PROLOG
Eine Stunde vor dem Ende von DAS LICHT VON KAYAN
Der weiße Kasten des Interkoms summte.
Magistrat Slothen verzog das Gesicht und blickte unwillig von den Berichten auf, die in großer Zahl auf seinem Schreibtisch verstreut lagen. Sein etwa zwanzig Quadratmeter großes Büro besaß eine hohe, gewölbte Decke und lavendelfarbene Wände. Holographien verschiedener galaktischer Solarsysteme hingen in Höhe seiner Augen, also knapp zwei Meter über dem Fußboden. Der weiße Schreibtisch stand vor der langgestreckten Fensterfront, die einen Blick über Naas erlaubte, die Hauptstadt von Palaia Station – dem Zentrum der Galaktischen Regierung.
Er schob die Papiere auf dem überladenen Tisch zusammen. Mehr als fünfzehntausend Beschwerden wegen zunehmender Piratenüberfälle und den damit einhergehenden Handelshemmnissen waren bereits eingegangen, und jede stammte von einem Planeten, dessen Bevölkerung über den unzureichenden Schutz seitens der Regierung aufgebracht war. Schuld daran waren die Gamanten, eine primitive kulturelle Gruppe, die lediglich einen winzigen Bruchteil seines Verantwortungsbereichs darstellten, jedoch für mindestens fünfzig Prozent aller Probleme verantwortlich waren. Überall in der Galaxis flackerten ihre Aufstände auf. Ihm war keine Wahl geblieben, als seine Truppen in Marsch zu setzen, um die sich ausweitende Gewalttätigkeit einzudämmen – doch dadurch waren friedfertige Planeten den Attacken räuberischer Angreifer schutzlos ausgeliefert. In diesem Augenblick wütete eine Hungersnot in Quadrant Sieben.
Slothen beachtete das Interkom nicht; er stieß einen ungehaltenen Seufzer aus. Er hatte seinem Sekretär die strikte Anweisung erteilt, ihn nicht zu stören. Zweifellos hatte Topew seinen Fehler mittlerweile erkannt und bereitete sich jetzt innerlich auf die Strafpredigt vor, die ihn erwartete, sowie Slothen dafür Zeit fand.
»Gamanten«, murmelte er tonlos.
Slothen hatte sich schon oft gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, hätte man diese Volksgruppe vor einem Jahrtausend ausgelöscht. Er selbst war mit den Viveka so verfahren, als er zum ersten Mal Regierender Magistrat geworden war, und er hatte es nie bedauert. Die Viveka waren eine wilde und brutale Spezies gewesen, vierarmige, rothäutige Raufbolde, die einen Krieg gegen seine Regierung angezettelt hatten. Er hatte keine Wahl gehabt.
Oder hätte er die Gamanten versklaven sollen? Das hatte bei den amorphen, gallertartigen Octopii von Huron II bemerkenswert gut funktioniert. Aber nein, statt dessen hatte er den Einfallsreichtum der Gamanten unterschätzt und zu lange gewartet, was ihnen die Gelegenheit gegeben hatte, sich zu einer beachtlichen Streitmacht zu formieren, Schiffe und Waffen zu stehlen und sich den Weg aus seinem gut gesicherten System freizukämpfen, um sich auf abgelegenen, lebensfeindlichen Welten am Rande der Galaxis niederzulassen. Und die Schlimmsten dieser Bande hatten sich zu einer starken Untergrundbewegung zusammengeschlossen, die einen permanenten Guerillakrieg gegen seine Streitkräfte führte.
»Ich bin viel zu lange nachsichtig gewesen«, knurrte er und schlug mit der Handfläche auf den Schreibtisch.
Was den Rest der Menschheit anging, hatte er eine strenge Informationskontrolle verhängt, die mitunter schon einer Nachrichtensperre gleichkam, um zu verhindern, daß jemand von seinen Aktivitäten Kenntnis erhielt. Die meisten menschlichen Welten blieben friedlich, ohne etwas von der Not der gamantischen Zivilisation zu ahnen, und die wenigen, die von seinen Maßnahmen wußten, billigten sie. Nach Jahrhunderten sorgfältiger Manipulation hegten viele menschliche Welten einen wütenden Haß auf ihre gamantischen Brüder, die sie für praktisch jedes Übel verantwortlich machten, angefangen bei der instabilen galaktischen Finanzlage bis hin zum Ausbruch mysteriöser Krankheiten. Menschen waren derart irrationale Wesen – ihre Gefühle vollführten Kapriolen wie die Wagen einer antiken Achterbahn. Doch mit den geeigneten Hilfsmitteln konnte man sie kontrollieren.
Wirkliche Sorgen bereitete ihm zur Zeit nur sein eigenes Militär. Ein ganzer Zweig seiner Streitkräfte bestand aus von Menschen befehligten Schiffen. Vor seinen eigenen Offizieren konnte er die prekären Informationen natürlich nicht verbergen, deshalb hatte er ein geheimes »Abschreckungsprogramm« gestartet, dessen Zweck darin bestand, ihnen soviel Furcht einzujagen, daß sie es nicht wagten, Verrat zu begehen. Er hatte sie von anderen galaktischen Spezies isoliert, indem er auf diesen Schiffen eine ausschließlich menschliche Besatzung einsetzte, und er ließ die Gehirne aller Abweichler, die verräterische Gedanken entwickelten, umgehend korrigieren.
Das Interkom summte abermals.
Bedächtig folgte Slothen den Anweisungen seines Dritthirns und unterdrückte so die Aufwallung wilden Zorns, die ihn zu überfluten drohte. Vor Äonen hatten die Giclasianer aus jener Proto-Basis, die von den Menschen Corpus Callosum genannt wird, eine dritte Hemisphäre entwickelt. Dieses dritte Gehirn diente ihnen jetzt als separate Identität, als hochentwickelter Interpret, der jede neurale Verbindung in der rechten wie der linken Hemisphäre aufspüren und somit die Ursprünge jeglicher mentaler Stimulation lokalisieren und studieren konnte. Tatsächlich hatte Slothen neurophysiologische Untersuchungen angeordnet, wobei festgestellt werden sollte, ob sich das menschliche Corpus Callosum zur Hervorbringung eines dritten Hirns anregen ließe – er hegte die Hoffnung, die gamantische Aggressivität eindämmen zu können, indem man den tierhaften Teil ihres Bewußtseins zivilisierte –, doch die bisher vorliegenden Ergebnisse gestatteten noch keine eindeutigen Schlußfolgerungen.
Er drückte auf den Antwortknopf. »Topew, ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht gestört werden will.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Magistrat, aber es ist dringend. Colonel Garold Silbersay, der frühere Militärgouverneur des gamantischen Planeten Kayan, ist hier. Er verlangt, mit Ihnen zu sprechen.«
Slothen entblößte verärgert seine nadelspitzen Zähne. »Hatte ich nicht Brent Bogomil befohlen, ihn zu einem neurophysiologischen Korrekturzentrum zu schaffen?«
»Jawohl, Sir, das hatten Sie angeordnet. Aber er ist hier, in meinem Vorzimmer, und drischt wie ein Wahnsinniger auf die Wände ein.«
Slothen rieb sich die blaue Haut. Ein Wahnsinniger? Nach dem letzten Bericht, den er erhalten hatte, befand sich Silbersay am Rand gewalttätiger Schizophrenie. Bogomil hatte erklärt, es wären fünf Wachen nötig gewesen, um den Colonel in eine Sicherheitszelle zu schaffen und ihn dort einzuschließen. War er dort, in der Isolation, endgültig durchgedreht? Möglich. Sollte er es wagen, Silbersay zu empfangen? Immerhin hatte dieser Mann die Scharmützel auf Kayan aus nächster Nähe miterlebt. Er mochte im Besitz wichtiger Informationen sein, was die gamantische Politik betraf.
Slothen biß sich auf die Unterlippe und warf einen Blick aus dem Fenster. Die verspiegelten Bauwerke von Naas stachen wie Speere aus den Grasebenen von Palaia Station empor. Die Landschaftsformer hatten erstklassige Arbeit geleistet, als er ihnen aufgetragen hatte, die Umgebung von Giclas IV, seiner Heimatwelt, genauestens zu reproduzieren. An jeder Straßenkreuzung standen Thypenbäume, deren nackte, dunkelrote Äste sich wie Blutströme vor dem grünen Hintergrund der Parks und Springbrunnen abzeichneten. Heute leuchtete der gelbe Himmel wie durchscheinender Bernstein.
»Sir!« erklang Topews drängende Stimme abermals aus dem Interkom. »Colonel Silbersay beschimpft meinen Stab auf ungebührliche Weise. Er behauptet, im Besitz vertraulicher Informationen zu sein, die von herausragender Bedeutung für die galaktische Sicherheit sind. Soll ich ihn hereinschicken oder die Sicherheitsabteilung rufen, um ihn fortzuschaffen?«
Slothen ballte die zwölf Finger seiner oberen linken Hand zu einer Faust – ein für Angehörige seiner Rasse deutliches Zeichen der Nervosität. »Zwei bewaffnete Sicherheitsbeamte sollen ihn zu meinem Büro begleiten und draußen warten. Ich wünsche keine Zwischenfälle.«
»Jawohl, Sir.«
Slothen nutzte die Wartezeit, um eine Schublade seines Schreibtisches herauszuziehen und sein Äußeres in einem 3-D-Spiegel zu überprüfen. Menschen wurden durch seine äußere Erscheinung häufig in Unruhe versetzt. Sie waren nicht an die leuchtenden Farben gewöhnt, die das giclasianische Leben beherrschten. Er wußte, daß man ihn hinter seinem Rücken den »Tintenfisch« nannte. Idioten. Er hatte Bilder von irdischen Tintenfischen gesehen, und es bedurfte schon einer sehr lebhaften Phantasie, um sie mit Giclasianern zu vergleichen. Slothen reckte das Kinn dem Spiegel entgegen. Sein ballonförmiger Kopf schimmerte azurblau im durch das Fenster hereinströmenden Sonnenlicht, das die wurmähnlichen Haare und den rubinroten runden Mund beleuchtete. Er schob vier seiner Gliedmaßen unter den Schreibtisch und ließ nur zwei sichtbar auf der Platte ruhen.
Ein paar Sekunden später glitt die Tür auf, und Silbersay stürmte mit geballten Fäusten herein. »Magistrat«, sagte er steif, »ich bin in einer dringenden diplomatischen Angelegenheit hier.« Der Colonel wirkte vorzeitig gealtert, sein Haar war vollständig ergraut. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann mit einer Knollennase und buschigen schwarzen Augenbrauen. Seine purpurne Uniform sah aus, als hätte er darin geschlafen.
»Ich bin erfreut, Sie zu sehen, Colonel«, erklärte Slothen mit einem Lächeln. Menschen bezeichneten die giclasianische Sprechweise als steif und mechanisch. Slothen bemühte sich, dem entgegenzuwirken, indem er den menschlichen Tonfall nachzuahmen versuchte.
Silbersays Augen verengten sich. »Treiben Sie keine Spielchen mit mir. Sie haben angeordnet, meinen Verstand korrigieren zu lassen, damit Sie sich keine Sorgen mehr wegen mir machen müssen. Nun, jetzt haben Sie etwas anderes, worüber Sie sich …«
»Das ist nicht wahr, Garold.« Slothen imitierte einen Gesichtsausdruck, wie Menschen ihn haben, die zu Unrecht beschuldigt werden. »Captain Bogomil hat mir berichtet, daß Sie wegen dieser Geschichte auf Kayan unter großen emotionalen Schmerzen litten. Ich wollte lediglich Ihre Qual lindern.«
»Lindern? Indem Sie die wesentlichen Teile meiner Persönlichkeit zerstören? Ich hatte gedacht, eine derartige Behandlung wäre ausschließlich den Dissidenten vorbehalten, die die galaktische Harmonie stören. Aber ich?«Silbersay stemmte die Hände in die Hüften und wanderte mit ruckartigen Bewegungen auf dem purpurnen Teppich auf und ab. »Was ist denn neuerdings los? Sind schmutzige Tricks und Mord mittlerweile so wichtig geworden, daß Ihre Administration nicht mehr darauf verzichten kann?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Garold«, erwiderte Slothen ruhig.
»Ach, hören Sie doch auf. Ich bin an der Front gewesen und kenne die unsaubere Politik, die Sie betreiben. Erst ermorden Sie Zadok Calas, dann …«
»Wir haben Calas nicht ermordet.« Der alte Führer der Gamanten war ein sonderbarer Mensch gewesen, unnachgiebig jenseits aller Vernunft und schnell aufbrausend. »Nach Geheimdienstberichten wurde Calas von einem gamantischen Fanatiker getötet. Wir hatten nichts damit zu tun.«
Silbersays Augen spiegelten seinen Argwohn wider. Er zog es vor, keinen Kommentar zu dieser Aussage abzugeben.
»Ich befehle keine Morde, Garold«, log Slothen. »Ich dachte eigentlich, Sie wüßten das. Erzählen Sie mir, welche Gerüchte sonst noch unter meinen Stabsoffizieren in Umlauf sind. Mir ist bewußt, daß das letzte Jahr ausgesprochen schwierig war. Was bekümmert Sie noch?«
»Was noch?« murmelte Silbersay mit unterdrückter Wut. Sein Blick wanderte über den Boden, als suche er dort nach etwas Verlorenem. Seine purpurne Uniform zeigte dunkle Schweißflecken. »Was noch?« Er schloß für einen Moment die Augen und Slothen sah, daß sein Kinn zitterte. »Das ist die dümmste Frage, die ich je gehört habe.«
Slothen atmete scharf ein. Dann deutete er mit einer beruhigenden Geste auf einen Sessel. »Setzen Sie sich, Garold. Erzählen Sie mir, was dort draußen vor sich geht.«
Er betrachtete Silbersay, als der Mann sich erschöpft in einen Kontursessel fallen ließ. Dunkle Ringe unter den Augen ließen das Gesicht des Colonels noch bleicher als sonst erscheinen. Slothen überdachte die Situation. Offensichtlich war Silbersay Bogomils Zugriff entkommen, was unzweifelhaft bedeutete, daß er eine illegale Transportmöglichkeit benutzt hatte. Dies wiederum implizierte kriminelle Verbindungen. Hatte er auch Meuchelmörder angeheuert? Slothen warf einen verstohlenen Blick aus dem Fenster. Kein einziges Schiff zeigte sich am zitronenfarbenen Himmel von Palaia; dennoch verspürte er ein unangenehmes Kribbeln entlang seiner Wirbelsäule. Für Militärangehörige stand auf Kollaboration mit Feinden der Union der Solaren Systeme die Todesstrafe. Und Silbersay wußte das besser als jeder andere. Unauffällig drückte Slothen auf einen Knopf unter dem Schreibtisch, der die Wachen auf dem Flur in höchste Alarmbereitschaft versetzte.
»Ist alles in Ordnung, Garold? Sie sehen nicht besonders gut aus.«
»Es geht mir auch nicht gut, Magistrat.«
»Sind Sie aufgebracht, weil ich Sie von Ihrem Kommando auf Kayan entbunden habe? Ich versichere Ihnen, das war nicht persönlich gemeint.«
Silbersay zupfte nervös an seinen Fingern, blickte aber nicht auf. »Sie haben Tausende getötet … grundlos.«
Der Feuersturm. Ja, Slothen erinnerte sich vage an die Einzelheiten. »Die Gamanten haben militärische Einrichtungen zerstört. Und Ihre Verluste … wie viele Männer haben Sie verloren? Mehr als tausend, nicht wahr? Die Gamanten haben den Vertrag zuerst gebrochen. Wir haben getan, was nötig schien, um eine potentiell explosive Situation zu entschärfen.«
»Ja, das haben Sie mittlerweile getan«, zischte Silbersay. Seine Augen flackerten, und seine Nasenflügel waren gebläht. »Sie haben nicht auf mich gehört, und jetzt müssen Sie die Konsequenzen tragen. Sie haben den Drachen von der Kette gelassen. Jetzt steht Ihnen eine neuerliche gamantische Revolte bevor.«
»Das glaube ich nicht, Garold. Wir haben bisher jeden Aufstand gründlich erstickt.«
»Das glauben Sie wirklich, was?«
»Ja«, sagte Slothen und streckte zwei seiner Arme aus, um die Berichte auf dem Schreibtisch zu verdecken, die das Gegenteil bewiesen. »Davon abgesehen ist ihr neuer Anführer ein siebenjähriger Junge. Ich glaube kaum, daß er zu einer Bedrohung wird, zumindest in den nächsten Jahren nicht. Und ich bin sicher, daß wir ihn in der Zwischenzeit ausreichend manipulieren können.«
Sicher konnte man allerdings nie sein. Slothen rang nervös zwei seiner Hände. Die letzte gamantische Revolte, die von dem alten Streitroß Zadok Calas angeführt worden war, hatte die Union regelrecht auseinander gerissen. Möglicherweise besaß der Junge die gleichen, selbstmörderischen Instinkte.
Silbersay richtete sich plötzlich auf und wirkte wie ein Mann, der kurz vor einem gewalttätigen Ausbruch steht.
Slothen schwenkte seine blaue Hand in einer beschwichtigenden Geste. »Garold, bitte, beruhigen Sie sich. Ich wollte Ihre Ansicht nicht in Zweifel ziehen. Wenn ich Informationen erhalte, die Ihre Theorie unterstützen, werde ich mich augenblicklich darum kümmern, das garantiere ich Ihnen.«
»Kümmern? Kümmern!«Der Colonel ruderte wild mit den Armen. »Sie … Sie meinen damit, Sie schicken Schlachtkreuzer aus, um die Planeten in geschmolzene Schlacke zu verwandeln. Verstehen Sie das unter kümmern?«
»Die Probleme einzelner Planeten werden auf diese Weise endgültig gelöst. Zugleich erkennen die anderen gamantischen Welten, daß sie uns nicht zu weit treiben dürfen.«
Silbersays linke Wange zuckte. »Sie verstehen es nicht. Keiner von euch versteht es. Ihr seid nicht humanoid. Ihr wißt nicht, was in den Seelen primitiver Menschen vorgeht. Die Gamanten leben ununterbrochen in Furcht, und ihr Leben ist ständig bedroht. Wenn Sie die Gewalt eindämmen wollen, müssen Sie lediglich ein paar Zugeständnisse machen. Geben Sie ihnen einen Teil ihres Landes zurück, schicken Sie ihnen Nahrung und Medikamente. Sie werden sehen, wie schnell sie zu ihren Ziegenherden zurückkehren und wieder ihr armseliges Leben aufnehmen. Sie dürfen sie nicht in die Enge treiben!«Er sprang plötzlich auf. »Die Gamanten drehen durch, wenn Sie das tun!«
»Es ist nicht nötig, laut zu werden, Garold. Ich höre ja zu. Wirklich«, versicherte Slothen sanft, während sein Finger auf dem Knopf ruhte, der die Wachen hereinrufen würde. Er zögerte noch. Natürlich hätte er Silbersay zum Neuro-Center schaffen lassen können, um dort den Großteil dieser Informationen zu erhalten – aber möglicherweise nicht jedes wichtige Detail. Hochrangige menschliche Offiziere hatten in den letzten Jahren ausgefeilte Methoden entwickelt, um das Anzapfen bestimmter Daten zu verhindern. Seine Biologen mußten erst noch herausfinden, wie sie das anstellten.
»Bitte, Garold, setzen Sie sich wieder und erzählen Sie mir genau, wo Sie Probleme sehen, die gamantischen Angelegenheiten auf unsere Art und Weise zu handhaben. Wir wollen sicher keine neuerliche Revolte auslösen. Und ich respektiere Ihre Meinung, das wissen Sie. Sie sind dreißig Jahre lang einer meiner wertvollsten Ratgeber gewesen.«
Silbersay neigte den Kopf, Tränen traten in seine Augen. Mit pathetischer Stimme wandte er ein: »Aber Sie haben mich von meinen Aufgaben entbunden. Sie haben meinen Planeten vernichtet.«
»Ja, und es tut mir leid, daß ich dazu gezwungen war, Garold. Ich …«
»Es war dieser verdammte Mashiah auf Horeb.«
Der Themenwechsel kam so plötzlich, daß Slothens drittes Gehirn einen Moment brauchte, um seine Gedanken neu zu ordnen. Der Mashiah? Oh, ja. Adom Kemar Tartarus, der angebliche Retter der gamantischen Zivilisation. »Was ist mit Tartarus, Garold?«
»Er hat das alles verursacht. Er hat Gesandte nach Kayan geschickt, die die Gamanten zur Konvertierung bewegen sollten. Nachdem sie von seinem neuen Gott gehört hatten, drehten sie durch. Sie warfen sich Welle um Welle gegen meine Leute und setzten primitive Waffen gegen unsere Impulskanonen ein. Und es waren so viele.« Er starrte eine Weile mit leerem Blick zu Boden, seine zitternden Hände verkrampften sich wie zum Gebet ineinander. Die Stille dauerte so lange an, daß Slothen nervös wurde.
»Garold? … Garold?«
Silbersay flüsterte mit angespannter Stimme: »Wie konnte überhaupt irgend jemand diese irrsinnigen Geschichten über einen kristallenen Gott glauben, der ausgesandt wurde, um sie von unseren Fesseln zu befreien und uns zu vernichten? Auf einen von ihnen kommt eine Million von uns!«
»Das ist religiöse Einfalt. Alle Religionen sind einfältig – und ganz besonders die gamantische Vorstellung von Epagael. Mir ist das schon klar, Garold. Trotzdem läßt sich auch damit großer Schaden anrichten, wenn man es darauf anlegt. Gerüchten zufolge hat Tartarus seine Emissäre in alle Himmelsrichtungen geschickt. Hängen die Gamanten noch immer seiner Religion an? Selbst jetzt, wo er tot ist?«
»Er … er ist tot?«
»Ja. Wie es scheint, hat seine Geliebte ihn ermordet.«
»Und Baruchs Streitkräfte? Haben sie nicht eingegriffen?«
»Nein. Seine Kreuzer sammeln Überlebende von Abulafia und Ahiqar auf. Vor einigen Wochen mußten wir in diesem System eine Strafaktion durchführen. Ich habe erwogen, einen Konvoi dorthin zu entsenden, um sie eventuell zu stellen, bevor sie wieder fliehen können, aber …«
Silbersay schlug sich mit der Faust auf die Handfläche. »Lächerlich. Der Untergrund teilt seine Streitkräfte niemals auf. Und solange die Rebellen dort in voller Stärke auftreten, werden Sie weit mehr Schiffe verlieren, als Ihnen gefallen dürfte.«
»Ja, genauso sehe ich das auch. Im übrigen haben wir gerade auf Tikkun neue Unterdrückungsmaßnahmen eingeleitet. Es geht dabei um eine Reihe von Experimenten zur Erforschung der gamantischen Hirnstruktur. Zunächst kümmern wir uns um die Bewohner kleiner, isolierter Dörfer und arbeiten uns dann zu den größeren Bevölkerungszentren vor – auf diese Weise wollen wir verhindern, daß die Gamanten flüchten und sich den Streitkräften anschließen.«
»Ich … ich kann kaum glauben, daß Baruch noch nicht mit Feuer und Schwert dort aufgetaucht ist. Er überläßt seine Leute doch nie sehr lange unserer Gnade.«
»Das wollte ich Ihnen gerade erzählen, Garold. Baruch müßte sich bereits auf der Hoyer hinter Schloß und Riegel befinden. Wir …«
»Wir haben Jeremiel Baruch gefangen? Unmöglich!«
Slothen erlaubte sich ein schiefes Lächeln. Sein blaues Haar wand sich und streichelte seinen Schädel. »Aber wir haben es getan. Wir haben mit einem Mann namens Ornias zusammengearbeitet, einem mächtigen Politiker auf Horeb. Er hat Baruch dorthin gelockt, indem er ihm erzählt hat, man brauche seine Hilfe, um den dort ausgebrochenen Bürgerkrieg zu beenden. Die Vorstellung, daß Gamanten Gamanten töten, hat ihn sofort herbeieilen lassen.«
»Krieg?« Silbersays Gesicht wurde blaß, die Augen weiteten sich vor Schreck. Schweiß perlte ihm über Stirn und Nase und klebte sein weißes Haar an die Schläfen. »Krieg! Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen? Lieber Gott, Sie haben doch nicht einen weiteren Feuersturm angeordnet, oder? Nein. O nein. Sie dürfen nicht noch mehr unschuldige Menschen töten!«
Slothen streckte beschwichtigend zwei seiner Hände aus. »Das ist schon in Ordnung, Garold. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Cole Tahn ist dafür zuständig. Sie haben nichts damit zu tun.«
»Was haben Sie GETAN? Sagen Sie es mir!« schrie Silbersay und machte drei schnelle Schritte vorwärts, das Gesicht völlig verzerrt. Slothen drückte auf den Knopf unter dem Schreibtisch, sprang dann auf und eilte zum Fenster hinüber. Seine sechs Beine wirbelten geradezu über den Boden. Zwei Wachen stürmten durch die Tür und zielten mit ihren Gewehren auf Silbersays Rücken.
Der Colonel fuhr herum und starrte wirr in die harten Augen der menschlichen Wachen. »Oh«, flüsterte er tonlos und fast weinend. »Armer Cole. Armer, armer Cole.«
»Garold«, sagte Slothen mit ruhiger Stimme, »Sie sind nicht ganz bei sich. Lassen Sie sich helfen. Die psychologischen Spezialisten auf Palaia sind die besten in der ganzen Galaxis. Wir …«
»Nein!« kreischte er. »Ich lasse meinen Verstand nicht von Ihren Sonden zerstören! Ich bin Bogomil entkommen, und ich werde auch Ihnen entfliehen!« Er stürmte auf die Wachen zu und drängte sich zwischen ihnen hindurch. Die überraschten Männer warfen Slothen einen fragenden Blick zu.
»Haltet ihn auf«, befahl der Magistrat. »Schwache Feuerkraft.«
Der dunkelhaarige Wachtposten verschwand auf dem Flur. Man hörte einen Schuß, dann das Geräusch eines Körpers, der dumpf gegen eine Wand stieß und dann zu Boden fiel.
»Er ist betäubt, Magistrat. Was nun?«
»Bringen Sie ihn zu Dr. Zirkin. Sagen Sie ihm, der Colonel sei ein Stabsoffizier und benötige eine spezielle Neuorientierung. Ich will, daß seine sämtlichen Erinnerungen bereinigt werden, angefangen bei dem Moment, als er zum ersten Mal darüber nachgedacht hat, dem Militär beizutreten.«
Die Miene des Wachtpostens verdüsterte sich; in seinen Augen glomm Furcht auf. Slothen entblößte seine nadelspitzen Zähne und lächelte bösartig. Der Posten eilte auf den Flur hinaus. »Jawohl, Sir«, sagte er und drückte auf den Knopf, der die Tür verschloß.
Sobald er wieder allein war, verschränkte Slothen die Finger ineinander, bis es schmerzte. »Jetzt habe ich meinen besten Spezialisten für die Gamanten verloren. Wo kann ich einen anderen finden? Vielleicht sollte ich einmal innerhalb der gamantischen Zivilisation Ausschau halten, jemanden suchen, der sich korrumpieren läßt, ihn mit ein wenig Macht ausstatten und ihn so gut wie möglich ausnutzen?« Das war ein Problem, über das er noch länger würde nachdenken müssen. Falls Silbersay mit seiner Vorhersage eines bevorstehenden Aufstandes recht haben sollte, mußte er schnell jemand finden. Schlimmer war allerdings, daß er in so einem Fall auch zu den anderen Magistraten Kontakt aufnehmen müßte, und das mochte sich als katastrophal erweisen. Seit Jahrhunderten war es nicht mehr nötig gewesen, die in ihren Grüften im Giclas-System Schlafenden zu stören.
Er holte tief Luft, ließ sich in seinen Sessel fallen und drückte auf den Knopf, der ihn mit dem Vorzimmer verband. »Topew?«
»Ja, Magistrat?«
»Schicken Sie eine Botschaft an Captain Brent Bogomil. Teilen Sie ihm mit, daß ich keineswegs erfreut bin. Ich erwarte ihn umgehend zur Berichterstattung.«
Topew zögerte einen Moment und erwiderte dann: »Ihre letzte Anweisung lautete, er solle sich nach Horeb begeben, um festzustellen, ob Tahn bei dem Feuersturm Unterstützung benötigt. Soll ich diesen Befehl widerrufen?«
»Ja. Tahn hat dergleichen schon oft genug erledigt. Ich bin sicher, er wird problemlos damit fertig.«