6. Tishri 5414
Jasper öffnete das Tor und marschierte über den schmalen Trampelpfad zum Haus seines Enkelsohns. Das Licht der Mittagssonne fiel durch die schmiedeeisernen Verzierungen oberhalb der Veranda und malte wie geschmolzenes Gold wirkende Muster auf die braunen Steine.
Jasper wippte unruhig in seinen Tennisschuhen auf und ab, als er die Türglocke betätigte. Süße Herbstdüfte umgaben ihn. Farbenprächtige Salomebäume standen längs der gewundenen Straße und schmückten sie wie eine Kette aus Bernstein und Rubinen. Jeder Windstoß löste einen neuen Schauer bunter Blätter aus, die über die Rasenflächen wirbelten.
»Ich komme schon!« hörte er Pavels Stimme rufen, und ein paar Sekunden später erschien sein Schwiegersohn mit gerötetem Gesicht und wirrem Haar an der Tür. »Großvater! Komm herein. Warum hast du nicht angerufen, um Bescheid zu sagen, daß du schon so früh kommst? Dann hätte ich Bier besorgt oder …«
»Du hast kein Bier im Haus? Dann gehe ich sofort wieder!«
Jasper drehte sich um und machte Anstalten, loszumarschieren, doch Pavel schnappte seinen Ärmel und zog ihn zurück.
»Ich habe noch zwei Dosen. Danach mußt du sehen, wo du bleibst.«
Jasper zuckte die Achseln. »Okay.«
Sie begaben sich in das geräumige, lichtdurchflutete Wohnzimmer. An der linken Wand standen eine braune Ledercouch und zwei dazu passende Sessel, rechts befand sich ein großer Tisch mit acht Stühlen. Ein ovaler Teppich mit geometrischen, in blau und gold gehaltenen Mustern bedeckte den Holzboden.
Jasper marschierte zur Couch hinüber und nahm Platz. Das hereinfallende Sonnenlicht ließ die silbernen Fäden in seinem weißen Hemd hell aufschimmern. »Wo ist Yael?«
»Draußen im Garten. Sie spielt dort zusammen mit dem kleinen Jona Wallace. Ich glaube, sie feiern ihre Belobigungsurkunde.«
Jasper nickte. Die zwölfjährige Yael war zurückgeblieben, doch die magistratischen Ärzte auf Tikkun unternahmen nichts, um dieses Problem zu beheben – obwohl nichtgamantische Kinder, die an vergleichbaren Behinderungen litten, frühzeitig und vollständig geheilt werden konnten. Statt dessen schickte die Regierung gamantische Kinder wie Yael auf Schulen, wo sie nutzlose Sachen wie Batiken und Töpfern lernten. »Und wo steckt dein Vater? Ich dachte, er würde zeitig kommen, um diesen obskuren Nachtisch selbst zuzubereiten?«
Pavel spreizte die Arme in einer hilflosen Geste. »Du weißt doch, wie er ist, wenn er sich um eine Hochzeit oder Beerdigung kümmern muß. Alles andere vergißt er dann einfach.«
Jasper schürzte die Lippen und trommelte ungeduldig mit seinen knochigen Fingern auf die Couch. Zum Teufel mit Toca! Sein Sohn hatte es in seinem ganzen Leben noch nicht geschafft, einmal pünktlich zu einem Familientreffen zu erscheinen. Andere Menschen, seine »Herde«, gingen stets vor. Jasper warf Pavel einen raschen Blick zu und bemerkte, daß auch sein Enkel gekränkt wirkte.
»Was ist es denn diesmal? Hochzeit oder Beerdigung?«
»Beerdigung. Außerdem mußte er noch in die Stadt. Major Lichtner hat angerufen und wollte ihn sehen.«
»Lichtner? Dieses militärische Spatzenhirn? Was will er denn?«
»Weiß ich nicht. Wir werden …«
Pavel unterbrach sich. Von draußen war zu hören, wie das Tor zuschlug, und dann rief Tocas Stimme: »Ich hab’s nicht vergessen! Bin schon da!« Er polterte durch die Haustür herein. Toca war ein großer Mann, dessen Haar bereits grau und schütter geworden war. In seinen Augen brannte jedoch immer noch das alte Feuer. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und auf seiner Brust hob sich das silberne Dreieck, das er an einer Halskette trug, strahlend hell ab. »Aber ich nehme an, ihr habt euch trotzdem das Maul über mich zerrissen.«
»Das hast du auch nicht anders verdient!« erklärte Jasper. »Meinst du wirklich, ein Leichnam wäre wichtiger als eine lebende Enkeltochter?«
Tocas Gesicht verzog sich schuldbewußt. Jasper hatte diese Miene, die offenbar nur dazu dienen sollte, den Betrachter milde zu stimmen, bestimmt schon mehr als tausend Mal gesehen.
»Nun«, begann Toca zerknirscht, »ich wollte gewiß nicht …«
»Erspar uns das. Pavel und ich haben deine Entschuldigungen schon viel zu oft gehört. Wer ist denn gestorben?«
Ein Anflug echter Scham rötete Tocas Wangen, wie Jasper zufrieden bemerkte. Pavel beobachtete leicht amüsiert die ganze Szene.
»Der alte Benjamin Powe ist verschieden. Und einen schöneren Abschied hätte er sich gar nicht wünschen können. Soviel Heulen und Wehklagen erlebt man selten. Und die Autoschlange, die dem Sarg zum Friedhof folgte, war bestimmt meilenlang.«
»Kein Wunder, schließlich schuldete er so ziemlich jedem Geld«, bemerkte Jasper und betrachtete angelegentlich seine schmutzigen Fingernägel. »Vermutlich haben die Gläubiger gehofft, sie könnten seine Familie festnageln.«
Toca bedachte ihn mit einem mißbilligenden Blick und ließ sich dann am anderen Ende der Couch nieder. Aus dem Garten war helles Kichern zu vernehmen.
Pavel lächelte. »Jonas ist herübergekommen, um mit Yael zu spielen.«
»Aha …«, meinte Toca. »Dann zeig mir doch mal diese großartige Belobigungsurkunde. Wo ist sie denn?«
»In meinem Zimmer. Natürlich gerahmt und aufgehängt. Ich hole sie schnell.« Pavel eilte aus dem Zimmer und den langen Flur entlang.
Jasper warf seinem Sohn einen forschenden Blick zu, und Toca runzelte unwillkürlich die Stirn. »Du warst also bei Lichtner? Was wollte dieser Idiot denn?«
»Ach, nichts Wichtiges, Papa. Die Magistraten bereiten ein Registrierungsprogramm vor. Ab morgen eröffnen sie überall in der Stadt zeitlich befristete Büros. Wir alle müssen uns melden.«
»Was sollen wir melden?«
Pavel kehrte zurück und reichte Toca die gerahmte Urkunde. Dann blieb er mit in die Hüften gestützten Händen stehen und wartete auf den Kommentar seines Vaters. Toca studierte sie gründlich und meinte dann mit einem strahlenden Lächeln: »Sie ist das klügste Mädchen in der Schule. Genau, wie ich immer gesagt habe. Was meint denn ihr Lehrer …«
»Was sollen wir melden?« fragte Jasper und spürte, wie langsam die Angst von ihm Besitz ergriff.
»Worum geht’s denn eigentlich?« wollte Pavel wissen, während er den Rahmen nahm und ihn auf den Tisch legte.
»Ach, Papa regt sich auf, weil die Magistraten ein Registrierungsprogramm starten. Wir müssen alle dorthin und unsere Namen und Adressen angeben. Außerdem sollen wir schriftlich niederlegen, wo wir uns in den nächsten vierzehn Tagen aufhalten, und zwar detailliert für jede Stunde des Tages.«
Pavel schüttelte den Kopf. »Verrückt. Was ist, wenn wir das nicht wissen? Ich zum Beispiel habe jetzt doch noch gar keine Ahnung, was ich morgen abend machen werde.«
»Das solltest du dir dann besser überlegen. Fehler oder Auslassungen werden mit Gefängnis bestraft. Sie nehmen das alles sehr ernst.«
»Registrierung?« flüsterte Jasper. Längst vergessene Erinnerungen erwachten zu neuem Leben. Genau so hatten die Magistraten auch vor der letzten Revolte gehandelt. Alle Gamanten waren aufgefordert worden, sich täglich zu melden und zu berichten, wo sie sich zu jeder Stunde des Tages aufhalten würden. »Mit welcher Begründung?«
Toca blinzelte erstaunt angesichts der Eindringlichkeit, mit der Jasper die Frage gestellt hatte. »Angeblich befürchten sie, Baruch könnte Tikkun angreifen. Falls es dazu kommt, wollen sie die Bevölkerung möglichst schnell und wirksam evakuieren.«
Pavel fuhr auf. »Jeremiel würde doch niemals Zivilisten angreifen! Sie sollten statt dessen lieber ihre militärischen Einrichtungen evakuieren.«
»Weshalb die ganze Aufregung?« fragte Toca. »Wir müssen doch nur hingehen und unsere Namen in ein Buch schreiben. Was ist denn daran so schrecklich?«
Jaspers Gesicht zeigte deutlich seinen Ärger. Er wechselte einen Blick mit Pavel und stach dann mit dem knochigen Finger in Tocas Brust. »Ich werde dir sagen, was daran so schrecklich ist. Sie können uns dann jederzeit finden, ob bei Tag oder Nacht, wann immer es ihnen beliebt.«
»Ja, und?«
»Um Himmels willen!« brüllte Jasper und beugte sich soweit vor, daß ihre Nasen sich fast berührten. »Bist du hirntot oder was? Die Magistraten haben schon wieder einen gamantischen Planeten vernichtet. Sie brennen unsere Geschäfte nieder, verlangen, daß wir uns registrieren lassen, und du kannst die Gefahr nicht erkennen?«
Toca wich ein Stück zurück. »Wovon redest du eigentlich? Was für ein Planet?«
»Losacko hat mir vor ein paar Tagen erzählt, daß Kayan abgefackelt worden ist.«
»Das glaube ich nicht. Er muß die Meldung mißverstanden haben.«
»Den Teufel hat er! Die Magistraten wollen uns alle umbringen, und wenn sie genau wissen, wo sich jeder einzelne aufhält, wird ihnen das wesentlich leichter fallen. Ich werde mich jedenfalls nicht registrieren lassen.«
In der Stille, die nun eintrat, blickte Jasper aus dem Fenster. Menschen schlenderten die Straße entlang. Manche lachten, andere hielten ihre Kinder an der Hand und sprachen miteinander. Das Rot der Blätter schien plötzlich eine unheilvolle Vorbedeutung zu bekommen.
Toca runzelte die Stirn. »Du mußt dich registrieren lassen. Wenn nicht, werden sie …«
»Ich gehe nicht dorthin.«