KAPITEL
48
Sybil und Mikael lagen unter dem Bett des Jungen, hielten sich bei den Händen und schauten zu, wie die Lichter in der Kabine unregelmäßig an und aus gingen. Sie hatten versucht, Dame zu spielen und dabei die unheimlichen Dinge zu vergessen, die um sie herum vor sich gingen. Der Getränkespender funktionierte auch nicht mehr – nur manchmal, aber dann lieferte er undefinierbare, widerlich schmeckende Getränke.
Mikael warf einen Blick auf Sybil. Sie wirkte nicht verängstigt. Dafür hatte er selbst um so größere Angst.
»Mach dir keine Sorgen, Mikael«, sagte Sybil zuversichtlich. »Avel kommt bald her. Er würde uns nie im Stich lassen.«
Mikael nickte, war sich aber nicht so ganz sicher, ob er ihr glauben sollte. Er wollte Sybil auch nicht darauf hinweisen, daß Avel vielleicht gar nicht kommen konnte, weil er möglicherweise tot war, so wie seine ganze Familie – außer Onkel Yosef.
»Wahrscheinlich ist er nur irgendwo aufgehalten worden«, meinte Sybil. »So was kommt vor. Auf Horeb hat Avel mich in eine Höhle gebracht, wo ich in Sicherheit war. Es gab dort viele Bücher und Lebensmittel, und einen ganzen Haufen Kerzen und auch Wasser. Erst habe ich geweint, weil ich so allein war und dachte, er würde nicht zurückkommen. Aber dann, als es draußen wieder sicher war, hat er mich sofort abgeholt.«
Beide zuckten zusammen, als mehrere schrille, undefinierbare Geräusche aus der Türsprechanlage drangen. Es klang fast so, als würde auf dem Korridor geschossen.
Sybil griff nach oben und zog die Decke so weit vom Bett herunter, daß ihr unterer Rand den Boden berührte und wie ein Vorhang wirkte, hinter dem sie sich verbergen konnte.
Mikael strahlte. »Darauf wäre ich nie gekommen.« Jetzt, wo er in einem richtigen Versteck lag, fühlte er sich gleich viel sicherer.
Etwas später fragte er: »Sybil, was meinst du, wann Captain Erinyes kommt, um uns zu holen?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich einige Zeit, bevor das Schiff angegriffen wird.«
»Müssen wir irgend etwas mitnehmen?«
»Ich glaube nicht. Andererseits habe ich diesen Traum nur einmal gehabt, deshalb bin ich mir nicht ganz sicher.«
Mikael biß sich auf die Unterlippe. Er und Sybil hatten ihre besten Kleider angezogen, weil sie wußten, daß sie schon bald irgendwo hingehen würden.
»Ist dir kalt?« fragte Sybil.
»Nur ein bißchen.«
»Ich glaube, das, was im Schiff alles durcheinander bringt, hat auch dafür gesorgt, daß die Heizung nicht mehr funktioniert.«
In einem purpurnen Blitz löste sich plötzlich die Zimmertür auf, und Plastiksplitter wirbelten durch die ganze Kabine. Sybil stieß einen Schrei aus.
»Mikael Calas?« rief eine unbekannte Stimme.
Mikael unterdrückte ein Schluchzen und fragte mit zitternder Stimme: »Wer ist da?«
»Ich bin Sergeant Jason West, mein Junge. Komm her, wir müssen von hier verschwinden.«
Mikael krabbelte unter dem Bett hervor und half dann Sybil. »Was wollen Sie denn von uns, Sir?«
West lächelte freundlich. »Ich soll euch an einen sicheren Ort bringen. Captain Tahn hat das angeordnet. Er möchte nicht riskieren, daß ihr beim Kampf um das Schiff verletzt werdet.«
Mikaels Augen füllten sich mit Tränen. Er wußte nicht, ob er diesem Soldaten trauen sollte oder nicht. Hilfesuchend wandte er sich an Sybil.
Sybil runzelte die Stirn. »Mr. West, wir wollen bei unseren Leuten bleiben.«
»Tut mir wirklich leid, kleine Lady, aber das kann ich nicht zulassen. Das wäre zu gefährlich.«
Sybil schluckte schwer und schaute Mikael an. »Es ist wohl besser, wenn wir mitgehen.« Und ganz leise fügte sie hinzu. »Es gehört wahrscheinlich so oder so zum Plan.«
Mikael wischte sich die Augen. »Ist gut.«
Er machte einen Schritt vorwärts, rannte aber sofort wieder zurück, um die Briefmarken zu holen, die der Captain ihm gegeben hatte. Er steckte sie in die Tasche, lief dann zu Sybil und nahm ihre Hand.
Bogomil marschierte mit festem Schritt aus dem Aufzug auf die Brücke der Jakata. Er hatte geduscht, acht Stunden geschlafen, und fühlte sich jetzt fast wieder menschlich.
»Lieutenant Dharon«, rief er, während er zu seinem Kommandosessel ging, »wie lange noch bis zum Ende des Lichtsprungs?«
Die Offizierin warf einen Blick auf die Instrumente. »Zwanzig Sekunden, Sir.«
»Ausgezeichnet. Wenn alles wie geplant verläuft, müßten sämtliche Schiffe innerhalb weniger Minuten eintreffen.«
»Aye, Sir.«
Bogomil ließ sich in seinen Sessel sinken und trommelte mit den Fingern auf seinem Oberschenkel. Ganz ruhig. Du hast noch Stunden, um dich auf den Kampf vorzubereiten. Sie würden das Lysomianische System aus fünf verschiedenen Richtungen ansteuern, dann Kurs auf Tikkun nehmen und sich in letzter Sekunde zum Stern formieren. Ihm blieben noch gut drei Stunden, bis er die Schiffsgeschütze auf volle Energie bringen mußte.
»Scipio auf dem Schirm, Sir«, meldete Winnow, die angespannt vor ihrer Konsole hockte. »Abruzzi meldet ›Alles in Ordnung‹.«
Bogomil blickte auf den Frontschirm und entdeckte den hellen Lichtpunkt. »Fein. Genau rechtzeitig.« Zwei weitere Lichtpunkte tauchten auf.
»Welche Schiffe sind das, Dharon?«
»Aratus und … Leimon.«
Bogomil runzelte die Stirn und blickte erwartungsvoll auf den Schirm. Er bemerkte, daß die Brückenmannschaft ebenso gespannt wartete wie er selbst.
Winnow warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Ich habe Verbindung zu allen drei Captains. Warten wir noch länger auf die Klewe?«
Bogomil rieb sich unsicher das Kinn. Er wartete noch ein paar Minuten und knurrte dann: »Fahr zur Hölle, Joel.«
Dharon drehte sich mit ihrem Stuhl um. »Wo, zum Teufel, steckt Erinyes? Wenn dieser Mistkerl …«
»Vorsichtig«, sagte Bogomil. »Überlassen Sie das mir. Wenn das wieder einer seiner politischen Schachzüge ist, drehe ich ihm selbst den Hals um.«
»Sir?« meldete Winnow. »Captain Abruzzi verlangt Sichtverbindung.«
»Auf den Schirm. Nein, Moment. Bringen Sie gleich alle simultan aufs Bild.«
»Aye, Sir.«
Als die Gesichter auf den Monitoren rings um ihn erschienen, richtete Bogomil sich nervös auf.
Avel Harper packte sein Gewehr fester und spähte vorsichtig um die Ecke. Im flackernden Licht der Deckenbeleuchtung konnte er Janowitz erkennen, der sechs seiner Männer direkt vor dem Schacht sieben-zwölf postiert hatte. Vier weitere hielten sich auf den umliegenden Fluren bereit.
Avel lehnte sich gegen die Wand. War das alles nur eine Kriegslist gewesen? Sie warteten jetzt schon seit einer Stunde auf die magistratischen Soldaten, doch bisher hatte sich noch niemand blicken lassen.
Er massierte sich den schmerzenden Nacken und überlegte, wo Jeremiel jetzt sein mochte und was er inzwischen herausgefunden hatte.
Harper sah, wie Janowitz aufstand, und ging zu ihm hinüber.
»Hören Sie, Avel«, erklärte Chris, »ich habe den Eindruck, das hier sollte uns nur von etwas anderem ablenken. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie Ihre Männer nehmen und sich um ein paar wichtigere Punkte kümmern.«
»Zum Beispiel? Die meisten Männer haben wir doch schon am Maschinenraum und bei den Lebenserhaltungssystemen postiert.«
Chris schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, aber das hier ist reine Zeitverschwendung. Vielleicht sollten Sie ja mal wieder nach Mikael und Sybil schauen.«
Harper seufzte. »In Ordnung. Aber ich muß mich erst um die Vorgänge auf Deck zwanzig kümmern, bevor ich die Kinder holen kann. Sie finden mich dort, falls Sie mich brauchen. Wenn sich hier in der nächsten halben Stunde nichts weiter tut, können Sie von mir aus die Wache ganz abziehen.«
Chris schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, ich lasse sicherheitshalber wenigstens eine kleine Gruppe hier.«
»Wie Sie meinen. Aber wir müssen uns an den ursprünglichen Plan halten. Wir treffen uns also um 0:1200 in Wachraum zwanzig-vierzehn.«
»Wenn es eben geht, bin ich dort.« Chris lächelte kurz und kehrte auf seinen Platz zurück.
Chris Janowitz veränderte seine Körperhaltung, um die Verkrampfungen in den Beinen zu lockern, und schaute kurz zu seinen Leuten hinüber. Es war eine gute Mannschaft, einer wie der andere, auch wenn sie nur halb ausgebildet waren. Er mußte unwillkürlich lächeln. Als sie noch auf Horeb lebten, hatte jeder dieser Männer seine ganze Zeit mit Gebeten und anderen klerikalen Tätigkeiten verbracht.
Er warf einen mürrischen Blick auf die flackernden Lichter, die sie irgendwann bestimmt wahnsinnig machen würden, und rief dann einen braunhaarigen Jungen an, der am Ende des Gangs lag. »Marcus, wieviel Uhr ist es?« Die Wandchronometer funktionierten schon längst nicht mehr.
»09:00. Jetzt erzähl mir aber nicht, daß du schon abhauen willst.«
Ringsum wurde Gelächter laut. Auch Chris mußte schmunzeln. »Ich doch nicht. Mir gefällt es hier.«
»Ja, ich glaube auch, die meisten von uns werden über nacht hierbleiben.«
Chris lachte, doch sein Gelächter ging plötzlich in Keuchen über. Er griff sich an die Kehle und stellte zugleich entsetzt fest, daß er die Beine nicht mehr bewegen konnte. »Verschwindet!« krächzte er. »Alles raus hier!«
Doch seinen Gefährten ging es nicht besser als ihm selbst. Lediglich zwei schafften es, auf Händen und Knien ein paar Schritte weit zu kriechen, dann brachen auch sie zusammen.
Chris spürte, wie ihm langsam die Sinne schwanden. Doch bevor er endgültig das Bewußtsein verlor, bemerkte er, wie jemand sein Gewehr aufnahm. Und eine Stimme sagte: »Gott segne Halloway. Jetzt haben wir Waffen.«
Carey Halloway stolperte auf die leere Brücke. Überall flackerten Lichter, und die dreiundsechzig Monitore zeigten ein wildes Durcheinander unzusammenhängender Daten.
Rachel stieß Carey leicht mit dem Lauf ihrer Pistole an. »Gehen Sie zum Pult.«
Carey nickte müde, marschierte zu ihrem Platz hinüber und ließ sich in den Sessel sinken. Einen Moment stützte sie die Ellbogen aufs Pult und betrachtete den rotierenden Planeten auf dem Frontschirm. Sie fühlte sich wie ein Fetzen kosmischen Staubs, der in die Schußbahn einer Kanone geraten war.
»Wo befinden sich die Vakuumanzüge, Lieutenant?« fragte Rachel.
»In dem Wandschrank gleich links von Ihnen.«
Rachel betätigte den Öffner. Die Tür glitt beiseite und enthüllte mehrere Anzüge sowie eine Reihe von Reserveenergiezellen.
»Nehmen Sie zwei heraus«, empfahl Carey.
Rachel warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Glauben Sie, ich möchte, daß Sie das alles überleben?«
»Nachdem ich jetzt auf Ihrer Seite stehe …«
»Sie halten mich wohl für sehr vertrauensselig.«
»Mir ist gleich, ob das zutrifft oder nicht, es würde die Dinge nur erleichtern. Wenn Sie glauben, ich hätte gelogen, können Sie mich ja immer noch erschießen.«
Eloel betrachtet sie nachdenklich, nickte dann und zog zwei Anzüge heraus. »Das würde ich auch tun, Lieutenant.« Sie zog einen der Anzüge an und brachte den anderen zu Carey hinüber. »Nur für den Fall, daß Sie die Wahrheit sagen …« Rachel streckte ihr zögernd die Hand hin. »Freut mich, daß Sie jetzt auf der richtigen Seite kämpfen, Lieutenant.«
Carey ergriff Rachels Hand und schüttelte sie. Dabei fiel ihr auf, daß auf Rachels Stirn die Buchstaben AKT eingebrannt waren. Merkwürdig. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. »Jetzt wollen wir mal sehen, daß wir hier fertig werden. Sehr viel Zeit bleibt uns nämlich nicht.«
Eloel nickte, ging zum Kommandosessel hinüber und ließ sich darauf nieder. »Können Sie etwas wegen dieser flackernden Lampen unternehmen? Sie vielleicht abschalten.«
Carey schlüpfte in ihren Anzug. »Nein, tut mir leid. Ich versuche jetzt, Tahn zu erreichen.«
Rachel nickte. »Seien Sie aber vorsichtig. Ich möchte nicht …« Sie verstummte abrupt, und Careys Blick huschte zum Monitor. Auch ihr fiel der strahlende Lichtpunkt sofort auf. Eine Weile schien er reglos zu verharren; dann setzte er sich in Bewegung und glitt auf sie zu.
»Sind sie das?« fragte Eloel.
»Abwarten.«
Carey beugte sich über das Pult und nahm ein paar Schaltungen vor. Dann rief sie: »Captain Tahn? Hier ist Halloway. Empfangen Sie mich?«
Eine statisch verzerrte Stimme antwortete. »Carey? Wo zum Teufel … Sind Sie auf der Brücke?«
»Aye, Captain.«
»Was geschieht an Bord?«
»Keine Ahnung. Ich habe keine Verbindung zur Mannschaft. Aber … Cole, es gibt ein paar Dinge, die wir besprechen müssen. Ich habe gerade den Geheimbericht über Tikkun gelesen.«
»Versuchen Sie mir etwas zu sagen, Carey?«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, brachte aber keinen Laut über die Lippen. Sie fühlte sich wie eine Verräterin.
Wieder drang Coles ruhige Stimme aus dem Lautsprecher. »Wechseln Sie die Seiten, Lieutenant?«
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie wollte sich nicht gegen den Captain stellen, aber ihr blieb keine andere Möglichkeit. »Aye, Captain.«
Eine Weile kam keine Antwort. Dann sagte Tahn: »Gut. Der Gedanke, gegen Sie kämpfen zu müssen, war mir ohnehin zuwider. Sprechen Sie mit Eloel. Sagen Sie ihr, daß wir Waffen brauchen. Aber nur Sie und ich, Carey. Ich will die Mannschaft … nicht mit hineinziehen.«
»Verstanden«, flüsterte Carey. »Rachel und ich treffen Sie im Hangar. Halloway Ende.«
Sie drehte sich um und sah, daß Rachel sie mit glitzernden Augen anblickte. »Deshalb wollte er, daß Jeremiel Tahn mitnimmt«, murmelte sie.
»Wer?«
»Und weshalb wollte er, daß Sie hierbleiben.« Rachel schüttelte den Kopf und stand unsicher auf. »Kommen Sie. Wir müssen uns beeilen.«
Carey lief an Rachel vorbei und drückte auf den Öffner des Fahrstuhls. Die Tür knirschte, blieb aber geschlossen. Carey schlug mit der Faust dagegen und brüllte: »Geh schon auf! Verdammt! Es kostet uns eine Stunde, wenn wir durch das Lüftungssystem kriechen.«
Rachel hob die Hand und schlug zusammen mit Carey auf den Öffner. Und endlich glitt die Tür zur Seite.