mit den Pflegern hinausgegangen war, schob Rachel die Pistole unter das Laken und drückte sie Jeremiel in die Hand. Während draußen Tahns Stimme donnerte, flüsterte sie: »Halten Sie durch. Wir holen Sie jetzt hier heraus.«

» … Tahn?«

»Auf unserer Seite.«

»Hoyer?«

»In unserer Hand. Halloway führt das Kommando.«

Jeremiels Auge öffnete sich fragend. Als Rachel bestätigend nickte, huschte ein Lächeln über seine Züge. Erleichtert ließ er den Kopf zurücksinken.

Tahn marschierte mit den Pflegern wieder herein und deutete auf die Bahre. »Nehmt ihn jetzt. Aber Beeilung!«

»Ja, Sir«, erwiderte einer der Pfleger, packte die Griffe neben Jeremiels Kopf und schob die Bahre vorsichtig auf den Flur. Sein Kollege ging neben ihm her.

Als sie das Krankenhaus verließen, erblickten sie Lichtner, der die Arbeiter wütend anbrüllte. »Ihr dreckigen Gamanten! Ihr glaubt wohl, ihr könnt das Geschlecht eurer Kinder vor uns verbergen? Habt ihr gedacht, wir würden das nie nachprüfen? Na, schön, ihr habt es nicht anders gewollt!« Er zog seine Pistole und richtete sie auf die Kinder, die an der Wand des Krankenhauses aufgereiht standen.

Eines der Kinder, es hatte mandelförmige Augen und kurzgeschnittenes schwarzes Haar, streckte die Arme zu der Gruppe der Erwachsenen aus und rief: »Daddy, Daddy!«

Rachel sah, wie ein schwarzbärtiger Mann zu ihr laufen wollte, doch seine Kameraden packten ihn und drückten ihn zu Boden. Er wehrte sich verzweifelt und schrie: »Yael, Yael!«

Lichtner lachte und schoß auf das erste Kind in der Reihe. Ein kleiner Junge brach zusammen. Auf der weißen Wand hinter ihm zeigte sich ein Blutfleck. Rachel rührte sich nicht, doch tief in ihrem Innern schien etwas zu zerbrechen. Wie kann dieser Ort in einem Universum existieren, das ein Teil Gottes ist? Oh, Aktariel …

Lichtner zielte auf das nächste Opfer.

»Major!« rief Rachel. »Nicht die Kinder!«

Lichtner warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »Sie sind schon zu lange mit Tahn zusammen, Sergeant. Sie werden schon genauso sentimental wie er.«

Mit diesen Worten schaute er zu Tahn hinüber, der mit versteinerter Miene stehengeblieben war. Die Pfleger hingegen waren mit der Bahre in Richtung des Shuttles weitergelaufen.

Lichtner hob die Pistole wieder und zielte auf das nächste Kind – jenes mit den mandelförmigen Augen. Der Junge streckte die Arme nach Lichtner aus und rief etwas Unverständliches. Der schwarzbärtige Mann schrie auf. »Nein! Nein! Um Gottes willen, sie ist doch noch ein Kind. Tut ihr nichts an!«

Sie? Rachels Herz raste plötzlich. Mädchen! Das alles waren Mädchen. Und jetzt erst begriff sie die ganze, schreckliche Bedeutung von Lichtners Worten.

Lichtner zögerte und grinste Rachel an. »Jeder Feigling, der so ein bißchen Leid nicht ertragen kann, sollte besser aus dem Dienst ausscheiden, nicht wahr, Sergeant? Vielleicht sollte sich Ihr Captain besser einem Nähkränzchen anschließen.« Die Soldaten stießen ein hämisches Gelächter aus.

Wieder hob Lichtner die Pistole und zielte auf das Mädchen.

Die Welt rings um Rachel erstarb. Das brutale Gelächter der Wachen drang nicht mehr an ihre Ohren. Sie sah, wie Tahns Mund verzweifelte Rufe ausstieß, doch auch ihn konnte sie nicht hören. Er machte ein paar Schritte auf sie zu, ging dann in die Hocke und griff nach seiner Pistole. In diesem Moment kehrte die Welt zu Rachel zurück.

Ihr Daumen legte mit kalter Effizienz den Sicherungsflügel um. Lichtner stand so nah, daß sie kaum zielen mußte. Das Gewehr vibrierte leicht, als sie den Finger um den Abzug krümmte. Der Schuß traf Lichtner knapp über den Hüften, zerschnitt ihn in zwei Hälften und schleuderte seinen Oberkörper als blutigen Torso mitten zwischen die Wachen, die wie erstarrt stehenblieben, die Gesichter noch immer zu einem grausamen Lachen verzogen. Rachel schwenkte das Gewehr leicht zur Seite und tötete mit dieser Bewegung ein Dutzend von ihnen. Als das Gewehr zurückschwang, starben sechs weitere Wachen.

Tahns Pistole heulte schrill auf. »Runter, Rachel! Gehen Sie in Deckung!«

Rachel warf sich zu Boden, als die Hölle losbrach. Ein Schuß fuhr vor ihr in den Boden und überschüttete sie mit Erde. Sie rollte sich zur Seite und suchte hektisch Deckung. Schüsse, Schreie und das Heulen der sich aufladenden Gewehre verdichteten sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse.

»Schnappt euch die Gewehre!« brüllte jemand. Rachel sah den schwarzbärtigen Mann, der seine Tochter im Arm hielt und mit der anderen Hand ein Gewehr schwenkte. »Wir können gegen sie kämpfen!« schrie er. »Wir können kämpfen!«

Überall tauchten Gamanten auf, warfen sich wie hungrige Wölfe auf die Soldaten, entrissen ihnen die Gewehre und töteten jeden, der eine Uniform trug.

»Rachel!« rief Tahn. Er rannte auf sie zu, während seine Pistole purpurne Strahlen verstreute. Rachel sprang auf und lief ihm entgegen. Er packte ihren Arm und riß sie mit sich. »Schnell! Hier entlang!«

Tahn zog Rachel mit, bis sie hinter einem grauen Gebäude angelangt waren. Dort gab er ihren Arm frei und sie rannten nebeneinander her. »In ungefähr zwei Minuten wimmelt es hier von rachsüchtigen, bewaffneten Gamanten«, keuchte er. »Und Sie und ich werden zu ihren ersten Zielen gehören.«

Rachel begriff, daß die purpurne Uniform, die sie trug, zu ihrem Verderben werden konnte, und verdoppelte ihre Anstrengungen.

Sie bogen um eine Ecke und rannten fast in eine Gruppe von vier magistratischen Soldaten. Die überraschten Männer zögerten einen Moment, doch Tahn hielt nicht einmal im Schritt inne, sondern tötete sie mit einem raschen Schuß aus seiner Pistole.

Rachel lief weiter und näherte sich schließlich dem Ende der Gasse. Vor ihr war die Umzäunung zu sehen; gleich daneben mußte sich der rettende Ausgang befinden.

»Rachel, halt!«

Sie wäre fast ausgerutscht und gestürzt, als sie Tahn Warnruf folgte. Der Captain schloß zu ihr auf und spähte vorsichtig um die Hausecke. »Verdammt.«

»Was ist los?«

»Da stehen fünfzig Wachen vor dem Tor. Sie errichten Barrikaden.«

»Wie sollen wir da hindurch kommen? Und was ist mit Jeremiel?«

»Entweder ist er im Shuttle oder nicht. Wir haben keine Zeit, um …«

Ein neues Geräusch klang auf. Eine Mischung aus Schreien und Stampfen näherte sich, wogte heran wie eine gewaltige Flutwelle und brandete gegen das Tor. Eine Unzahl von Männern, Frauen und Kindern warf sich gegen die Barrikade.

Durch den schmalen Spalt zwischen den Häusern sah Rachel Hunderte fallen, getötet von dem Gewitter aus violetten Strahlen, das ihnen entgegenschlug. Hinterher hätte Rachel nicht zu sagen vermocht, wie lange sie dort gestanden hatte. Eine Minute? Zwei? Und schließlich verwandelten sich die Todesschreie in eine Symphonie des Triumphs.

Rachel wollte sich schon in Bewegung setzen, da näherten sich Schritte. Drei Gamanten in blutbefleckten Gewändern stolperten in die Gasse und brachen zusammen. Tahn, der Rachel schützend hinter sich schieben wollte, erkannte, daß sie tot waren. Er überlegte kurz, drehte sich dann um und sagte: »Schnell, ziehen Sie die Kleider aus!«

Rachel riß sich die Uniform vom Körper und stand nackt im Regen, während Tahn eine der Leichen entkleidete und ihr die Sachen zuwarf. Rachel zog sich die blutdurchtränkte weiße Robe über den Kopf. Ihr gegenüber entledigte sich Tahn seiner Uniform. Für einen kurzen Moment ließ Rachel ihren Blick über die kräftigen Muskeln seines Körpers wandern. Auf Brust und Armen hatte er ein paar blaue Flecken, die schon etwas älteren Datums zu sein schienen. Jeremiels Angriff im Hangar? Rachel verspürte den Wunsch, die Hand auszustrecken und tröstend über die Verletzungen zu streicheln.

Tahn richtete sich auf und bemerkte den Ausdruck in ihrem Gesicht. »Was ist?«

»Nichts. Ich bin nur froh, daß Sie auf unserer Seite stehen.«

Cole lächelte kurz und warf ihr die Uniform zu. »Verstecken Sie das unter Ihrem Gewand.« Dann nahm er ihre Hand und zog sie um die Ecke mitten hinein in das wogende Meer aus Leibern.

Sie hatten Mühe, sich in der stoßenden, schiebenden Masse aufrecht zu halten, die über die Leichen der magistratischen Soldaten hinwegflutete und zum Tor hinausströmte.

Als sie draußen waren, sah Rachel ihr Shuttle, auf dessen Hülle die Regentropfen wie Tränen glitzerten. Die Gamanten beachteten das Schiff gar nicht. Sie wollten offenbar nur so schnell und so weit wie möglich von Block 10 flüchten.

Tahn zog Rachel zur Seitentür des Schiffes und drückte auf den Öffner. Rasch kletterten sie ins Innere und schlossen die Tür wieder. Rachel erblickte Jeremiel und atmete erleichtert auf. Die Pfleger hatten die Bahre mit einem elektromagnetischen Feld gesichert, bevor sie das Schiff wieder verließen. Jeremiel lag wie tot da, doch seine Brust hob und senkte sich, und seine Hand umklammerte die Pistole.

Er öffnete das Auge und flüsterte kaum hörbar: » … in Ordnung?«

»Ja«, erwiderte Rachel und ging zu ihm hinüber. »Wir haben das Lager befreit. Lichtner ist tot.«

Jeremiels Auge schloß sich, und sein Kopf fiel zur Seite. Er war entweder auf der Stelle eingeschlafen oder bewußtlos geworden. Rachel schüttelte den Kopf, als ihr klar wurde, daß er sich mit aller Kraft gezwungen haben mußte, auf ihre Rückkehr zu warten. Und sie hatte den starken Verdacht, er wäre notfalls sogar aus dem Shuttle gekrochen, um sie zu holen.

»Kommen Sie«, sagte Tahn. »Wir müssen hier verschwinden.«

Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
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