KAPITEL
11

 

 

Carey Halloway betrachtete geistesabwesend die Deckszahlen, während der Fahrstuhl abwärts glitt. Ihre Knie zitterten.

»Verdammt!«

Sie lehnte ihre heiße Wange gegen die kühle Plastikverkleidung und kämpfte gegen den Brechreiz an. »Reiß dich zusammen. Baruch darf dich auf keinen Fall so sehen.«

Es war fast unmöglich gewesen, dieses Treffen mit dem Untergrundführer in die Wege zu leiten. In den vergangenen dreizehn Stunden hatte er keinen Offizier der Hoyer vorlassen wollen und sich sogar geweigert, eine Bildverbindung zuzulassen.

Während die gamantischen Flüchtlingsschiffe entladen wurden, hatte Baruch jeden einzelnen Vorgang persönlich überwacht, als hätte er Angst, irgend etwas zu verpassen, wenn er auch nur eine kurze Pause einlegte. Und die ganze Zeit über waren seine Soldaten unermüdlich durchs Schiff gestreift, hatten die einzelnen Decks gesichert, Überlebende festgenommen und auf der Suche nach flüchtigen Besatzungsmitgliedern oder geheimen Waffenverstecken die Wandverkleidungen abgerissen. Halloway selbst waren lediglich die Decks eins bis fünf geblieben. Und dort mußte sie damit rechnen, daß man auf sie schoß.

Nichts war von ihrem alten, in geordneten Bahnen verlaufenden Leben geblieben. Ihre Crew – oder was davon noch übrig war – drehte vor Angst und Kummer langsam durch. Sie stellten Tahns Fähigkeiten in Frage und drohten ihn zu lynchen, weil sie ihm die Schuld am Verlust ihrer Familien und Freunde gaben. Und es gab nichts, was sie, Halloway, dagegen unternehmen konnte. Noch immer waren auf den Bildschirmen im All treibende leblose Körper zu sehen, die sich als schwarze Silhouetten vor der brennenden Oberfläche des verwüsteten Planeten abzeichneten.

Tahn kämpfte weiterhin mit den Folgen der Gehirnerschütterung. Als sie zuletzt nach ihm gesehen hatte, durchlebte er stöhnend irgendeinen furchtbaren Alptraum aus seiner Vergangenheit. Wenn sie nicht bald einen Arzt auftreiben konnte, wußte sie nicht, was aus ihm werden sollte. Der Aufzug hielt an. Halloway drückte rasch auf den Knopf, der das Öffnen der Tür verhinderte. »Jetzt reiß dich zusammen!« ermahnte sie sich selbst. »Dir bleibt ja doch keine Wahl. Deine Mannschaft reibt sich gegenseitig auf.«

Sie zögerte noch einen Moment, strich dann das herbstfarbene Haar zurück und ließ die Tür aufgleiten.

Ihr Magen verkrampfte sich beim Anblick des Flurs. Dunkelrote Flecke an den Wänden zeigten an, wo Menschen sterbend zusammengebrochen waren. Ein feiner, bräunlicher Niederschlag hatte die Decke verfärbt – Körperflüssigkeiten, die sich während der Dekompression überall verteilt hatten. Zwei strengblickende Gamanten zielten mit Gewehren auf ihre Brust.

»Ich bin Lieutenant Halloway. Ich soll Commander Baruch im Konferenzraum 8015 treffen.«

Der untersetzte Blonde nickte. »Ich bin Christopher Janowitz. Der ursprüngliche Plan wurde geändert.«

Halloway rieb sich die feuchten Handflächen an der Hose ab und atmete tief durch. »Erzählen Sie mir nicht, er hätte das Treffen abgesagt. Ich muß ihn sprechen, verdammt nochmal!«

»Das weiß er. Er wird Sie in zehn Minuten in seinem Quartier auf Deck zwanzig empfangen.«

Wut stieg in ihr auf. War das der einzige Ort, an dem er sich sicher fühlte? »Hat er Angst, sich im Konferenzzimmer mit mir zu treffen?«

»Entweder in seiner Kabine oder gar nicht, Ma’am. Entscheiden Sie sich.«

Halloway trat auf den blutbespritzten Flur hinaus. Der Geruch von menschlichen Überresten hing noch in der Luft. Ein gamantischer Reinigungstrupp ging ein kurzes Stück entfernt seiner Arbeit nach. Die Männer benutzten mechanische Arbeitsgeräte, um die Leichen aufzusammeln und in die Müllschlucker zu stopfen, die an den Wänden angebracht waren. Carey bemühte sich, die Leichen nicht nach bekannten Gesichtern abzusuchen, doch eine Frau, ein Sergeant, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie war von einer Tür eingeklemmt worden. Ihre Arme waren wie flehend ausgestreckt, während sie aus leeren Augenhöhlen zu Halloway hinüberschaute. Lorene Saunion? Carey schluckte schwer und wandte den Blick ab.

Janowitz machte eine Bewegung mit dem Gewehr. »Stützen Sie sich bitte mit den Händen gegen die Wand, Ma’am. Ich muß Sie durchsuchen.«

Halloway stemmte die Fäuste gegen die Plastikverkleidung und spreizte die Beine. Janowitz tastete sie rasch und professionell ab und überprüfte sie zusätzlich mit einem Handcorder auf verborgene Substanzen.

Dann trat er einen Schritt zurück, streckte den Arm aus und meinte: »Hier entlang, bitte.«

»Mir ist der Weg zum Deck zwanzig durchaus bekannt, Soldat.« Halloway setzte sich in Bewegung, doch Janowitz packte ihren Arm und hielt sie fest.

»Das bezweifle ich nicht. Aber folgen Sie mir bitte trotzdem. Jeremiel würde es gar nicht schätzen, wenn ich Ihnen die Führung überließe.«

»Ach, wirklich? Glaubt er, ich würde sonst das Schiff zurückerobern?«

»Ich glaube, er ist eher um Ihre Sicherheit besorgt, Ma’am.« Janowitz sprach mit solcher Achtung von seinem Anführer, daß Halloway unwillkürlich die Zähne zusammenbiß. Hielten diese Fanatiker Baruch für eine Art Gott? Ja, offensichtlich. Und warum auch nicht? Meine eigene Mannschaft glaubt das ja auch schon fast.

Janowitz schritt voraus, während der dünne, kahlköpfige Mann die Nachhut bildete. Ein Schauer lief Halloway das Rückgrat hinunter, als sie spürte, daß ein Gewehr von hinten auf sie gerichtet war. Sie folgten dem Korridor bis zum Ende, wo sie einen anderen Fahrstuhl bestiegen und nach unten fuhren. Halloway betrachtete angelegentlich die Decke und überlegte, was sie Baruch sagen sollte, und wie lange sie wohl den Schmerz ertragen würde, wenn er beschloß, sie zu foltern. Gamanten waren für ihre ablehnende Haltung gegenüber Gehirnsonden bekannt. Statt dessen benutzten sie primitive, brutale Methoden, um an Informationen zu gelangen.

Als der Aufzug hielt, stieg Janowitz als erster aus, überprüfte den Korridor und winkte Holloway dann, ihm zu folgen. Halloway trat in einen Saal hinaus, in dem sich horebianische Flüchtlinge drängten. Stöhnen und Schluchzen erfüllten die Luft. Viele der Menschen trugen Verbände oder hatten ihre Wunden mit Stoffetzen bedeckt. Ein alter Mann, dessen Gesicht vom Wetter gegerbt war, blickte Holloway aus haßerfüllten Augen an und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zwischen den am Boden liegenden Verletzten. Der Wächter hinter ihr stieß ihr den Lauf seines Gewehrs in den Rücken, um sie anzutreiben.

»Kabine 2017, Lieutenant. Vorwärts.«

Halloway ging weiter und mied die haßerfüllten Blicke der Verwundeten. Eine alte Frau, der ein Bein fehlte, spuckte sie an und schrie: »Magistratischer Abschaum! Du hast meine Familie ermordet. Meine ganze Familie!«

Carey Halloways Herz klopfte hart. Am Ende des Korridors sah sie ein kleines Mädchen von vielleicht zwei Jahren, das sich aus einer Gruppe schlafender Kinder freistrampelte. Ihr Gesicht hatte sich kläglich verzogen, und sie fing an zu weinen. Gerade als Carey näherkam, machte das Kind ein paar unsichere Schritte, stolperte und versuchte dann fortzukriechen, war aber zu schwach, um weit zu kommen. Carey blickte in die tränenfeuchten Augen. Das kleine Mädchen hob ihr flehend die Arme entgegen und schluchzte herzzerreißend.

Carey zögerte – vielleicht sagte Baruch das Treffen ab, wenn sie sich verspätete. Aber … lieber Gott … Sie kniete nieder und nahm das Mädchen in die Arme. »Ist schon in Ordnung«, flüsterte sie leise. »Alles wird wieder gut.«

Die Kleine packte nach Careys Haaren und zog die Frau zu sich heran, bis sie ihre Ärmchen um den Hals des Lieutenants legen konnte. Carey schaukelte das Mädchen und flüsterte ihm dabei beruhigend ins Ohr. Wie viele solcher Kinder mochte es noch an Bord geben? Hunderte? Der Gedanke traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie streichelte dem Mädchen sanft über den Rücken und flüsterte: »Pst, nicht weinen. Nicht mehr weinen.«

Erinnerungen an Jumes stiegen in Halloway auf. Nachdem sie den Planeten abgefackelt hatten, waren sie gelandet, um zu inspizieren, was noch übrig geblieben war. Nur zu deutlich erinnerte sie sich an die Waisenkinder, die in den abgelegenen Gebieten dieser Welt ziellos umhergelaufen waren und weinend nach ihren Familien gesucht hatten, die sie nie wiederfinden würden. Coles Augen hatten noch Tage später einen gehetzten Ausdruck gezeigt. Und sie selbst war schweigend und schmerzerfüllt an Bord zurückgekehrt.

Janowitz kam zu ihr und klopfte ihr auf die Schulter. »Kommen Sie, Lieutenant. Wir kümmern uns um das Baby.«

Carey umarmte das Kind ein letztes Mal, erhob sich und reichte es an Janowitz weiter. Das Mädchen kreischte auf und streckte die Finger nach Halloway aus. Janowitz gab das Kind an jemand andern weiter und deutete den Flur entlang. »Vorwärts, Halloway. Commander Baruch wartet auf Sie.«

Carey bog eilig um die nächste Ecke. In diesem Teil des Schiffs gab es keine Flüchtlinge, doch der Gestank nach schmutziger Kleidung und entzündeten Wunden hing noch immer in der Luft.

Janowitz drückte auf den Türmelder. »Jeremiel, Lieutenant Halloway ist hier.«

Es dauerte einen Moment, dann glitt die Tür zur Seite und Carey blickte in das Gesicht des Mannes, den sie ihr Leben lang gefürchtet hatte. Er war groß, hatte breite Schultern und ein markantes, angenehmes Gesicht. Blondes Haar klebte in kleinen Locken an Stirn und Schläfen. Der rotblonde Bart war kurz geschnitten, und seine blauen Augen blitzten, obwohl unübersehbar war, daß er sich vor Müdigkeit kaum aufrecht halten konnte.

»Lieutenant, kommen Sie bitte herein.« Baruch trat einen Schritt zur Seite und deutete eine einladende Handbewegung an.

»Danke«, erwiderte Halloway und trat ein. Die Tür glitt wieder ins Schloß und Careys Bauchmuskeln spannten sich. Die Lampen waren abgeblendet und warfen einen warmen, silbrigen Schein über die nackten Wände. Genau wie ihre eigene Unterkunft maß auch diese Kabine zehn mal fünfzehn Fuß und roch durchdringend nach Reinigungsmitteln. Rechts neben ihr standen ein Tisch und zwei Stühle gleich neben der Tür zum Bad. Das Bett war an der Rückwand aufgestellt. Auf dem Boden daneben lag ein kleiner Rucksack. Er schien der einzige persönliche Besitzgegenstand in diesem Raum zu sein.

Baruch folgte Carey, blieb in der Mitte des Zimmers stehen, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: »Nehmen Sie bitte Platz. Kann ich Ihnen eine Tasse Taza oder …«

»Ein Scotch würde mir eher zusagen.«

»In Ordnung.« Baruch ging zum Wandschrank und holte eine Flasche und zwei Gläser heraus. »Meine Leute haben das hier im Maschinenraum gefunden. Ich habe keine Ahnung, wie …«

»Gefunden?« Haß und Wut stiegen in Carey auf. »Sie meinen gestohlen.«

»Da uns das Schiff zur Zeit gehört, meine ich gefunden.«

»Arroganter Mistkerl. Noch gehört Ihnen nicht das ganze Schiff. Noch nicht.«

Er nickte gleichmütig, füllte beide Gläser und reichte ihr eines. Als sie es nahm, trafen sich ihre Blicke: Careys Augen wirkten eisig, gepaart mit Verzweiflung, Jeremiels hart und unnachgiebig.

Carey nahm einen großen Schluck und spürte, wie der Alkohol heiß ihre Kehle hinabrann. Noch ein paar mehr von diesen Drinks, und sie wäre bereit, sich der Welt zu stellen, wie öde sie auch sein mochte.

Carey warf einen Blick auf die schwere Pistole an Baruchs Gürtel, und ihr Ärger nahm noch zu. »Tragen Sie Ihre Waffe, um mich einzuschüchtern? Dann darf ich Ihnen versichern, Commander, daß ich derzeit keine Gefahr für Sie darstelle.«

»Ich trete niemals einem magistratischen Offizier unbewaffnet gegenüber. Insbesondere keinem, der den orillianischen Silberstern und das columbanische Kreuz erhalten hat. Sie sind gefährlich – ungeachtet ihrer ›derzeitigen‹ Situation. Ich empfehle Ihnen jedenfalls dringend, keine plötzlichen Bewegungen zu machen.«

»Haben Sie die ganze Nacht damit zugebracht, Personalakten zu studieren?«

»Den größten Teil der Nacht, ja.«

Halloway nippte an ihrem Glas und beobachtete Baruch dabei genau. Er schien todmüde zu sein. Sein am Hals geöffneter Overall zeigte ein paar kaum verschorfte Schnitte auf der Brust. Übermüdet und verwundet. Konnte sie das für sich ausnutzen? Ihm vielleicht Informationen entlocken, die er unter normalen Umständen nicht enthüllen würde? Vielleicht.

Sie ging zum Tisch hinüber und setzte sich auf einen der Stühle. Ein kurzer Ausdruck des Bedauerns huschte über Baruchs Gesicht. Er nahm ihr gegenüber Platz und streckte die langen Beine aus.

»Baruch, ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns für ein paar Minuten einfach wie menschliche Wesen unterhalten könnten, bevor wir uns den Gründen zuwenden, warum ich um diese Unterredung gebeten habe. In den letzten Stunden hat es sehr an Menschlichkeit gefehlt.«

Jeremiel nickte zustimmend. »Ich verstehe Ihren Wunsch, Lieutenant. Nun, wie geht es Tahn?«

»Er deliriert noch immer. Offenbar durchlebt er noch einmal die Pegasus-Invasion der Alten Erde.«

Baruch runzelte die Stirn. »Er wurde damals gefangengenommen, nicht wahr?«

»Ja. Gefangen und in einen winzigen Käfig gesperrt, wo man ihn fünf Monate lang gefoltert hat. Als die magistratischen Streitkräfte die Invasoren besiegt hatten, kroch er wieder aus seinem Käfig heraus – ein wenig verrückt, wie man erzählt. Er hat dann mehrere Monate in einem Rehabilitationszentrum verbracht.«

»Er ist schon ein interessanter Bursche, nicht wahr? Hat er den Breitband-Notruf genehmigt, in dem alle Schiffe in Reichweite aufgefordert wurden, Überlebende von Horeb aufzunehmen?«

»Ja, das hat er.«

»Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß diese Botschaft ihm leicht meine eigene Flotte hätte auf den Hals hetzen können.«

»Das war ihm bewußt.«

»Warum ist er dieses Risiko dann eingegangen?«

»Um ein paar verdammten Gamanten das Leben zu retten.«

Baruch fuhr sich durchs Haar. »Das ist schwer zu glauben, wenn man bedenkt, wie viele Hunderttausende er in den letzten fünfzehn Jahren umgebracht hat. Aber zweifellos hatte er seine Gründe dafür. Ich habe mir selbst versprochen, darüber nachzudenken, sofern ich vorher ein dickes Steak und zehn Stunden Schlaf bekomme. Vielleicht frage ich ihn aber auch einfach danach. Ich freue mich schon darauf, ihn zu treffen.«

Halloway zog eine Braue hoch. »Und er freut sich darauf, sich mit Ihnen zu prügeln.«

»Es dürfte kaum etwas geben, was mir mehr Vergnügen bereiten würde. Außer vielleicht der Chance, jeden lebenden Magistraten umzubringen.«

Halloway warf ihm einen forschenden Blick zu. »Besonders feinfühlig sind Sie ja nicht gerade.«

»Aber ein guter Gastgeber. Ihr Glas ist leer. Darf ich Ihnen nachschenken?«

»Ich bestehe darauf.«

Baruch füllte ihr Glas wieder. Bring ihn zum Reden. Denk dir irgendwas aus. Wenn sie es geschickt anfing, würde er vielleicht sogar für sie wesentliche Dinge erzählen.

»Sie sind doch selbst auch so ein Wahnsinniger, Baruch. Das war schon eine sehr verrückte Geschichte, die Sie im Jayhawk-System abgezogen haben.«

Jeremiel warf ihr einen forschenden Blick zu. Der Wechsel des Themas war ihm nicht entgangen. »Man hatte meine Leute interniert. Was hatten Sie denn erwartet, was ich unternehme?«

»Jedenfalls nichts so Spektakuläres. Sie greifen einen stark gesicherten Gefängnisplaneten mit sechs Kreuzern an, um zwei … zwei Menschen zu retten?«

»Ich mochte sie nun mal.«

»Ja, das muß wohl der Grund gewesen sein. Jedenfalls war Ihr Manöver um Antares Minor wirklich brillant.« Sie lächelte andeutungsweise und beobachtete ihn dabei genau.

Jeremiel erwiderte das Lächeln, doch ohne innere Beteiligung, ganz so, als hätte er ihr Vorhaben durchschaut. »Ich wußte gar nicht, daß Sie zu meinen Fans gehören, Lieutenant.«

Halloway zuckte die Schultern und betrachtete die kupferfarbenen Lichtreflexe, die ihr Glas über die schwarze Tischplatte warf.

Bei Antares Minor hatten sie seine Flotte mit einer Übermacht von fünf zu eins in einem Asteroidengürtel eingekesselt. Statt sich zu ergeben, wie es jeder vernünftige Kommandeur angesichts der sicheren Niederlage getan hätte, hatte Baruch vier seiner Schiffe an strategisch wichtigen Stellen postiert, heimlich die Mannschaften evakuiert und die Materie-Antimaterie Reaktoren mit einer Zeitschaltung auf Überlastung eingestellt. Anschließend war er mit seiner restlichen Flotte losgestürmt, um so schnell wie möglich die für einen Lichtsprung erforderliche Geschwindigkeit zu erreichen. Zwei seiner Schiffe hatten sie abgeschossen, bevor sie begriffen, daß es sich bei den stationären Einheiten um Köder handelte. Der gesamte Asteroidengürtel sowie fünfzehn magistratische Schiffe waren durch die Explosion vernichtet worden. Baruch hatte sechs Schiffe und zwei Mannschaften geopfert, um die restlichen sechs zu retten. Damit waren der Untergrund-Flotte insgesamt kaum mehr fünfzehn Schiffe geblieben.

»Bei diesem Manöver haben Sie fünfzigtausend Soldaten getötet«, erklärte Carey.

»Tatsächlich? Das tut mir leid. Ich hatte gehofft, es wären mehr gewesen.«

»Ich hoffe, Epagael wird Sie dieser Gedanken wegen in Aktariels Grube der Finsternis werfen.«

»Das bezweifle ich. Ich habe mir zumindest eine Woche im Siebten Himmel als Belohnung verdient.«

»Glauben Sie, der Erzengel Michael würde Sie hereinlassen? Falls ja, wären die Berichte über seinen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit stark übertrieben.«

Jeremiel rieb sich die Stirn. »In Ihrer Akte stand nichts darüber, daß Sie Expertin für Religionsfragen sind. Vielleicht sollten wir das Für und Wider von Sinlayzans rationalistischer Philosophie diskutieren?«

Carey biß die Zähne zusammen. Sie hatte stets ein – wie Tahn es ausdrückte – »ungesundes Interesse« an gamantischer Theologie gezeigt. Vielleicht würden sich die langen Stunden, die sie mit dem Studium überlieferter Texte verbracht hatte, jetzt endlich einmal auszahlen. »Wenn Sie möchten. Finden Sie nicht auch, daß seine Ansichten bezüglich der teleologischen Ethik ein wenig kurzsichtig wirken?«

Baruch lachte leise. »Sie überraschen mich wirklich, Lieutenant.«

»Beantworten Sie bitte meine Frage.«

»Kurzsichtig? Ein wenig schon, ja.«

»Mehr als nur ein wenig. Die Verwirklichung seiner philosophischen Thesen auf Secu IX im Jahr 5102 führte zur fast vollständigen Ausrottung der einheimischen Lebensform. Der Zweck heiligt nicht in jedem Fall die Mittel, Commander.«

»Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, doch es überrascht mich etwas, daß ausgerechnet ein magistratischer Offizier eine derart humane Ansicht äußert. Ihre übliche Vorgehensweise deutete jedenfalls nicht darauf hin …«

»Ihr Blickwinkel ist reichlich begrenzt, nicht wahr? Ihrer und der von Sinlayzan. Ist das eine typisch gamantische Eigenheit?«

Jeremiel setzte sein Glas ab und bedachte Carey mit einem Blick, als hätte er gerade auf einem Bazar ein von Maden wimmelndes Stück Fleisch entdeckt. Halloway nippte abermals an ihrem Glas, um ihren Mut zu stärken.

Baruch neigte den Kopf. »Lassen Sie mich meine Bemerkung verdeutlichen. Unter bestimmten Umständen kann der Zweck die Mittel heiligen. Beispielsweise bin ich bereit, zu lügen, zu betrügen und zu stehlen, wenn es mir dadurch gelingt, die Galaktischen Magistraten und ihr brutales Regime zu vernichten.«

»Und ich nehme an, Sie halten das für ethisch gerechtfertigt? All die unschuldigen …«

»Ich habe Millionen Angehörige meines Volkes unter Ihren Geschützen sterben sehen, Lieutenant. Wissen Sie, wie es ist, wenn man zusehen muß, wie alte Menschen, Frauen und Kinder von einem anonymen Schlächter niedergemetzelt werden, der sich jenseits des Himmels verborgen hält? Können Sie sich eigentlich vorstellen …«

Plötzliche Wut packte Carey. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch und erhob sich halb von ihrem Stuhl. »Sie haben gerade erst zweitausend Mitglieder meiner Mannschaft umgebracht, Baruch! Seien Sie nicht so verdammt selbstgerecht!«

Jeremiel beugte sich müde vor. »Und Sie haben im letzten Jahr vier unserer Planeten zerstört, Lieutenant. Meine Untergrundarmee tötet Soldaten, keine Kinder. Haben Sie denn niemals Gewissensbisse verspürt, wenn Sie unschuldige Menschen umbrachten?«

Unsicher ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken. »Keinem Soldaten gefällt es, Zivilisten zu töten, Commander.«

Jeremiel lehnte sich zurück und betrachtete sie forschend. »Nun, vielleicht gibt es doch noch ein paar menschliche Wesen in den Streitkräften der Magistraten.«

»Baruch, was haben Sie mit all den Flüchtlingen vor?«

»Ich werde sie irgendwo absetzen.«

»Und dann?«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich kann mir unschwer ausrechnen, daß Ihre Flotte sich bereits auf dem Weg hierher befindet.« Stimmt das? »Wenn sie eintrifft, werden Sie dann mich und meine Mannschaft anstelle der Magistraten hinrichten?«

»Gamanten sind keine Ungeheuer, Lieutenant, ganz gleich, was man Ihnen erzählt haben mag. Unsere Hörner und Hufe haben wir schon vor Jahrhunderten verloren. Evolution, wissen Sie?«

»Soll das heißen, Ihre Männer werden mich nicht vergewaltigen und mein Schiff plündern?«

»Erstens ist es nicht Ihr Schiff. Zweitens würden sie das vermutlich gern tun, aber ich werde es ihnen verbieten.«

»Wie galant von Ihnen.«

»Kommen wir zum Geschäft, Halloway. Sie haben um diese Unterredung gebeten. Was also wollen Sie?«

»Ich …« Carey reckte die Schultern und holte tief Luft. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Jeremiels Gesicht zeigte keine Regung, doch seine Augen blickten fragend, als überlege er, woher sie den Mut zu so einer Forderung nahm. »Tatsächlich? Wobei?«

Carey streckte die Hand nach der Flasche aus und füllte ihr Glas erneut. »Ich möchte, daß Sie die Schleusen auf Deck zwei öffnen.«

»Was bekomme ich im Gegenzug?«

Carey schluckte schwer. »Ich … ich werde meine Mannschaft anweisen, die Waffen niederzulegen. Und ich werde nach besten Kräften mit Ihnen kooperieren. Das ist übrigens genau das, was auch Cole vorhatte.«

»Wird Ihre Mannschaft Ihre Befehle befolgen?«

Carey hob den Kopf und blickte ihm fest in die Augen. »Ja.«

Jeremiel lächelte, als würde ihm das ganze Gespräch sehr viel Vergnügen bereiten. »Fassen wir noch einmal zusammen. Ich bringe Ihre Gegner um, und dafür werden Sie freiwillig meine Gefangene. Ist das so richtig?«

»Ja, Commander. Ich muß versuchen, soviele Mitglieder meiner Crew wie möglich zu retten. Sie haben gesagt, Sie würden uns heil und gesund auf dem nächsten gamantischen Planeten absetzen. Ich nehme an, Sie stehen weiterhin zu diesem Versprechen?«

»Ja, gewiß.«

»Dann haben wir also eine Übereinkunft?« Carey hielt unwillkürlich den Atem an.

»Sie werden auch Ihren wissenschaftlichen Stab anleiten, meine Leute zu unterstützen?«

»Selbstverständlich. Genau wie Tahn erklärt hat.«

Jeremiel leerte sein Glas und setzte es auf dem Tisch ab. »Ich werde die Schleusen öffnen.«

Carey atmete erleichtert aus und ließ sich zurücksinken. »Da ist noch eine Sache, Commander. In einem Wachraum auf Deck drei sind mehrere Verwundete untergebracht. Und Captain Tahn ist ebenfalls sehr krank und wird vielleicht sogar sterben. Wir brauchen medizinisches Personal. Bei der Dekompression haben Sie alle …«

»Wir haben zwei Ärzte in unserer Mannschaft. Einen davon schicke ich Ihnen in genau einer Stunde.«

»Ich muß mir wohl keine Sorgen machen, daß er Tahn im Schlaf ermorden will, oder?«

»Ich werde verlauten lassen, daß ich mir diese Aufgabe selbst vorbehalte. Brauchen Sie sonst noch etwas?«

»Die Erlaubnis, daß die Brückenmannschaft in ihre Kabinen zurückkehren kann. Sie …«

»Das wird nicht gestattet. Sobald sie sich offiziell ergeben haben, werden wir auf Deck sieben Unterkünfte für sie bereitstellen. Dann können sie auch ihre nichtmilitärischen Besitztümer zurückerhalten. Sie und Tahn werden weiterhin auf Deck vier bleiben.«

»Sie wollen uns von der Mannschaft trennen?« Carey lachte kurz auf. »Ihre Leute sind uns vier zu eins überlegen, und zudem bringen Sie ständig weitere Flüchtlinge an Bord. Was glauben Sie denn …«

»Selbst wenn das Verhältnis eine Million zu eins stünde, würde ich die gleichen Vorsichtsmaßnahmen treffen, Lieutenant.« Jeremiel stützte sich auf dem Tisch ab und erhob sich leicht schwankend. Trotz seiner physischen Erschöpfung war er eine imposante Erscheinung. Er bewegte sich mit einer verhaltenen Kraft und Geschmeidigkeit, die Carey beeindruckte. »Bitte halten Sie mich auf dem laufenden. Wenn ich noch etwas für Sie tun kann …«

»Dann lasse ich es Sie wissen, Commander. Danke, daß Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben.«

Halloway schob sich an Jeremiel vorbei, drückte auf den Türöffner und blickte in die Läufe der Wachtposten, die vor der Tür Stellung bezogen hatten.

 

Gen Abruzzi rieb sich das kantige Kinn, während er auf den jetzt leeren Frontschirm blickte. Er war ein Mann mittleren Alters mit einem langen, walnußbraunen Gesicht. Die schwarzen Augen saßen in dunklen Höhlen und blickten unter schwer herabhängenden Lidern hervor. Das graue, kurzgeschnittene Haar bedeckte seinen Kopf wie eine enganliegende Kappe. Er rutschte unbehaglich auf dem Kommandosessel hin und her und überdachte die Dinge, die Bogomil ihm mitgeteilt hatte. Oh, Brent hatte sich bemüht, unbesorgt zu klingen, als er die Scipio bat, ein Auge auf die Hoyer zu haben und zu melden, falls es dort zu ungewöhnlichen Aktionen käme. Aber es mußte mehr dahinter stecken. Cole würde niemals zulassen, daß eine Fehlfunktion den Funkverkehr für so lange Zeit lahmlegte. Kurzfristig mochte so etwas vorkommen, doch auf keinen Fall zehn Stunden lang. Und wer konnte abschätzen, wie lange die Störung schon vorgelegen hatte, bevor Bogomil versuchte, das Schiff zu erreichen.

Irgend etwas war an Bord der Hoyer vorgefallen.

Abruzzi beugte sich leicht vor und warf seiner Stellvertreterin einen Blick zu. Tenon Lamont, eine kleine, orientalisch wirkende Frau mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar, erwiderte seinen Blick besorgt. Offenbar hatte jeder auf der Brücke bedrohliche Vorahnungen. Falls tatsächlich jemand Cole eine Falle gestellt hatte, würden sie ihm natürlich zu Hilfe eilen. Doch das würde mit äußerster Vorsicht geschehen müssen – insbesondere dann, wenn es sich bei diesem »Jemand« um Baruch handelte. Dem verrückten militärischen Genie konnte man jederzeit irgendeine Verzweiflungstat zutrauen. »Lieutenant, wo befindet sich die Klewe im Moment?«

Lamont überprüfte die Monitordaten und drehte sich dann um. »Sie müßte eigentlich gerade eine Hilfslieferung in Sektor drei verteilt haben. Soll ich Captain Erinyes anfunken?«

»Welchen Kurs hat er für die nächsten Wochen angegeben?«

Tenon drückte ein paar Tasten auf ihrer Konsole. »Er durchquert Sektor zwei, um nach Sektor vier zu gelangen, wo er Gouverneur Puyo auf Komati strategische Unterstützung leisten soll. Offenbar braut sich im Mysore System ein Bürgerkrieg zusammen.«

Abruzzi schürzte abschätzig die Lippen. Strategische Unterstützung. Lieber Himmel. Vermutlich wollte Erinyes lediglich die politischen Probleme ausnutzen, um sich selbst in Szene zu setzen. Gerüchten zufolge wollte er sich bei der nächsten Wahl für einen Sitz im militärischen Beirat der Magistraten aufstellen lassen. Erinyes Onkel Nafred, ein angeberischer Schmalspurpolitiker, gehörte diesem Gremium bereits an – der Grund dafür, daß die Klewe seit zwanzig Jahren an keinem Gefecht mehr teilgenommen hatte. Noch schlimmer war allerdings, daß Erinyes nur selten dort anzutreffen war, wo er sich laut Flugplan eigentlich aufhalten sollte. Es mochte durchaus sein, daß die Klewe sich genau in diesem Moment in einem Dock auf Palaia befand. Wer immer es wagen sollte, seinen Flugplan ohne entsprechende Rückmeldung abzuändern, mußte mit einem gehörigen Anpfiff durch das Oberkommando rechnen – nur Erinyes kam stets ungeschoren damit durch.

Abruzzi zögerte. »Nein, wir warten besser noch ab. Laut seinem Einsatzplan ist er in den nächsten Tagen nie weiter als ein paar Flugstunden von uns entfernt. Wir können ihn also jederzeit rufen, falls wir Tahn aus irgendeiner Patsche retten müssen.«

»Aye, Sir.«

»In der Zwischenzeit überwachen Sie weiterhin die Hoyer. Ich möchte sofort informiert werden, wenn sie einen Funkspruch abstrahlen. Im Moment sind wir noch zu weit entfernt, als daß sie uns mit ihren Scannern erfassen könnten. Aber sobald wir näher herankommen, nehmen wir einen Kurs, auf dem uns Horebs Sonne Deckung bietet.«

Abruzzi lehnte sich in seinem Sessel zurück und rieb sich abermals das Kinn. »Wir werden uns erst bemerkbar machen, wenn wir genau wissen, was dort vor sich geht.«

 

Carey saß reglos im Kommandosessel auf der Brücke. Vor genau vierundzwanzig Stunden hatte Baruch die Hoyer übernommen – doch es kam ihr so vor, als wären Jahrhunderte verstrichen. Ihre purpurne Uniform war zerrissen und blutbefleckt, und ihre Augen blickten müde und glanzlos, als sie ihre Mannschaft betrachtete. Baruch hatte die Schleusen auf Deck zwei vor einer Stunde geöffnet. Nachdem sie wieder geschlossen waren, hatte sie das Deck zusammen mit einem Sicherheitsteam persönlich überprüft. Sie hatten keine Spur der Geheimdienstler mehr gefunden. Dennoch konnte Carey nicht sicher sein, daß nicht doch einige im letzten Moment entkommen waren. Außerdem hatte Baruch die schiffsinterne Kommunikation für sie freigeschaltet, damit sie ihren Teil des Abkommens erfüllen konnte – was sie jedoch bisher noch nicht getan hatte.

Sie brauchte nicht die Zustimmung der Brückenoffiziere, um der Mannschaft zu befehlen, die Waffen niederzulegen, doch ihre Unterstützung mochte sich als hilfreich erweisen. Bis Tahn das Bewußtsein zurückerlangte, konnte sie jede Hilfe brauchen, die sie kriegen konnte.

Rich Maceys Wangen waren gerötet, als er vor dem leeren Frontschirm auf und ab ging. Die übrigen sieben Offiziere hockten über die Konsolen gebeugt da. Ihre Mienen verrieten Unsicherheit und Zweifel. Hera trommelte nervös mit einem Stift auf ihr Pult.

»Wir haben keine andere Wahl«, erklärte Carey.

»Als aufzugeben?« rief Macey empört. Seine blauen Augen waren weit aufgerissen. »Was, zum Teufel, ist hier eigentlich los? Erst läßt Tahn zu, daß man die Mannschaft abschlachtet, und dann schließen Sie mit Baruch einen Handel ab …«

»Tahn hat nicht zugelassen, daß man die Mannschaft abschlachtet, Lieutenant«, sagte Carey kalt. »Ich kenne ihn schon doppelt so lange wie Sie, und ich weiß, daß er mehr als einmal sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um die Mannschaft zu retten. Niemand trägt die Schuld daran, daß wir die Hoyer verloren haben. Baruch hat uns ausgetrickst, das ist alles.«

»Ausgetrickst«, knurrte Macey feindselig. »Klar. Meine Freunde sind tot, Halloway! Ich kann nicht …«

Er hielt inne, als er sah, wie Hera den Stift fallen ließ, ihr Gesicht in den Händen verbarg und unterdrückt schluchzte. Ihr Ehemann Kevin wurde noch immer vermißt und war höchstwahrscheinlich tot.

Carey umklammerte die Armlehnen des Sessels. »Ich schlage nicht vor, daß wir aufgeben, Macey. Ich schlage vor, so zu tun, als würden wir kooperieren – was zudem genau Tahns Wünschen entspricht. Wenn Baruch erst überzeugt ist, daß wir uns friedlich mit der Situation abgefunden haben, können wir uns reorganisieren. Und sobald Tahn wieder auf den Beinen ist …«

»Was?« rief Macey empört. »Nach allem, was geschehen ist, wie sollen wir ihm da jemals wieder vertrauen? Ich jedenfalls habe kein Vertrauen mehr zu ihm.«

Carey betrachtete die Gesichter der übrigen Brückenoffiziere. Ein paar schauten weg und versuchten zu verbergen, daß sie mit Macey übereinstimmten. Andere erwiderten ihren Blick ganz offen und bekundeten so, daß sie letzten Endes doch loyal zu ihr und Tahn standen. Doch wie sah das Verhältnis aus? Was würde herauskommen, wenn sie über die Frage abstimmen ließe? Spielt doch gar keine Rolle. Du wirst der Mannschaft so oder so befehlen, die Waffen niederzulegen. Dir bleibt gar keine andere Wahl. Wenn du den Vertrag mit Baruch brichst, muß er nichts weiter tun, als die Sauerstoffversorgung der Brücke abzuschalten. Aber wenn du die Abstimmung verlierst und trotzdem deinen Willen durchsetzt, mußt du damit rechnen, daß jeder, der gegen dich gestimmt hat, nur darauf wartet, dir ein Messer in den Rücken zu stechen … dir und Tahn.

Ohne eine Miene zu verziehen, erklärte Carey: »Ich habe die Absicht, das Schiff zurückzuerobern. Aber das geht nur, wenn wir uns einig sind. Solange wir in einzelne Gruppen zerfallen, die sich gegenseitig an die Kehle wollen, haben wir keine Chance. Also, wer steht auf meiner Seite?«

Heras Hand hob sich sofort. Langsam folgten andere. Schließlich waren sechs auf ihrer Seite. Lediglich Macey und Jim Reno hatten ihre Zustimmung verweigert. Carey atmete erleichtert auf und erwiderte Maceys feindselige Miene mit einem eisigen Blick.

»Ich informiere jetzt die Mannschaft«, sagte Carey und drückte die Interkom-Taste auf der Armlehne.

 

Neil Dannon verbarg sich in der Dunkelheit unter einer Reihe von Röhren. Das leise Zischen von Dampf umgab ihn. Der vergangene Tag war die reine Hölle gewesen. Verzweifelt war er von einem Deck zum nächsten gekrochen und vor jedem Laut zurückgeschreckt. Mindestens ein Dutzend Männer waren ihm auf den Fersen gewesen. Er hatte sie gezählt, indem er auf die unterschiedlichen Geräusche achtete, die ihre Stiefel verursachten, und sich ihre Stimmen merkte, wenn sie etwas sagten.

Die Kampfhandlungen hatten offenbar aufgehört, denn mittlerweile trieben sich auf sämtlichen Decks bis hinauf zur Brücke gamantische Soldaten herum. Und er müßte ständig in Bewegung bleiben.

Von allen Seiten drang Kälte auf ihn ein. Dannon schauderte, rollte sich zu einer Kugel zusammen und versuchte zu schlafen, doch die Kälte drang mühelos durch seine verschlissene Uniform.

Unbewußt tastete er nach dem heiligen Dreieck, das er stets an einer Kette um den Hals trug. Doch jetzt suchten seine Finger vergeblich danach. Dannon stieß einen zittrigen Seufzer aus. Er mußte es irgendwann auf seiner Flucht verloren haben. War das vielleicht ein Zeichen? Immerhin hatte Jeremiel es ihm einst gegeben. Jeremiel …

Neil drehte sich auf die andere Seite und drückte sich mit dem Rücken gegen eine der Röhren. Allmählich wurde ihm etwas wärmer. Er fiel in Schlaf. Und langsam kamen die Bilder …

Wieder rief ihn die Stimme, die er seit Monaten in seinen Alpträumen vernahm.

»Neil? Um Gottes willen, Neil, steh auf!«

Suriel. Rabbah-System. Vor fünfzehn Jahren. Runde Habitatkuppeln säumten die Straßen. In ihrem Innern konnte man weinende Menschen sehen, die auf die blutigen Leichen hinausblickten, die nach und nach vom Schnee bedeckt wurden. Schwarze Schiffe hingen wie tödliche Schatten in der Luft über der Stadt. Lichter flammten rhythmisch auf, als ihre Instrumente den Boden absuchten.

»Ich habe ihn getroffen, Jeremiel. Ich hab ihn erwischt.«

Sein Bein reagierte nicht mehr, und auf dem Oberschenkel zeigte sich eine klaffende Wunde, aus der das Blut heiß herausströmte. Dannon stützte sich auf die Ellbogen und schob sich ein Stück vorwärts, bis seine Kräfte ihn endgültig verließen.

»Neil?«

Baruch kehrte zu ihm zurück und feuerte die Straße hinab, um ihm Deckung zu geben. Neil schloß die Augen vor dem blendenden Strahl und spürte, wie ein kräftiger Arm sich um seine Schultern legte und ihn hochzuziehen versuchte. Abermals erklang ein Schuß.

»Neil, hilf mir. Halte dich an mir fest. Versuch zu stehen!«

»Ich kann nicht. Jeremiel, mach daß du hier verschwindest. Los!« Dannon versuchte, seinen besten Freund von sich fortzustoßen.

Dann erblickte er die magistratischen Soldaten, die in ihre Richtung vorrückten, und die Angst wühlte in seinen Eingeweiden. Verdammt, es waren so viele. Der Untergrund hatte eine Rechtsschule überfallen, um die Kinder dort zu befreien, doch irgend etwas war schiefgegangen – irgendein Teil des Plans hatte nicht funktioniert.

»Jeremiel, um Himmels willen, lauf weg!«

»Ich lasse dich hier nicht zurück, Neil. Verdammt, steh endlich auf, sonst bringen sie uns beide um.« Jeremiel hob die Pistole und feuerte auf die Soldaten, die wie eine purpurne Woge heranstürmten. »Halt dich an mir fest, Neil. Mach schon. Los!«

Zitternd legte Neil einen Arm um Jeremiels Schultern und spürte, wie der Mann ihn am Kragen seines Kampfanzugs hochzog und ihn stützte, als sie um eine Ecke bogen und taumelnd in eine dunkle Gasse liefen.

Nachdem sie eine Weile verstohlen durch die Straßen geschlichen waren, hatte Jeremiel ihn schließlich zu einem baufälligen, schon lange verlassenen Gebäude am Rande der Stadt gebracht und ihn vorsichtig auf dem harten Fußboden abgesetzt. Dann hatte er seinen Kampfanzug geöffnet, das weiße Hemd ausgezogen, das er darunter trug, und es in Streifen gerissen.

»Spürst du noch Schmerzen?«

»Schmerzen?« fragte Neil ungläubig zurück. »Mein ganzer Körper scheint in Flammen zu stehen.«

Jeremiel lächelte breit und meinte: »Gut. Dann spürst du vielleicht gar nicht, was ich jetzt mache.«

Während der nächsten Minuten bemühte sich Neil, die Schmerzensschreie zu unterdrücken, als Jeremiel die Wunde an seinem Bein verband.

Dannon erwachte mit einem heiseren Gelächter, hob den Kopf und starrte in die Dunkelheit. Widerstreitende Gefühle kämpften in seiner Brust, und er versuchte wütend, die alten Empfindungen zu verdrängen.

Er zwang sich, an die Geschehnisse auf den unteren Decks zu denken. Aus einer Bemerkung seiner Verfolger hatte er erfahren, daß Jeremiel Tausende von Flüchtlingen an Bord schaffen ließ.

»Wie steht’s denn so, Jeremiel? Gleitet dir langsam alles aus der Hand? Oder hältst du noch eine Weile länger durch?«

Neil ballte wütend die Fäuste. Er mußte genau Bescheid wissen. Er mußte nach unten gehen und sich selbst ein Bild über die Lage machen, sonst würde er hier noch durchdrehen. Wenn es ihm gelang, einem der Flüchtlinge ein paar Kleider zu stehlen, konnte er sich unter die Leute mischen und herausfinden, was, zum Teufel, Baruch vorhatte – und welche Schwächen sein Plan aufwies.

Dannon nahm allen Mut zusammen und kroch vorwärts.

 

Rachel beobachtete, wie der hell erleuchtete Hangar langsam ihr Blickfeld ausfüllte. Die Sekunden schienen sich endlos zu dehnen, bis schließlich ein leises Kratzen verkündete, daß ihr Schiff aufgesetzt hatte.

Rachel löste die Sicherheitssperren, sprang auf und eilte zur Tür, wo sie auf den Piloten und den Copiloten traf.

»Treten Sie bitte zur Seite, Miss Eloel. Wir müssen erst den Hangar überprüfen, bevor Sie aussteigen können. Anweisung von Baruch.«

»Ich verstehe«, sagte Rachel zögernd und wich an die Wand zurück, während die Männer verschiedene Knöpfe drückten. Der Landesteg wurde ausgefahren und die Tür öffnete sich. Sanders, der Pilot, schritt vorsichtig hinaus. Bakon blieb zurück, um Rachel und das Schiff zu schützen.

Die Gerüche von schalem Schweiß, Schmutz und Reinigungsmitteln trieben durch die geöffnete Tür ins Schiffsinnere. Rachel erinnerte sich an Aktariels Warnung und rief plötzlich: »Wo ist der Waffenschrank? Ich brauche eine Pistole.«

Bakon musterte sie von oben bis unten. Sein Gesichtsausdruck verriet deutlich, daß er sie für ziemlich durchgedreht hielt. »Ich beschütze Sie doch, da brauchen Sie keine …«

»Niemand außer mir selbst beschützt mich, Mister. Wo sind die Waffen?«

Er deutete auf ein Fach in der gegenüberliegenden Wand. »Bitte bedienen Sie sich.«

Rachel durchquerte die Kabine und drückte auf den Öffner. Sie ließ den Blick über die Waffen wandern, entschied sich schließlich für eine Impulspistole und befestigte sie an ihrer Hüfte. Mit geübten Bewegungen zog sie die Waffe und überprüfte die Ladung.

Bakon streckte den Kopf zur Tür hinaus, nickte und wandte sich dann an Rachel. »Alles in Ordnung, Miss Eloel.«

Draußen erklang eine helle Stimme. »Mommy?«

Rachel fuhr herum und rannte die Laufplanke hinab. Der Hangar war leer, abgesehen von einer Reihe aufgestapelter Kisten und einer Gruppe von Menschen, die sich in der Mitte versammelt hatten. Sybil rannte mit weit aufgerissenen Augen und wehenden braunen Locken auf sie zu. In ihrer langen, orangefarbenen Robe wirkte sie wie ein kleiner Flammendolch.

»Sybil?«

»Mommy! Mommy!«

»Oh, mein Baby!« Rachel breitete die Arme aus, eilte auf ihre Tochter zu, schloß sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Du hast mir so sehr gefehlt.«

»Ich dachte, du wärst tot, Mom«, flüsterte Sybil. Sie umklammerte Rachels Hals mit aller Kraft. »Ich habe immer wieder versucht, jemand zu finden, der mich zu dir bringt, aber niemand wollte das tun. Ich hatte solche Angst.«

»Ich weiß, Liebes. Mir ging es genauso. Aber jetzt ist ja alles wieder gut.« Sie strich ihrer Tochter sanft über das Haar. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung. Ich liebe dich. Wie lange bist du schon hier? An Bord des Schiffes, meine ich.«

»Ein paar Stunden. Ari und Yosef haben sich um mich gekümmert.«

Sanders, Bakon, Funk und Calas waren herangekommen und bildeten jetzt einen Kreis um die beiden. Die Soldaten beobachteten noch immer sorgfältig den Hangar und hielten ihre Gewehre schußbereit.

»Es ist schön, Sie wieder bei uns zu haben, Rachel«, sagte Yosef leise und klopfte ihr auf die Schulter. Er schien noch kahler und kleiner zu sein als bei ihrer letzten Begegnung. Funk hingegen schien gewachsen zu sein, und auch sein wirres graues Haar wirkte dichter als sonst. Beide trugen graue Overalls, in denen sie noch älter aussahen, als sie tatsächlich waren.

Rachel holte tief Luft. »Ich hatte eigentlich gedacht, Jeremiel würde mich hier abholen.« Sie warf Calas einen fragenden Blick zu.

Er zuckte die Achseln und hob entschuldigend die Hände. »Das dachte ich auch. Vielleicht wurde er irgendwo aufgehalten.«

»Vermutlich. Nun, er wird sich schon melden. Hat jemand eine Kabine für mich und Sybil vorbereitet?«

»Das hat einer von den Sicherheitsleuten erledigt«, antwortete ihre Tochter. »Wir haben die Zimmernummer 1901. In dem Raum gibt es einen Automaten, der einen mit Suppe und Getränken bewirft.« Sybil demonstrierte lachend, wie das vor sich ging. Ihr helles Lachen bohrte sich tief in Rachels wunde Seele.

Sie umarmte ihre Tochter wieder und wischte ihr die Tränen von den Wangen, bevor sie sich erhob. »Mr. Calas, Mr. Funk, ich danke Ihnen, daß Sie sich so um meine Tochter gekümmert haben. Ich werden Ihnen das nie …«

»Ach, das ist doch nicht der Rede wert«, erwiderte Yosef und schob seine Brille hoch. »Wir sollten jetzt nach drinnen gehen, dort ist es wärmer.«

Rachel betrachtete den alten Mann prüfend. Die Besorgnis in seinem Gesicht war kaum zu übersehen. Während sie dem Ausgang zustrebten, fragte sie: »Ist die Lage hier wirklich so schlimm?«

»Ich glaube schon, obwohl Jeremiel solche Dinge nicht in aller Öffentlichkeit bespricht.«

»Ja, das kann ich mir denken. Hat er inzwischen Kontakt zu seiner Flotte aufgenommen?«

»Das ist wieder eine andere Geschichte, fürchte ich. Offenbar ist der Funkverkehr zum Erliegen gekommen, soweit es den Untergrund betrifft. Er kann nicht einmal seine Einheiten auf Tikkun erreichen.«

Rachel ließ sich von Yosef durch einen kleinen Vorraum führen, dann in einen Aufzug und schließlich einen langen, weißen Korridor entlang. Überall liefen Menschen in den unterschiedlichsten Uniformen oder bunt zusammengestellter Kleidung herum. Sanders und Bakon deckten ihnen den Rücken. Sie hielten ihre Gewehre noch immer schußbereit.

Als sie um eine Ecke bogen, ließ Sybil ihre Mutter los und lief voraus bis zur Kabine 1901. Dort stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte auf den Türöffner. Die Tür glitt zur Seite und Rachel erhaschte einen Blick auf das schwach erleuchtete Innere.

»Hier ist es, Mom. Komm her, dann zeige ich dir, wie der Automat funktioniert.« Sybil verschwand im Innern der Kabine.

Yosef blieb stehen und sagte: »Gehen Sie nur. Sie und Ihre Tochter müssen sich jetzt neu aneinander gewöhnen. Ari und ich haben Kabine 1909. Rufen Sie uns, wenn Sie irgend etwas brauchen.«

»Das mache ich, Yosef …«

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie sechs Männer, die mit gezogenen Pistolen um die Ecke stürmten. Instinktiv schrie sie: »In Deckung!«

Funk warf sich auf Calas und riß den alten Mann zu Boden. Das schrille Heulen feuernder Gewehre donnerte durch den Flur, und ein Netz tödlicher Strahlen durchzuckte die Luft. Sanders stürzte mit aufgerissener Kehle zu Boden.

»Gehen Sie in die Kabine!« brüllte Bakon.

Rachel versuchte zurückzukriechen, doch Sanders Leiche versperrte ihr den Weg. Sie zog ihre Pistole und feuerte wild auf die Angreifer. Calas und Funk schlüpften in die Kabine. Ein junger Mann mit schütterem braunem Haar rannte vorwärts, sprang über die Leichen und rief: »Du hat den Mashiah getötet! Im Namen von Adom Kemar Tartarus!« Sein Gewehr spie einen purpurroten Strahl aus.

Bakon stürzte gegen Rachel und drückte sie so fest gegen die Wand, daß sie beinahe ihre Pistole verloren hätte. Aus der Deckung der Leiche heraus feuerte Rachel auf den fanatischen Attentäter und schnitt ihn in zwei Hälften. Der letzte der Angreifer flüchtete lautlos. Aus dem Innern des Zimmers hörte Rachel Sybil schreien. »Mommy? Komm, Ari, wir müssen meiner Mutter helfen!«

»Sybil, du bleibst brav hier!« antwortete Funk mit strenger Stimme.

Schwer atmend starrte Rachel auf die zerfetzten Leichen, die den Korridor bedeckten. Sie war von den Worten des Angreifers wie betäubt und wartete furchterfüllt, was als nächstes geschehen mochte. Doch niemand näherte sich diesem Abschnitt des Schiffes.

»Rachel?« rief Yosef. »Schnell, kommen Sie herein. Rachel?«

Eine zerbrechliche, alte Hand packte Rachels Ärmel und zog sie nach hinten. »Nein, nein. Warten Sie.« Rachel riß sich los und sammelte sämtliche Waffen auf, die im Flur herumlagen.

Dann zog sie sich in die Kabine zurück und drückte auf den Knopf, der die Tür schloß. Sybil rannte zu ihr und klammerte sich an ihrem Bein fest.

Yosef betrachtete sie besorgt. »Setzen Sie sich, Rachel. Ich werde die Tür verriegeln. Und dann rufe ich Jeremiel an, um herauszufinden, was hier vorgeht.«

»Ja. Ru … rufen Sie ihn an«, flüsterte Rachel, war aber noch viel zu aufgeregt, um sich setzen zu können. Statt dessen wich sie bis zur Zimmermitte zurück, den Blick fest auf die Tür gerichtet, als erwarte sie jeden Moment, einen weiteren Verrückten hereinstürmen zu sehen.

Er hatte ihr gesagt, sie solle sich bewaffnen. Er hatte sie gewarnt …

Als ihr die volle Wahrheit dämmerte, setzte die Reaktion ein und sie begann unkontrolliert zu zittern.

»Rachel«, sagte Ari ernst. »Geben Sie mir die Gewehre. Und setzen Sie sich. Ich werde die Tür bewachen.«

»Nein … ich … ich …«

»Ist schon in Ordnung. Ich kann gut mit Gewehren umgehen.« Er nahm ihr die Waffen ab und führte sie zu einem Sessel, wo sie Platz nahm. Zögernd legte sie die Pistole auf den Tisch neben sich.

Sybil kletterte auf Rachels Schoß und legte die Arme um ihren Hals. »Mommy, war die Schießerei wegen dir?«

»Ich weiß nicht.« Jemand, der Adom liebte. Sie zog Sybil an die Brust und küßte ihr die dunklen Locken.

Sybil vergrub das Gesicht in Rachels langen schwarzen Haaren. »Ich hab dich lieb, Mommy.«

Yosef stand am Interkom und gab eine Reihe von Zahlen ein. »Jeremiel? Hier ist Yosef Calas. Bist du da?«

Eine andere Stimme erklang aus dem Lautsprecher, eine Stimme, an die Rachel sich vage erinnerte. »Yosef? Hier ist Avel Harper. Ich fürchte, Jeremiel ist in einer dringenden Angelegenheit unterwegs. Es gab eine Reihe von Toten auf Deck sechs. Offenbar ist der Bürgerkrieg mit an Bord gekommen. Ist Rachel sicher ins Schiff gelangt?«

Yosef blickte zu Rachel hinüber und runzelte die Stirn. »Sie ist in Sicherheit. Aber ich fürchte, wir hatten ganz ähnliche Probleme. Wir sind von sechs Männern angegriffen worden. Der Flur vor ihrer Kabine ist mit Leichen bedeckt. Schicken Sie bitte ein Sicherheitsteam auf diesen Korridor.«

Es folgte eine kurze Pause, und Rachel hörte, wie Harper tief aufseufzte. »Wird sofort gemacht. Und sagen Sie Rachel, sie soll keinen Fuß vor die Tür setzen, bis Jeremiel persönlich dort auftaucht. Verstanden?«

Yosef schaute zu Rachel hinüber. Sie nickte. »Wir haben verstanden. Können wir sonst noch etwas tun?«

»Nein. Ich vermute, Jeremiel wird noch eine Weile beschäftigt sein. Warum schlagen Sie Rachel nicht vor, sich ein wenig hinzulegen? Ich werde Jeremiel das gleiche empfehlen. Er kann sich kaum noch auf den Füßen halten.«

»Das ist eine gute Idee. Sobald der Sicherheitstrupp hier eingetroffen ist, kommen Ari und ich auch zu seiner Kabine. Vielleicht können wir ihn ja gemeinsam überzeugen.«

»Mir ist jede Hilfe willkommen. Meine besten Wünsche an Rachel und Sybil. Wir sehen uns bald. Harper Ende.«

Yosef drückte auf die Kontrolltasten, und Rachel schaute verwirrt zu ihm auf. Ihr Körper, eben noch durch das Adrenalin aufgepeitscht, wirkte plötzlich völlig erschöpft und kraftlos.

»Sybil«, sagte Yosef leise, »warum holst du deiner Mutter nicht etwas Suppe.«

Das Mädchen nickte und rutschte vom Schoß ihrer Mutter herunter. Ihre Augen waren noch immer furchtsam aufgerissen, als sie zum Automaten hinüberging.

Die Stille senkte sich wie eine bleierne Decke auf Rachels Schultern. Ari und Yosef standen auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und sprachen leise miteinander. Rachels Blick glitt ziellos durch den Raum. Es war ein kleines, kompaktes Zimmer. Die beiden Betten nahmen schon die ganze Rückwand ein. Daneben stand ein Schreibtisch mit einem Computerterminal, dessen Cursor regelmäßig blinkte. Sie hatte eine gewisse Vorstellung davon, wie man mit Computern umging. Selbst auf Horeb hatte es ein paar von diesen Geräten gegeben. Ein Tisch und zwei Sessel vervollständigten die Einrichtung.

Sybil kehrte mit zwei Suppentassen vom Automaten zurück, setzte sie auf dem Tisch ab und drückte dann abermals zwei Knöpfe an dem Gerät.

»Warte nur, bis du das hier probiert hast, Mommy. Ari hat mir vor ein paar Stunden etwas davon gegeben. Ist wirklich gut. Und danach geht es dir gleich besser.«

Ein angenehm würziger Duft stieg von den Tassen auf. Rachel hatte zwar keinen Hunger mehr, tauchte aber trotzdem den Löffel ein. »Sehr lecker. Was ist das?«

»Ari sagt, die Magistraten nennen es orionische Pilzsuppe.« Sybil lächelte liebevoll zu Funk hinüber. »Pilze sind kleine Pflanzen, die in der Dunkelheit wachsen. Ich nehme an, sie werden gemahlen und dann ins Wasser geworfen, um daraus Suppe zu machen.«

Vorsichtig holte Sybil zwei weitere Tassen aus dem Automaten und brachte sie zu ihrer Mutter hinüber. Rachel streckte die Hand aus und streichelte ihrer Tochter sanft die Wange. Dabei fiel ihr eine Narbe unter der linken Augenbraue auf. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Wann hatte Sybil sich diese Narbe zugezogen? Merkwürdig, daß sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Dabei kannte sie Sybils Körper besser als ihren eigenen. Sie schob die aufkeimende Besorgnis beiseite und widmete ihre Aufmerksamkeit der anderen Tasse. »Was ist das?«

»Einfach nur Tee. Aber er schmeckt so ähnlich wie der Grastee, den wir daheim immer gemacht haben, nur etwas erdiger.«

Rachel probierte das Gebräu. Es hatte einen kristallinen Geschmack, ähnlich fein und süß wie Zuckerwatte. »Oh, das schmeckt ja großartig.«

Sybil zog ihren Sessel so dicht an den der Mutter heran, daß ihre Knie sich beim Sitzen berührten. Das helle Licht der Deckenlampen überzog ihre orangefarbene Robe mit einem silbernen Schimmer, der bei jeder ihrer Bewegungen in kaum sichtbaren Wellen über den Stoff lief.

»… zu viele Flüchtlinge an Bord«, hörte sie Funk flüstern.

Calas erwiderte: »Jeremiel kann die Menschen nicht einfach auf dem verwüsteten Planeten zurücklassen. Die Flammen haben doch alles vernichtet.«

Rachel versuchte sich vorzustellen, wie die Hauptstadt Seir jetzt aussah. Die karminroten Sandsteinfelsen mußten zu einem glatten, blutroten See zerschmolzen sein. Plötzlich wurde ihr heiß, und der Gestank des Todes erfüllte ihre Nase. Erinnerungen an den Holocaust auf jenem Platz tauchten aus ihrem Gedächtnis auf, weinende, verdurstende Menschen, und ein alter Mann, der schrie: »Gamanten, hört mir zu! Ich sehe ein Meer von Blut über uns hereinbrechen! Ein Meer aus brennendem Blut! Könnt ihr es denn nicht sehen?« Er deutete zu den Bergen hinüber, deren Spitzen im Licht des Sonnenuntergangs kastanienbraun leuchteten. »O mein Gott! Wir können nicht entkommen!«

Rachel senkte den Kopf. Die Prophezeiung hatte sich bewahrheitet.

Die Türsprechanlage summte. »Mister Calas? Hier ist Chris Janowitz. Sind Sie dort drin?«

Yosef ging zur Tür und drückte auf den Öffner. Die Tür glitt beiseite. In der Öffnung stand ein untersetzter blonder Mann, dessen ganze Haltung um Verzeihung für die Störung zu bitten schien. Er warf einen raschen Blick auf Rachel und wandte sich dann an Calas. »Ist jemand verletzt?«

Yosef schüttelte den Kopf, packte Janowitz’ Ärmel und zog den Mann ins Zimmer. »Nur die Männer dort draußen haben was abgekriegt. Kommen Sie herein, dann mache ich Sie mit Rachel Eloel und ihrer Tochter Sybil bekannt.«

Rachel war zu müde, um aufzustehen, deshalb bildete sie nur mit den Händen das Zeichen des heiligen Dreiecks. »Vielen Dank, daß Sie so rasch gekommen sind, Mr. Janowitz.«

Janowitz nickte und erwiderte den Gruß. »Es tut mir leid, daß wir Sie nicht direkt im Hangar abgeholt haben, Ma’am. Wir wußten nicht …«

»Das ist schon in Ordnung. Ich verstehe, daß es hier recht hektisch zugeht. Werden Sie die ganze Nacht über meine Tür bewachen?«

»Das Team wird ständig hier sein. Sie können unbesorgt schlafen. Die Posten werden direkt vor der Tür stehen.« Er lächelte ihr ermutigend zu und ging wieder auf den Flur hinaus.

Funk und Calas folgten ihm. Bevor er die Tür schloß, wandte Yosef sich noch einmal um und rief: »Rachel, hier draußen stehen zwanzig Wächter. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen mehr zu machen. Außerdem kommen wir auch bald wieder zurück.«

Funk winkte Sybil zu und sie winkte zurück.

»Gute Nacht, Yosef.«

Er lächelte väterlich. »Gute Nacht.«

Die Tür schloß sich, und Sybil und Rachel blickten einander an. »Ich liebe dich, Kleines.«

»Ich liebe dich auch, Mom.«

Als sie mit dem Essen fertig waren, blieben sie eine Weile sitzen, betrachteten sich gegenseitig und berührten sich ab und zu, als wollten sie sich vergewissern, daß der andere auch wirklich dort war. Schließlich lehnte Rachel sich zurück, lächelte Sybil an und meinte. »Du bist viel hübscher, als ich dich in Erinnerung hatte.«

Sybil errötete. »Mom? Ich habe Jeremiel hier noch nicht getroffen, aber Ari hat mit ihm über des Interkom geredet, und er hat gesagt, daß du ein Held bist. Er will dir einen Orden verleihen, weil du durch den Tod des Mashiah Tausenden auf Horeb das Leben gerettet hast.«

Rachels Lächeln schwand, und Tränen traten in ihre Augen. Sie versuchte sie fortzublinzeln, bevor Sybil sie bemerkte. »So? Hat er das gesagt?«

»Ja. Ich bin sehr stolz auf dich, Mom. Ich und alle anderen auch.«

Bilder von Adoms hübschem Gesicht quälten sie. An ihrem letzten gemeinsamen Tag hatte er sie in dem großen Bett sanft in die Arme genommen und ihr ins Ohr geflüstert, wie sehr er sie liebte. Sein scheues Lächeln und die großen blauen Augen nahmen einen ganz besonderen Platz in ihrer Seele ein. Einen Orden? Für den Mord an einem unschuldigen Mann?

All die Müdigkeit, die Rachel bisher verdrängt hatte, wuchs plötzlich zu einer unerträglichen Last an. »Liebes? Ich glaube, ich gehe jetzt unter die Dusche und lege mich dann schlafen. Kommst du mit in mein Bett, wenn ich mich in das untere lege? Ich möchte dich gern im Arm halten, so wie früher, vor dem Krieg. Ja?«

Sybil trank ihren Tee aus und rannte zum Bett hinüber, um die Laken aufzuschlagen. Dann zog sie das orangefarbene Gewand über den Kopf und stand in Hemd und Unterhose da. »Ich habe davon geträumt, daß du mich im Arm hältst, Mom. Vielleicht kann ich dann endlich die ganze Nacht durchschlafen. In den letzten Monaten habe ich nicht besonders gut geschlafen.« Sie setzte sich aufs Bett und wartete ungeduldig.

Rachel erhob sich aus dem Sessel und zog sich aus. Als sie das Mea vom Hals nahm, betrachtete sie für einen Augenblick seine stumpfe, glanzlose Oberfläche. Tot, hatte Aktariel gesagt.

Sie legte es vorsichtig auf den Tisch und ging ins Bad.

Sybil schaute zu, wie ihre Mutter im Badezimmer verschwand, wartete ab, bis die Dusche wie strömender Regen rauschte, stand dann auf und ging vorsichtig zu der Halskette hinüber. Sie sah zwar anderes aus, aber Sybil war trotzdem fast sicher, daß es sich um die gleiche Kette handelte, die in jenem sonderbaren Traum eine Rolle gespielt hatte, den sie in den Höhlen der Wüstenväter gehabt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit Avel Harper über den Traum gesprochen hatte.

»Hast du jemals eine Halskette gesehen, die wie eine Lampe leuchtet, Avel?«

Er hatte sie neugierig angelächelt. »Nein, aber es klingt sehr nach dem berüchtigten Mea. Wo hast du davon gehört?«

Sie hatte es ihm nicht erzählt, weil die Erwachsenen sie immer wegen ihrer sonderbaren Träume aufzogen und sie sich dann dumm vorkam.

Sybil schüttelte den Kopf und betrachtete die Kugel. In jenem Traum war sie viel älter als heute gewesen. Sybil hatte ein elfenbeinfarbenes Gewand getragen, und ihr Haar hatte bis zu den Hüften herabgereicht. Kanonen und Gewehre hatten gefeuert, und dieser junge Mann mit dem lockigen schwarzen Haar hatte das Mea auf seine Stirn gelegt. Dann hatte Sybil mit ihrer Stirn dagegen gedrückt, und sie hatten sich geküßt. Seine Lippen waren warm und sanft gewesen, und der Kuß hatte sonderbare Gefühle in ihr ausgelöst. Dann war ein goldener Mann zu ihnen herabgeschwebt und hatte Sybil etwas zugeflüstert. Sie konnte sich daran erinnern, weil sie schreckliche Kopfschmerzen davon bekommen hatte. Und die Halskette zwischen ihr und dem jungen Mann hatte so stark geleuchtet, daß sie die Augen schließen mußte.

Doch diese Kette hier leuchtete nicht.

Furchtsam streckte sie einen Finger aus und zog damit einen großen Kreis um die Kugel. Ein paar Sekunden später hatte sie genug Mut gesammelt, um den Ball leicht anzustoßen. Doch nichts geschah. Schließlich nahm sie die Kugel auf und legte sie – wie im Traum – auf ihre Stirn, wobei sie an den jungen Mann dachte.

Ein blaues Licht blitzte kurz auf. Erschrocken zuckte sie zurück. Aber in jenem Traum war das Licht etwas Gutes gewesen. Als sie die Kugel wieder auf ihre Stirn legte, strahlte das Licht gleichmäßig und färbte die weißen Wände blau. Und zugleich rief eine sanfte Stimme ihren Namen.

»Oh!«

Erschrocken ließ Sybil die Kugel auf den Tisch fallen und verkroch sich mit klopfendem Herzen zwischen den Bettlaken. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie dann zu, wie das Licht langsam wieder erlosch. In dem Traum hatte niemand aus der Kugel zu ihr gesprochen. Und diese Stimme hatte ein bißchen wie die ihres toten Vaters geklungen.

Als Rachel schließlich aus dem Bad kam und sich das Haar mit einem Handtuch trocknete, saß Sybil die Furcht wie ein Knoten im Magen.

»Mom? Was ist das für eine Kette?«

»Hmm? Oh, das ist … das ist nur eine Glaskugel. Ich wollte, ich hätte sie gar nicht. Sie erinnert mich an den Mashiah.« Bei diesen Worten zitterte ihre Stimme.

»Sie ist hübsch.«

»Ja, das ist sie.«

Sybil machte ihrer Mutter Platz, kuschelte sich dann an sie und zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. Eines Tages würde sie ihr eigenes Mea besitzen, und auf einem weit entfernten Schlachtfeld würde sie damit einen Krieg beenden. Das hatte ihr der Traum erzählt.

Sybil zupfte nervös an der Decke. Die Wärme ihrer Mutter fühlte sich angenehm an, doch sie konnte trotzdem nicht einschlafen. Die furchteinflößende Stimme hatte sie mit ihrem vollen Namen gerufen, Sybilline. Niemand hatte sie je so genannt, außer ihrem Vater. Und auch er hatte sie nur so gerufen, wenn sie etwas angestellt hatte.

Sie runzelte die Stirn, und ihre Gedanken wanderten von ihrem Vater zu dem jungen Mann mit den schwarzen Locken, und wieder zurück.

Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
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