KAPITEL
28

 

 

der Strahlende stieg herab zum unschuldigen Adam und erweckte ihn aus einem todesähnlichen Schlaf, auf daß er errettet werde. Und wie ein Gerechter, der einen von einem Dämon besessenen Mann findet und ihn durch seine Kunst befriedet, also geschah es mit Adam, als dieser Freund ihn in einem tiefen Schlaf gefangen fand und ihn erweckte und aufrichtete …

»Laß ihn, der hört, aus tiefem Schlaf erwachen!«

Da erwachte Adam und vergoß viele Tränen, und er trocknete sie und sagte: »Wer rief meinen Namen? Und woher stammt diese Hoffnung, liege ich doch hier in Ketten?«

»Ich bin der Verkünder des Reinen Lichts; ich bin der Gedanke des jungfräulichen Geistes, der dich wieder in die Reiche der Herrlichkeit führt. Erhebe dich, und denke daran, daß du selbst es warst, den du gehört hast, und kehre zurück zu deinen Wurzeln. Denn ich bin der Barmherzige! Fliehe die Engel der Zerstörung, die Dämonen des Chaos.«

Dann zeichnete der Strahlende ihn mit den fünf Siegeln aus dem Licht und dem Wasser, auf daß der Tod hinfort keine Macht mehr über ihn habe.

 

Das Geheime Buch Johns

(Nr. 6 und 36 und Nr. 1 des Berlin Codex)

Eines der vierundvierzig Geheimen Bücher

Entdeckt 5013 auf Jumes

 

Rachel stand auf der ersten Sprosse der Leiter im Hauptsicherheitsschacht von Deck vier. Der Schacht durchmaß sechs Fuß und hatte gepanzerte Wände. Rachel griff nach oben und entfernte die silberne Abdeckung über der zentralen Überwachungseinheit.

Ihre Anstrengung wurde mit dem Anblick von vierzehn Bildschirmen belohnt. Sie wischte sich mit dem Ärmel des enganliegenden braunen Overalls den Schweiß von der Stirn und strich das lange schwarze Haar über die Schultern zurück, während sie die Computeranzeigen studierte. Jeder Bildschirm leuchtete in einer anderen Farbe. Der Farbcode sollte es dem Benutzer erleichtern, die unterschiedlichen Daten schnell einzuordnen.

»Und warum schaffst du das dann nicht?« knirschte Rachel ärgerlich.

Sie zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte die Seiten durch, um sich das Schema ins Gedächtnis zu rufen. Als sie den Arm ausstreckte, um eine Prüfungssequenz einzugeben, erhellte ein gleißender Blitz den Schacht. Rachel schützte ihr Gesicht mit den Händen, konnte aber dennoch den karmesinroten Umhang erkennen. Er stand dort, überirdisch schön wie immer. Sein bernsteinfarbener Körper schimmerte wie flüssiges Feuer, und im Widerschein des Lichts strahlten die Wände, als wären sie mit Gold überzogen.

»Nein«, flüsterte Rachel und stieg von der Leiter herunter. »Aktariel, warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen.« Ihre Knie zitterten so heftig, daß sie sich mit einer Hand an der Wand abstützen mußte. »Ich habe dir nichts zu sagen. Was willst du von mir?«

»Rachel, du wirst schon bald auf dem Weg nach Tikkun sein, und ich …«

»Jeremiel hat gesagt, wir fliegen nicht nach Tikkun! Er hat gesagt …«

»Ja, ich weiß, was er dir erzählt hat. Er muß sehr vorsichtig sein. Letzten Endes hängen eine halbe Million Menschenleben von ihm ab.«

Rachel umklammerte eine Leitersprosse. Angst und Ratlosigkeit wuchsen in ihr. Als Aktariel sie beobachtete, trat eine sonderbare Traurigkeit in seine Augen.

»Rachel, hör jetzt genau zu. Die Schiffe, die Slothen nach Tikkun entsandt hat, kommen aus unterschiedlichen Richtungen. Zwei davon stehen bereits in Verbindung mit der Hoyer. Jeremiel wird in eine Falle laufen.«

»Was für eine Falle?«

»Es ist ein sehr ausgefeiltes Manöver, das man auch den ›verschnürten Stern‹ nennt. Jeremiel ist damit vertraut.«

»Kann er etwas dagegen unternehmen?«

»Ich weiß nicht.«

»Was soll das heißen, du weißt es nicht? Natürlich weißt du es.«

Aktariel trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und lehnte sich schließlich mit der Schulter gegen die Wand. »Du überschätzt meine Fähigkeiten. Epagael manipuliert die Leere, so daß ich kaum etwas abschätzen kann. Die chaotischen Parameter der Zukunft unterliegen heftigen Fluktuationen. Es gibt zu viele Faktoren, die sich verändern können. Ornias ist vorhersagbar, doch Lichtner ist ein ganz anderer Fall. Er und Tahn haben noch eine alte Rechnung offen.«

»Wer ist Lichtner?«

»Der derzeitige Militärgouverneur auf Tikkun.«

»Warum ist er wichtig?«

Der gequälte Ausdruck auf Aktariels Gesicht ließ Rachel zusammenzucken. »Frag Jeremiel.«

»Du willst es mir nicht sagen?«

»Es wäre besser, wenn Jeremiel es dir sagt. Es handelt sich um eine Privatangelegenheit.« Aktariel richtete sich ein wenig auf, als wäre ihm gerade ein neuer Gedanke gekommen. »Nein, frag Tahn. Er wird es dir erzählen.«

»Ich kann doch nicht einfach in Tahns Kabine gehen und …«

»Doch, das kannst du. Er wird sogar froh darüber sein, denn er leidet darunter, eingesperrt zu sein.«

Unsicherheit und Konfusion verwirrten Rachel. »Woran liegt es nur, daß ich dir immer glauben möchte. Obwohl ich doch genau weiß, daß du lügst.«

Aktariel senkte die Stimme zu einem sanften Murmeln. »Ich lüge nicht. Und was deinen Wunsch betrifft, mir zu glauben – meine liebe Rachel, zwischen uns besteht eine sehr alte Verbindung. Du spürst meine eigenen Ängste. Unsere Wege sind seit Millennien miteinander verbunden.«

»Nicht, wenn ich mich nicht entschließe, deinem Weg zu folgen.«

»In etwa stimmt das.«

Plötzliche Panik durchfuhr Rachel. Was meinte er damit?

»Das verstehe ich nicht«, rief sie zitternd.

»Möchtest du, daß ich es dir erkläre?«

»Ja. Jetzt sofort.«

Aktariel machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu und streckte den Arm aus. »Nimm meine Hand.«

Rachel wich zurück. »Warum?«

»Weil ich dir derart wichtige Dinge hier nicht erklären kann. Ich muß Wind in meinem Gesicht und Erde unter den Füßen spüren. Komm mit mir. Es wird dir gefallen. Es ist warm und schön.«

»Dor? Oder irgendwo anders? Wohin gehen wir?«

Aktariel schloß für einen Moment die Augen. Dann erklärte er: »Der Name würde dir nichts sagen. Bitte vertraue mir, Rachel. Komm für eine Stunde mit mir. Nur eine Stunde. Das ist alles, worum ich dich bitte. Dafür werde ich jede Frage beantworten, die du mir stellst.«

»Jede Frage?«

»Jede. Ich gebe dir mein Wort darauf.«

»Gilt das auch für die Art unserer Verbindung?«

»Ja. Alles, was du wissen willst.«

Kälte breitete sich in Rachel aus, doch sie wünschte sich verzweifelt, die Wahrheit zu wissen. Zögernd streckte sie die Hand aus und legte sie in die seine.

Aktariel hob die andere Hand. Ein schwarzer Wirbelsturm erhob sich aus der Wand. Rachels Haar tanzte im warmen Wind.

Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie in die Schwärze hinaustraten.

Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
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