KAPITEL
14
Carey Halloway strich ihr Haar hinter die Ohren zurück und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Die Dunkelheit in ihrer Kabine legte sich wie ein seidenes Totenhemd um ihre Schultern.
»Ich muß etwas unternehmen.«
All die Augenblicke ihres Lebens, in denen sie krank vor Angst gewesen war, kehrten zu ihr zurück und verstärkten ihre Panik noch. Der Kom-Schirm strahlte blau, und der blinkende Cursor blitzte sie fünfmal pro Sekunde an. Die Überschrift der Datei, die sie aufgerufen hatte, lautete: »Pegasus Invasion: Untersuchung des Annum Zwischenfalls.« Ihr Blick ruhte auf Coles Namen und den Anklagen, die gegen ihn erhoben worden waren. Für einen zeitlosen Moment saß sie ganz still da, und es kam ihr so vor, als hätten sich alle Laute plötzlich verstärkt – das Zischen der Klimaanlage, das Pochen ihres Herzens, die kaum hörbaren Männerstimmen draußen auf dem Flur.
Schließlich stand sie auf und wanderte wie eine Schlafwandlerin durch ihre Kabine.
Zwanzig Jahre lagen diese Ereignisse zurück. Cole war damals noch ein frischgebackener Lieutenant, der gerade von der Akademie kam, wo er als Zweitbester eines mehr als viertausend Köpfe zählenden Jahrgangs abgeschnitten hatte. Spezialgebiet: Die Steuerung von Singularitäten. Sein erster Einsatz hatte ihn an Bord des Sternenkreuzers Annum geführt. Und eines Tages war die Annum umdirigiert worden, um die Alte Erde vor den pegasianischen Invasoren zu schützen, die danach trachteten, die einheimische Bevölkerung zu versklaven, um sie zur Ausbeutung der gleichermaßen tödlichen wie profitablen Neuro-Gas-Quellen auf dem Planeten Lad einzusetzen.
Die Kämpfe verliefen hart und verlustreich, und Dutzende von Schlachtkreuzern wurden zerstört. Im siebten Monat wurde die Annum schwer getroffen und praktisch in zwei Teile zerschnitten. Die Kommunikationsverbindungen zwischen den beiden Hälften waren unterbrochen. Cole hielt sich im Maschinenraum auf, wo er darum kämpfte, die Reaktionsvorgänge in den veralteten Singularitätsreaktoren aufrecht zu erhalten. Seinen Berichten zufolge waren die Hitzeanzeiger, die den Status der primordialen Schwarzen Löcher wiedergaben, bis auf Level fünf – extreme Gefährdung – angestiegen, was nichts anderes besagte, als daß die Singularitäten dicht vor der völligen Verdampfung standen. Tahn löste den Alarm aus und befahl seiner Crew, die nächstgelegene Rettungskapsel aufzusuchen. Danach bemühte er sich eine weitere Stunde lang allein, den Massenzerfall aufrecht zu erhalten. Schließlich suchte er ebenfalls die Rettungskapsel auf, in der schon seine Mannschaft wartete, machte einen Notstart und landete inmitten eines Gefechts in Frankreich. Dort teilte man ihm das Kommando über eine Bodeneinheit zu, was ihm nach relativ kurzer Zeit eine Auszeichnung für »besondere Tapferkeit« eintrug. Ein Jahr später war er in Gefangenschaft geraten.
Allerdings hatte wenige Minuten, nachdem Tahn die Rettungskapsel gestartet hatte, eine Spezialeinheit der Pegasianer die Annum geentert, den Captain getötet und das Schiff übernommen. Augenscheinlich war der Zustand der Energieerzeuger keineswegs so bedrohlich, wie Tahn angenommen hatte. Der Krieg hatte sich noch weitere zwei Jahre hingezogen, bis es den Magistraten schließlich gelang, die Invasoren zurückzuschlagen. Sobald die Überlebenden der Annum von ihren verschiedenen Einsatzorten zurückgekehrt waren, hatten die Magistraten einen Untersuchungsausschuß eingesetzt, um herauszufinden, wessen Fahrlässigkeit für den Verlust des Schiffes verantwortlich war. First Lieutenant Glatzer erklärte als Stellvertreter des Kommandanten, Tahns Beurteilung des Maschinenzustands sei unzutreffend gewesen, und durch seine Flucht habe er das Schiff ohne Zugriff auf die Waffensysteme zurückgelassen, was die Eroberung erst möglich gemacht habe. Cole verteidigte sich leidenschaftlich, schilderte den Ablauf der Ereignisse so detailliert wie möglich und behauptete, es müsse ein Computerfehler vorgelegen haben. Seine Crew unterstützte diese Darstellung bis auf den letzten Mann. Obwohl Slothen Tahn als »brillanten jungen Hitzkopf« bezeichnete, verzichtete er auf eine weitere Verfolgung dieser Angelegenheit, zumal Coles Einsatz in Frankreich seine Kompetenz und seinen Wert für die Flotte zur Genüge unter Beweis gestellt habe.
Eine Woche später waren die übrigen Besatzungsmitglieder der Annum zum nächstgelegenen neuraphysiologischen Zentrum gebracht worden, wo man sie wochenlang mit Gehirnsonden malträtierte, um herauszufinden, was wirklich geschehen war und wer einen Fehler gemacht hatte. Brauchbare Ergebnisse wurden auf diese Weise nicht zutage gefördert, doch die gesamte Crew erlitt durch die Untersuchung irreparable Gehirnschäden. Die Regierung hatte sie daraufhin in Heimen untergebracht, wo sie bis zu ihrem Tod blieben.
Carey stand reglos da und starrte blicklos auf das Holo der Teton-Berge auf der Alten Erde, das den größten Teil der Wand neben ihrer Tür einnahm. Die schneebedeckten Bergspitzen schimmerten korallenrot in den ersten Strahlen der Dämmerung. Über ihnen leuchtete ein Schlachtkreuzer wie ein Dreieck aus poliertem Silber. Das Bild strahlte eine besondere Kraft aus – so wie die Hoyer und ihr Captain.
Kein anderes Schiff der magistratischen Flotte war nach der Annum von Feinden übernommen worden – keines außer der Hoyer. Und niemand vermochte abzuschätzen, wie Slothen darauf reagieren würde. Es war durchaus möglich, daß er Tahns Freispruch in der Annum-Affäre noch einmal überprüfte, ein Gedanke, der Cole zweifellos im Moment stark beschäftigte. Auf jeden Fall aber würde Slothen wissen wollen, was schiefgelaufen war, wen sie unterschätzt hatten und warum. Und was würde geschehen, wenn das Logbuch des Schiffs auf diese Fragen keine Antworten gab? Bei der Annum war genau das der Fall gewesen.
»Zieh keine voreiligen Schlüsse!« befahl Carey sich selbst. »Diesmal liegen die Dinge völlig anders. Die Annum verfügte nicht über unser ausgefeiltes, selbstaufzeichnendes Computersystem. Unser Log wird den Magistraten alles mitteilen, was sie wissen wollen. Gehirnsonden werden nicht nötig sein.«
Und wenn sie die Sonden trotzdem einsetzen – als Strafe?
Carey schlang die Arme um den Leib, als sie ihre Wanderung wieder aufnahm. Sie wünschte, sie hätte Zugriff auf das Sicherheitsprogramm, um zu erfahren, welche Daten Slothen vorfinden würde, doch Baruch hatte den Zugang gesperrt. Gott sei Dank hatte er die Personalakten nicht als sensiblen Bereich eingestuft, sonst hätte sie nicht einmal etwas über die Annum herausfinden können.
»Verdammt. Verdammt!«
Es gab nur eine Möglichkeit, wie die Mannschaft und sie selbst den drohenden Gehirnsonden entkommen konnten – sie mußten das Schiff zurückerobern. Gelang ihnen das nicht, würden die Magistraten, sobald Baruch sie irgendwo abgesetzt hatte, eine Untersuchung anordnen und sie allesamt zum nächstgelegenen neurophysiologischen Zentrum schaffen.
Gelang es ihnen hingegen, das Schiff wieder in ihre Gewalt zu bekommen, bevor die Magistraten überhaupt merkten, daß etwas schiefgelaufen war, dann würde die Gefangennahme Baruchs jeden möglichen Vorwurf mehr als aufwiegen.
Aber wie, zum Teufel, sollten sie Baruch besiegen? Tahns Zustand war noch immer bedenklich, auch wenn es ihm inzwischen schon besser ging und er mittlerweile in der Lage war, längere Gespräche zu führen. Zählen konnte sie jedenfalls noch nicht auf ihn. Und das wiederum bedeutete, daß sie den Angriff allein planen mußte – was ihr ganz und gar nicht gefiel.
»Wo sind deine Schwachstellen, Baruch? Hast du überhaupt welche?«
Die nächsten zwei Stunden verbrachte Halloway damit, in ihrer Kabine auf und ab zu wandern und einen Schlachtplan nach dem anderen zu entwerfen, von denen jedoch keiner tauglich erschien. Baruch würde ihr Vorhaben durchschauen, bevor sie auch nur den ersten Schritt getan hätte.
Halloway starrte verzweifelt zur Kabinendecke empor und ballte die Fäuste. Was in Gottes Namen konnte sie nur tun, um … Ein plötzlicher Einfall durchzuckte sie. »Ja … vielleicht. Vielleicht.«
Sie eilte zum Schreibtisch hinüber und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Der Cursor blinkte im gleichen Takt wie ihr Herzschlag. »Computer, liste alle bekannten Daten über Syene Pleroma auf. Kennzeichne persönliche Gewohnheiten und emotionale Eigenheiten. Ich will alles wissen: Wie ihr Lachen geklungen hat, welches Parfum sie benutzte, wie sie sich bewegt hat.«
Das Bild einer schönen, athletisch gebauten Frau füllte den Schirm. Das lange braune Haar war hinter die Ohren zurückgestrichen und fiel in dichten Locken über den schwarzen Kampfanzug. Carey betrachtete das Gesicht der Frau. Es wirkte so zart und zerbrechlich wie das einer Porzellanpuppe, und die Augen waren groß und verwundbar.
Gen Abruzzi betrachtete den Frontschirm. Sie waren hinter der Sonne in den Normalraum zurückgekehrt und empfingen ein schwaches Bild der Hoyer. Das Schiff leuchtete wie ein silberner Vogel, während es Horeb umkreiste. Selbst aus dieser Entfernung konnte Abruzzi erkennen, daß Tahn den Angriff nicht vollständig ausgeführt hatte.
Abruzzi fuhr sich durch das wollige graue Haar und massierte die verspannten Muskeln im Nacken. »Tenon, sind Sie sicher, daß die Schiffe, die von der Oberfläche des Planeten aufsteigen, nicht zu unseren Einheiten gehören?«
»Aufgrund der Masseanalyse würde ich sagen, einige schon. Die meisten sind aber zu klein für magistratische Konstruktionen.«
»Planetare Schiffe? Und was machen die da?«
Tenon erhob sich und ging langsam zu ihm hinüber. Ihre gelbe Haut und das kurze schwarze Haar schimmerten seidig im hellen Licht. Gemeinsam betrachteten sie die Bilder auf den Monitoren. »Ich kann mir höchstens vorstellen, daß sie Flüchtlinge von Horeb heraufbringen.«
Abruzzi schluckte und spürte, daß seine Kehle ausgetrocknet war. Seine Handflächen fühlten sich feucht an. »Mist. Wahrscheinlich brauchen wir Hilfe. Sehen Sie zu, ob Sie Erinyes erreichen können, aber überlassen Sie das Reden mir.«
»Und was ist mit Palaia? Ich glaube nicht, daß Slothen sehr erfreut ist, wenn wir Extratouren reiten und ohne Befehl eingreifen.«
Der Captain nickte zögernd. »Schicken Sie einen Funkspruch an Palaia. Erbitten Anweisungen bezüglich unserer nächsten Schritte.«
»Aye, Sir.« Tenon nickte Jylo Weri zu, dem Kommunikationsoffizier.
Abruzzi wippte nervös auf den Zehenspitzen, während er auf die Antwort wartete.