KAPITEL
35

 

 

Der Sicherheitsschacht ragte wie eine dunkelgraue Röhre über Yosef auf. Er setzte den Fuß auf die nächste Sprosse und grunzte, während er sich hochzog. Schweiß lief ihm über das Gesicht, und auch sein grauer Overall zeigte Schweißflecken. Unter ihm murrte Ari keuchend vor sich hin.

Yosef hakte den Arm in eine Sprosse und wartete einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen.

»Was ist denn nun wieder?« fragte Ari. Als er keine Antwort bekam, stieß er seinen Freund mit dem Gewehrlauf an. »Kletter gefälligst weiter! Ich ersticke hier unten.«

»Paß mit dem Ding auf, sonst stichst du damit noch jemandem ein Auge aus.«

»An deine Augen komme ich von hier aus gar nicht heran«, erwiderte Ari grinsend.

Yosef beugte sich nach unten und schob den Gewehrlauf in eine andere Richtung. »Bei der Beschneidung haben sie wohl gleich einen Teil deines Gehirns mit weggeschnitten.«

»Du bist ja nur neidisch, weil bei mir genug übrig geblieben ist, daß mich in meiner Kindheit niemand Stummelschwänzchen genannt hat. Aber jetzt beweg dich. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Yosef blickte die Leiter nach oben. »Ich weiß gar nicht, weshalb ich mich von dir immer zu solchen Sachen überreden lasse.«

»Möchtest du lieber mit dem Aufzug fahren, damit jeder Wachtposten an Bord weiß, was wir vorhaben?«

»Was haben wir denn auch vor? Jeremiel hat die Suche eingestellt, weil er glaubt, daß Dannon tot ist.«

»Natürlich behauptet er das – weil er auf den günstigsten Zeitpunkt warten will, um diese Ratte auszuräuchern. Und wo bleibt dein Mumm? Willst du, daß er die ganze Arbeit allein machen muß?«

Yosef machte ein finsteres Gesicht. »Wo hast du denn diese verdrehte Denkweise gelernt?«

»Beweg dich endlich!«

Yosef holte aus, als wollte er nach Ari treten, zuckte dann die Achseln und kletterte weiter.

 

Jeremiel lehnte sich in seinem Sessel zurück. Da er eine lange Nacht erwartete, hatte er sich mit einem schwarzen Hemd und grauer Hose leger und bequem angezogen. Während er den blaßgrünen Bildschirm beobachtete, nippte er hin und wieder an einem dampfenden Becher Taza. Leise Musik spielte im Hintergrund – eine der berühmten »Verlorenen Symphonien« von Nikos Theodorakis, deren leise Melancholie beruhigend auf Baruch wirkte.

Er tippte eine Reihe von Befehlen ein. Kurz darauf zeigte der Schirm eine Übersicht der Geschützkammern des Schiffes. Ja, genau dort würde ich mich verstecken. Und viele dieser Kammern befanden sich auf Deck sieben, also dort, wo sich auch Tahns Mannschaft aufhielt.

»Dort steckst du, nicht wahr, Neil?«

Widerstreitende Gefühle bedrängten Jeremiel; alte Freundschaft stand gegen frischen Haß. Die Erinnerungen waren sein größter Feind. Noch immer sah er die Flammen, die sich in jener schrecklichen Nacht auf Ebed II in Neils Augen widergespiegelt hatten. Die übrigen Teammitglieder waren bereits am ersten Tag getötet worden. Neil und er irrten drei Tage durch die brennende Stadt und versuchten, wieder Anschluß an ihre Einheit zu finden – doch Tahns Streitkräfte hatten sie abgeschnitten und in einem halbzerstörten Lagerhaus eingekesselt, wo sie hinter einem Haufen aus Kisten und Kartons Deckung gefunden hatten, während das Dach über ihnen bereits in Flammen stand.

»Was meinst du, wie viele da draußen sind?« hatte Neil gefragt, als er die noch verbliebene Ladung seines Gewehrs prüfte.

»Schätzungsweise zwanzig.«

»Ach ja? Dann steht es ja nur zehn zu eins.«

»Reicht dir das nicht?«

Das Feuer griff immer weiter um sich, und die Hitze schlug ihnen ins Gesicht.

Neil hob einen Arm, um seine Augen zu schützen, und meinte grinsend: »Hast du diesen Rotschopf gesehen? Wirklich hübsch. Wenn sie nicht diese purpurne Uniform getragen hätte, wäre ich …«

»Dann wärst du in weniger als einer Sekunde tot gewesen. Es hat ihr überhaupt nicht gefallen, wie du sie angesehen hast.«

»Sie muß mich eben erst richtig kennenlernen.«

Jeremiel lachte. Das hatte Neil immer geschafft – ihn in jeder nur denkbaren Situation zum Lachen zu bringen. Eine Kiste explodierte und verstreute Plastiksplitter wie eine Schrapnelladung. Beide warfen sich zu Boden und bedeckten schützend die Köpfe. Die Splitter prasselten gegen die Kartons, die ihnen Deckung boten.

»Das sieht aber nicht so gut aus, mein Freund«, rief Neil. »Ich glaube nicht, daß wir hier noch lange bleiben können.«

»Da hast du wohl recht. Ich schlage vor, wir suchen uns einen Fluchtweg, benutzen die letzte Photonengranate und beten.«

Neil zog amüsiert die Brauen hoch, rollte sich auf den Rücken und zog die Granate aus seiner Tasche. »Jeremiel? Du bist mein bester Freund. Einen Freund wie dich habe ich noch nie gehabt. Für den Fall, daß wir es nicht schaffen, möchte ich dir sagen …«

»Werd jetzt nicht rührselig! Erzähl’s mir morgen.«

Neil hatte ihn voller Wärme angeblickt. »Zartfühlend wie immer! Also schön, in welche Richtung sollen wir laufen?«

Jeremiel drängte die schmerzliche Erinnerung zurück und beugte sich über die Konsole. Was ist mit uns geschehen, Neil? Was habe ich getan, um dich so weit zu bringen, daß du … Baruch riß sich zusammen und forderte die Kohlendioxydwerte sämtlicher Geschützkammern an.

»Ich weiß, daß du auf Deck sieben bist. Aber sicherheitshalber werde ich alle Kammern überprüfen …«

Eine Stimme erklang aus der Türsprechanlage. »Jeremiel? Sind Sie noch auf?«

Jeremiel drückte auf die Taste an seinem Schreibtisch und erwiderte: »Ja, Jonas. Was gibt’s?«

»Lieutenant Halloway möchte Sie sprechen«, meldete der neue Türposten.

Jeremiel drehte sich mit seinem Sessel um und starrte die Tür an, während er sich nachdenklich den Bart strich und überlegte, was Halloway um diese späte Stunde von ihm wollte. »In Ordnung, schicken Sie sie rein.«

Die Tür glitt auf und Halloway betrat mit besorgter Miene die Kabine. Wie es schien, hatte sie gerade erst eine frische Uniform angezogen.

»Setzen Sie sich, Halloway.« Baruch deutete einladend auf einen der Stühle. »Was kann ich für Sie tun?«

»Tut mir leid, Sie zu stören, Jeremiel, aber …«

»Nennen wir uns neuerdings beim Vornamen, Lieutenant?«

»Tut mir leid. Ich … wie möchten Sie den angeredet werden?«

Halloway machte ein so zerknirschtes Gesicht, daß sich Baruch seiner Reaktion ein wenig schämte. »Nun, bevor Ihnen irgendwelche Schimpfnamen einfallen, würde ich sagen, wir bleiben bei Jeremiel. Darf ich Sie Carey nennen?«

»Gern.«

»Möchten Sie Taza haben? Oder einen Whiskey?« Sie sah so aus, als könnte sie einen Schluck brauchen.

»Whiskey, bitte.«

»Ja, das dachte ich mir schon. Wissen Sie, Sie trinken mehr als so mancher Mann.« Er ging zum Wandschrank hinüber, um die Flasche und ein Glas zu holen. Auf dem Rückweg zum Tisch nahm er seinen Becher mit.

»Was für eine bösartige Bemerkung«, meinte Carey.

»Ach, reden wir jetzt über Bösartigkeiten? Das wäre wenigstens mal ein ganz neues Thema.«

Carey lächelte entwaffnend. »Aber denken Sie nicht, daß Sie Vorteile davon hätten. Ich vertrage auch mehr als so mancher Mann. Allerdings ist das Saufen noch ein recht neues Talent – ich habe erst damit angefangen, seit Sie an Bord sind.«

Jeremiel lächelte zurück. »Tatsächlich? Und ich dachte, Tahn hätte Sie schon längst in den Suff getrieben.«

»Er ist nicht so schlecht, wie Sie glauben.«

»Ich fürchte, da sind wir unterschiedlicher Ansicht.«

Carey stellte sich dicht neben Jeremiel, als er die Flasche öffnete und das Glas füllte. Ihr Parfum umgab ihn wie eine ganze Wiese voller Wildblumen. Jeremiel warf ihr einen verstohlenen Seitenblick zu und bemerkte, daß sie die Fäuste so fest geballt hatte, daß sich die Haut über den Knöcheln weiß färbte. Und wie es schien, bemühte sie sich auch angestrengt, nicht zu schwer zu atmen. Jeremiel runzelte die Stirn. Entweder ging es um eine ungewöhnlich bedeutsame Sache, oder sie war an das, was sie hier tat, nicht gewöhnt. Vielleicht traf sogar beides zu. Gab sie jemandem Deckung? Tahn? Plötzliche Angst durchfuhr ihn. War jetzt die Zeit gekommen? Vor zwei Tagen hatte er den Weg von Tahns Kabine zu Deck sieben freigemacht.

Baruch reichte ihr das Glas und beobachtete interessiert, wie lange ihre Finger dabei die seinen berührten. Ein leiser Schauer durchlief ihn, genau, wie sie das wohl beabsichtigt hatte. »Setzen Sie sich, Carey.«

»Ich glaube, ich stehe lieber.«

»Wie Sie wünschen.« Jeremiel zog seinen Sessel heran und stellte einen Fuß auf die Sitzfläche. »Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Einige meiner Leute weigern sich, Ihre Mannschaft zu unterrichten, und …«

»Ach ja? Ich habe von meinem Stab keine entsprechenden Beschwerden gehört.«

»Trotzdem …«

»Ich nehme an, es ist Ihnen lieber, wenn ich nicht damit drohe, jeden Spezialisten zu töten, der nicht zur Mitarbeit bereit ist?«

»Allerdings. Solche Drohungen würden die Spannung kaum vermindern.«

Jeremiel nickte freundlich. »Nun, jedenfalls kann ich Widerstand auch nicht dulden. Was schlagen Sie vor, sollen wir tun?«

Carey blickte ihn unsicher an, als wisse sie nicht genau, wie sie reagieren sollte. Stand ihm sein Verdacht so sichtbar im Gesicht geschrieben? Oder fühlte sie sich einfach unwohl in der Rolle der Intrigantin? Sie leerte ihr Glas bis auf den letzten Tropfen und hielt es ihm hin, um sich nachschenken zu lassen.

»Fällt Ihnen das Gespräch mit mir schwer?« fragte Jeremiel.

»Bis jetzt nicht.«

»Was erwarten Sie denn von mir?«

»Ich weiß nicht.«

»Wirklich? Wie enttäuschend.«

Carey zog eine Augenbraue hoch. »Ja? Wieso?«

»Sie sind doch ein Profi. Eigentlich hätten Sie eine Strategie ausarbeiten müssen, bevor Sie herkamen.«

Carey fixierte ihn mit einem durchdringenden, zugleich aber auch etwas furchtsamen Blick. »Was meinen Sie damit?«

Jeremiel schüttelte abschätzig den Kopf und schlenderte bewußt langsam zum Terminal hinüber, um Carey noch nervöser zu machen. Die Kohlendioxydanzeigen wiesen eindeutig auf Deck sieben hin; in keiner der anderen Kammern wurden ungewöhnliche Werte verzeichnet. Ja, rede mit Neil, Tahn.

Schließlich drehte er sich um und sagte: »Beantworten Sie mir eine Frage? Bis zu welchem Grad soll ich eigentlich verwirrt werden? So sehr, daß ich alles andere vergesse?« Er ließ seinen Blick von oben bis unten über Careys Körper wandern. »Oder haben Sie mit meinem gamantischen Sinn für Anstand und Schicklichkeit gerechnet? Der wird allerdings meist sträflich überschätzt.«

Careys blasse Wangen zeigten einen Anflug von Röte. Sie fuhr sich durch das herbstfarbene Haar und meinte: »Es scheint immer riskant zu sein, bei Ihnen mit irgend etwas zu rechnen.«

Jeremiel betrachtete sie ernst, während Carey unbehaglich in ihr Whiskeyglas starrte.

»Aus welchem Grund sind Sie wirklich hergekommen?«

»Ich hatte keinen besonderen Anlaß.«

»Nun, dann wollen wir mal sehen, ob ich den Grund nicht herausfinden kann.« Jeremiel machte drei schnelle Schritte und blieb direkt vor ihr stehen. »Unterhalten wir uns doch einfach darüber, wie Tahn plant, das Schiff wieder zu übernehmen.«

»Verdammt, Baruch, wie kommen Sie auf die Idee …«

»Das sagt mir mein Instinkt. Kein guter Commander gibt jemals auf. Und Tahn ist ein sehr guter Commander. Würde er es nicht versuchen, würde ich mir erst recht Sorgen machen. Allerdings weiß ich beim besten Willen nicht, weshalb er sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat, um sich nochmals mit mir zu unterhalten.«

Carey öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann anders und schwieg. Jeremiel nutzte die Gelegenheit, um zum Getränkespender hinüber zu gehen und seinen Becher mit Taza aufzufüllen. Auf dem Rückweg drückte er auf den Schalter, mit dem das Licht gedämpft wurde. Dann zog er einen Stuhl heran und befahl: »Setzen Sie sich, Lieutenant.«

Carey blieb einen Moment wie erstarrt stehen, gab dann nach und nahm Platz. Jeremiel setzte sich ihr gegenüber, lehnte sich zurück und betrachtete sie forschend.

Carey schluckte nervös. »Glauben Sie, ich bin als strategisches Ablenkungsmanöver hier?«

»Ist es denn nicht so?«

»Warum werfen Sie mich dann nicht einfach hinaus?«

Jeremiel knirschte hörbar mit den Zähnen. »Ich mag Sie.«

»Sagen Sie das, um mich zu beruhigen?«

»Eigentlich nicht.« Jeremiel nahm einen Schluck Taza. »Tahn hat sich also entschlossen, Dannons Wissen zu nutzen, ja?«

Carey zögerte einen Moment, als überlege sie, ob sie ihn auf den Zwischenfall auf Deck zwanzig ansprechen sollte, zog es dann jedoch vor, ihre Rolle weiterzuspielen. »Dannon ist tot. Das haben Sie selbst gesagt.«

»Neil ist viel zu clever, um bei einer derartigen Aktion ums Leben zu kommen. Schließlich habe ich zusammen mit ihm hunderte von Dekompressionsübungen mitgemacht. Und sobald er erfuhr, daß ich an Bord kommen würde, dürfte ihm klar gewesen sein, was ich vorhatte.«

Carey stieß heftig den Atem aus. »Ich verstehe Sie nicht, Baruch. Wenn Sie glauben, daß Dannon und Tahn ein Komplott gegen Sie schmieden, weshalb sitzen Sie dann noch hier? Dannon könnte erheblichen Schaden anrichten.«

In Careys Stimme schwang Sorge mit, wie Jeremiel erstaunt feststellte. Er warf einen Blick auf ihre geröteten Wangen und die nervösen Bewegungen ihrer Finger, die mit dem Glas spielten. War die Besorgnis echt oder nur ein taktischer Schachzug? Er vermochte es nicht zu sagen.

»Das ist mir bewußt.«

»Wollen Sie ihm das durchgehen lassen? So wie auf Silmar?«

Jeremiels Fassade der Selbstkontrolle bröckelte. Er kämpfte darum, die schmerzlichen Erinnerungen zurückzudrängen. Das war Absicht gewesen – sie versuchte offensichtlich, das Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken. »Seien Sie vorsichtig«, murmelte Jeremiel. »Worauf wollen Sie hinaus?«

Careys Gesichtsausdruck veränderte sich, als wäre sie zu einem Entschluß gekommen. »Damals in Akiba wußten Sie doch, daß er hinter Ihrem Rücken etwas plante, oder? Sicher hat doch irgend jemand versucht, Sie darauf aufmerksam …«

»Syene hat es versucht. Aber ich habe dem keine Bedeutung beigemessen, weil ich ihm vertraut habe.«

»So wie jetzt?«

Jeremiel ließ den Blick langsam über ihr Gesicht wandern. Verdammt, weiß sie, was ich vorhabe? Hatte sie seine Strategie durchschaut? Sie war eine erfahrene, intelligente Veteranin. Hatte er sie unterschätzt? »Worauf wollen Sie hinaus?«

Carey strich sich durchs Gesicht, als könnte sie selbst nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte. »Vergessen Sie’s. Ich bin etwas überreizt.«

»Das ist schon ein recht ungewöhnliches Gespräch, das wir hier führen, finden Sie nicht auch? Versuchen Sie mir zu helfen, Lieutenant?«

Carey lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und wirkte plötzlich sehr müde und erschöpft. Eine Weile starrte sie auf den Boden; dann hob sie langsam die rechte Hand – die Schußhand – und betrachtete die Linien ihrer Handfläche mit einer Miene, als wäre sie mit dem Muster, das sich dort zeigte, zutiefst unzufrieden. Schließlich ballte sie die Faust und schüttelte sie, als würde sie einem Gegner tief in ihrem Innern drohen. Jeremiel, der zum unfreiwilligen Zeugen ihrer Pantomime geworden war, verstand diese Geste weitaus besser als vieles von dem, was sie gesagt hatte. Auch er hatte in genau derselben Weise das Schicksal oft genug in lautloser Wut verflucht.

Leise sagte Carey: »Ich habe Sie sehr lange gehaßt. Sie haben viele von meinen Freunden getötet.«

Jeremiel blickte auf die Tischplatte und wartete darauf, daß sie weitersprach.

»Aber als ich mir genauer ansah, wie Sie vorgingen, fing ich an, Sie zu bewundern. Sie waren so verdammt exakt, so perfekt in Ihren Einschätzungen – wie eine Maschine. Sauber, präzise, und ohne Gefühle.«

»So wirkt das von außen?«

»Ja.«

»Ich nehme an, Angst und Verzweiflung passen nicht zu dieser Beschreibung?«

»Sicher nicht. Außerdem können Sie sich solche Gefühle gar nicht leisten, wenn man bedenkt, in welcher Klemme Sie gerade stecken. Was wollen Sie tun? Wenn Sie nach Tikkun fliegen – und etwas anderes bleibt Ihnen kaum übrig – haben Sie es mit fünfzehn magistratischen Militärbasen zu tun, die nur auf Sie warten. Sie können nicht …«

»Vielleicht kann ich doch.«

»Das bezweifle ich.«

»Sie sind ziemlich pessimistisch.«

»Außerdem wird Bogomil in zwei Wochen dort auftauchen. Und ganz gleich, wie sehr Ihre Leute sich beim Unterricht auch anstrengen, sie werden keine Chance gegen die an der Akademie ausgebildeten Soldaten haben.«

Jeremiel umklammerte seinen Becher fester und wünschte sich, Epagael würde Carey in die Grube der Finsternis werfen, weil sie seine eigenen Befürchtungen noch bestärkt hatte. »Auch dessen bin ich mir bewußt.«

»Dann haben Sie einen Plan?«

Jeremiel mußte kichern und fing schließlich laut zu lachen an. »Erwarten Sie, daß ich davon erzähle?«

Careys ernste Miene brachte ihn zum Verstummen. »Den Plan werde ich so oder so bald erfahren. Ihr guter Freund Dannon wird – sofern er noch lebt – Tahn zweifellos genau erzählen, welche Vorgehensweise er von Ihnen erwartet. Und Sie sitzen hier …«

»Und bin viel zu ehrlich zu einer Frau, die ich viel zu sehr mag.«

Jeremiel schlug mit der Faust auf den Tisch, wodurch sowohl sein Becher als auch Careys Glas umfielen und ihren Inhalt über Tischplatte und Teppichboden ergossen. Ihre Blicke trafen sich und Jeremiel sah, wie ihr Ausdruck sanfter wurde. Er schüttelte den Kopf und meinte rauh: »Verdammt.«

»Nun«, flüsterte Carey und legte die Hände in den Schoß, »jetzt wird es ungemütlich. Ich glaube, ich habe Sie lange genug abgelenkt.«

»Sie haben es ungemütlich gemacht, nicht ich.«

»Weil ich Sie nach Ihrer Strategie gefragt habe? Werfen Sie mir das bitte nicht vor. Ich dachte mir, Sie könnten Hilfe brauchen.«

»Ach ja? Die kann ich tatsächlich brauchen. Erzählen Sie mir, wie Tahn das Schiff zurückerobern will?«

Carey zögerte. Absichtlich? Wenn ja, war sie eine ausgezeichnete Schauspielerin. Trotzdem wünschte Jeremiel sich mit jeder Faser seines Herzens, er könnte sie auf seine Seite ziehen. »Carey, sagen Sie mir nur …«

»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.« Carey erhob sich und lief fast in Richtung Tür.

Jeremiel sprang auf, packte ihr Handgelenk und sagte drängend: »Ich brauche Ihre Hilfe. Bitte, helfen Sie mir, Carey.«

Halloway wehrte sich gegen seinen Griff, doch Jeremiel ließ nicht locker. Eine Minute standen sie dicht beieinander, dann zwei. Jeremiel spürte, wie ihr Pulsschlag sich immer mehr beschleunigte, bis er ebenso raste wie sein eigener. Ein Gefühl der Verzweiflung überkam ihn, das beinahe an Hoffnungslosigkeit grenzte. Schon in wenigen Stunden würde er mit diesem Schiff in die Höhle des Löwen fliegen müssen, und dann blieb ihm nichts als zu beten, daß er auch diesmal wieder einen Ausweg fand. Sein Blick streichelte Careys schimmerndes Haar, die sanften Linien und die zarte Haut ihres Gesichts. Mit einer einzigen Bewegung ließ er ihr Handgelenk los, schloß sie in die Arme und küßte sie.

Carey wehrte sich halbherzig, dann schien sie dahinzuschmelzen und drängte sich gegen ihn. Sie erwiderte den Kuß sanft und ruhig, als hätten sie alle Zeit der Welt. Jeremiel zog sie enger an sich, während irgendwo in seinem Verstand eine Stimme flüsterte: Ein Spiel. Das ist alles nur ein Spiel. Wir nutzen beide jedes Mittel, das uns zur Verfügung steht … aber es ist schön. Und was schadet es schon, wenn wir uns eine Weile gegenseitig trösten? Was schadet es …

Jeremiel löste sich von ihr und wich unsicher zurück. Irritiert bemerkte er, daß seine Hände zitterten.

»Carey«, sagte er leise, »du gehst jetzt besser. Und sag Tahn, daß Dannon in einem Punkt absolut recht hat. Wenn er mich in die Enge treibt, jage ich das Schiff in die Luft. Hast du verstanden?«

Carey zögerte einen Moment. »Jeremiel, wenn ich könnte …«

Jeremiel schloß die Augen und ballte die Fäuste. »Du kannst.«

»Nein, ich kann nicht«, erwiderte sie ruhig. »Aber ich werde Tahn weitergeben, was du …«

»Wenn er mit Dannon gesprochen hat, weiß er das bereits.«

Ohne ein weiteres Wort verließ Carey die Kabine. Jeremiel gewahrte kurz Jonas’ neugieriges Gesicht, bevor die Tür sich wieder schloß.

Mit einer wütenden Bewegung riß sich Jeremiel das Hemd vom Leib und warf es aufs Bett. Seit Stunden beschäftigte er sich praktisch ununterbrochen mit der Frage, wie er aus dem gegenwärtigen Dilemma herauskommen sollte. Noch schlimmer war allerdings das Vertrauen in den Augen seiner Gefolgsleute, die blind darauf bauten, er würde sie in Sicherheit bringen.

Er ließ sich schwer aufs Bett fallen und preßte die Hände gegen den Kopf, um Klarheit in seine Gedanken zu bringen.

»Mach schon, Neil. Erzähl Tahn alles, was ich deiner Meinung nach unternehmen werde.«

Jeremiel warf einen Blick zum Bildschirm hinüber. Die höchsten Kohlendioxydwerte wurden für Deck sieben, Sektion vierzehn C, angezeigt.

Jeremiel streckte sich auf dem Bett aus und starrte zur Decke empor, während er seine eingeschränkten Möglichkeiten durchging. Doch zu oft, viel zu oft drängte sich die Erinnerung an Carey Halloway in seine Gedanken – fast so wie das glänzende Goldene Kalb aus den Erzählungen der Alten.

 

Carey betrat zusammen mit Jonas Wilkes den Aufzug. Der kleingewachsene Mann, dessen Figur an eine umgedrehte Pyramide erinnerte, ließ sie nicht aus den Augen. Sie lehnte sich gegen die Wand und genoß die Kühle, die durch ihre Kleidung drang. Sie war zu weit gegangen. Hatte sich zu weit vorgewagt und das Gleichgewicht verloren. Wie war das nur möglich gewesen? Wie hatte sie das zulassen können?

Aus dem Spiel war plötzlich Ernst geworden …

Jeremiels Umarmung hatte Gefühle in ihr erweckt, die sie erschreckten.

Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
titlepage.xhtml
Gamant2_split_000.htm
Gamant2_split_001.htm
Gamant2_split_002.htm
Gamant2_split_003.htm
Gamant2_split_004.htm
Gamant2_split_005.htm
Gamant2_split_006.htm
Gamant2_split_007.htm
Gamant2_split_008.htm
Gamant2_split_009.htm
Gamant2_split_010.htm
Gamant2_split_011.htm
Gamant2_split_012.htm
Gamant2_split_013.htm
Gamant2_split_014.htm
Gamant2_split_015.htm
Gamant2_split_016.htm
Gamant2_split_017.htm
Gamant2_split_018.htm
Gamant2_split_019.htm
Gamant2_split_020.htm
Gamant2_split_021.htm
Gamant2_split_022.htm
Gamant2_split_023.htm
Gamant2_split_024.htm
Gamant2_split_025.htm
Gamant2_split_026.htm
Gamant2_split_027.htm
Gamant2_split_028.htm
Gamant2_split_029.htm
Gamant2_split_030.htm
Gamant2_split_031.htm
Gamant2_split_032.htm
Gamant2_split_033.htm
Gamant2_split_034.htm
Gamant2_split_035.htm
Gamant2_split_036.htm
Gamant2_split_037.htm
Gamant2_split_038.htm
Gamant2_split_039.htm
Gamant2_split_040.htm
Gamant2_split_041.htm
Gamant2_split_042.htm
Gamant2_split_043.htm
Gamant2_split_044.htm
Gamant2_split_045.htm
Gamant2_split_046.htm
Gamant2_split_047.htm
Gamant2_split_048.htm
Gamant2_split_049.htm
Gamant2_split_050.htm
Gamant2_split_051.htm
Gamant2_split_052.htm
Gamant2_split_053.htm
Gamant2_split_054.htm
Gamant2_split_055.htm
Gamant2_split_056.htm
Gamant2_split_057.htm
Gamant2_split_058.htm
Gamant2_split_059.htm
Gamant2_split_060.htm
Gamant2_split_061.htm
Gamant2_split_062.htm
Gamant2_split_063.htm
Gamant2_split_064.htm
Gamant2_split_065.htm
Gamant2_split_066.htm
Gamant2_split_067.htm