14. Tishri
Stauberfüllte Hitze lastete in den Straßen von Derow und verstärkte die Qualen.
Nachdem er anderthalb Tage gestanden hatte, schmerzte Pavels mißhandelter Rücken, als würden ihn Dämonen mit rotglühenden Spießen martern. Er reckte sich mühsam und blickte über die sonderbar stille Menschenmenge hinweg, die in der langen Straße zusammengedrängt war. Kinder hatten sich auf dem Pflaster ausgestreckt, die Köpfe im Schoß ihrer Mütter geborgen. Ein paar ältere Leute hatten sich im Schatten eines Baumes zusammengefunden. Doch niemand rührte sich, niemand sagte ein Wort – sie schienen nicht einmal zu atmen aus Angst, die Marines könnten sie hören und deshalb in Stücke reißen.
Dutzende von Schiffen hingen wie schwarze Käfer im stahlblauen Himmel über ihnen. Bewaffnete Wachen schritten an den Reihen der Eingeschlossenen entlang, die Gewehre drohend erhoben.
Pavel neigte den Kopf und schaute zu Yael hinab. Sie schlief zu seinen Füßen. Ihr junges Gesicht wirkte entspannt und unschuldig. Die warme Luft roch nach Gerste und frisch geerntetem Alfalfa. Pavel seufzte. An schönen Tagen wie diesen hatten Yael und er den Nachmittag üblicherweise damit verbracht, aus dem geöffneten Fenster zu schauen und sich dabei über alles zu unterhalten, was das Kind besonders interessierte: Katzen und Rinder, Farben und Gras.
»Wie geht’s dir?« erkundigte sich Großvater. Er saß mit hochgezogenen Knien neben Yael. Die Linien in seinem Gesicht wirkten verhärtet und haßerfüllt.
»Müde, aber sonst geht es. Wo ist Tante Sekan hingegangen?«
»Patlica Urbeikeit hat sie gebeten, herüberzukommen. Offenbar braucht sie Trost.«
Pavel nickte traurig. Sie litten alle darunter, daß Toca nicht mehr bei ihnen war.
»Und wie fühlst du dich, Großvater? Möchtest du etwas Wasser haben? An dem Rucksack hinter dir ist eine Feldflasche festgebunden.«
Jasper beugte sich hinüber, löste die Flasche und reichte sie Pavel.
Pavel setzte sich neben Yael. Seine Wirbelsäule schmerzte im Sitzen schlimmer als im Stehen oder Liegen. Er öffnete die Flasche, nahm einen tiefen Zug und gab sie Großvater zurück.
Auch Jasper trank einen Schluck. »Was mich betrifft, so geht es mir einigermaßen. Aber Wunder darf man natürlich nicht erwarten.«
»Was meinst du, was sie mit uns vorhaben?«
»Uns quälen, bevor sie uns umbringen. Du hast doch die Gerüchte über die Lager gehört, die sie auf Jumes eingerichtet haben, bevor sie den Planeten abfackelten. Ich vermute, hier werden sie es genauso halten.«
Seine Stimme klang ruhig; dennoch lief Pavel ein kalter Schauer über den Rücken. »Was haben wir denn getan, um so eine Strafe zu verdienen, Jasper?«
»Wir sind Gamanten, das reicht schon.«
»Aber wir sind doch alle Menschen! Ich begreife nicht, wie Menschen einander so etwas antun können.«
»Menschen haben sich immer gegenseitig verfolgt und gejagt. Offenbar gefällt ihnen das. Denk nur an Pleros von Antares. Die Geschichte ist voller Beispiele, wie man sich mit brutaler Gewalt der Opposition entledigt hat, indem man die Patrioten aufstachelte.«
Ein Tosen wurde laut. Es klang wie Brandung, die gegen Felsen schlägt. Pavel schaute hoch und sah, wie sich die schwarzen Schiffe in Bewegung setzten und hier und dort landeten. Die Menschen erhoben sich alarmiert.
»Jacoby!« brüllte der bösartige Sergeant. »Hierher! Du gehst mit dieser Gruppe.«
Pavel weckte Yael sanft auf. Er nahm sie auf den Arm, stand auf und bot dann Jasper seine Hand als Stütze an. Der alte Mann lehnte die Hilfe ab, rappelte sich ächzend auf und wischte sich die Hände an der Hose ab.
»Gehen wir jetzt, Daddy?« fragte Yael und legte Pavel die Arme um den Hals.
»Ich glaube schon, Kleines.«
»Wo gehen wir denn hin?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber hab keine Angst, es wird schon alles wieder gut.«
Tante Sekan kam angelaufen, als sie dem Sergeant folgten. Auf ihrem grünen Kleid konnte man Schweißflecken unter den Armen sehen.
»Jasper?« fragte sie völlig aufgelöst und mit weit aufgerissenen Augen. »Was geschieht jetzt?«
Jasper klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Wir gehen mit dieser Gruppe. Mehr wissen wir im Moment auch noch nicht.«
Sekan zerknüllte nervös ihr Taschentuch, als sie an der Menschenmenge entlanggeführt und zusammen mit etwa fünfzehn anderen auf ein Schiff zugetrieben wurden, das am Ende der Straße gelandet war. Soldaten mit Knüppeln standen davor, schlugen auf die Menschen ein und brüllten: »Beeilt euch gefälligst, ihr dreckiges Gamantenpack! Wir können nicht den ganzen Tag warten, bis ihr eure lahmen Ärsche in Bewegung setzt.«
Yael schloß die Augen und vergrub ihr Gesicht an Pavels Hals, als sie sich den Schiffstüren näherten. »Daddy?«
»Ist schon gut«, flüsterte Pavel beruhigend. »Gleich ist es vorbei.«
»Macht, daß ihr reinkommt! Aber plötzlich!«
Einer der Soldaten traf Jasper mit seinem Stock an der Schulter. Jasper hob die Arme, um sein Gesicht zu schützen, und rannte so schnell wie möglich die Laufplanke hinauf. Pavel packte Sekans Ärmel und zog sie in die Mitte der Gruppe, um ihr mehr Schutz vor den Schlägen zu bieten. Sie stieß einen leisen Schrei aus, kam aber mit.
Sie gelangten in einen großen ovalen Raum, in dem die Menschen dichtgedrängt standen. Es roch nach Schweiß und Angst. Irgendwo rezitierte jemand laut aus der Kedis. Pavel schloß sich ihm in Gedanken an und betete stumm, aber mit aller Inbrunst, die er aufbringen konnte. Hörst du uns, Gott?
Die Türen schlossen sich. Das Schiff hob ab und schoß in den Himmel hinauf. Pavel schaukelte Yael auf den Armen und sang ihr leise ein Schlaflied ins Ohr, doch statt zu schlafen, klammerte sie sich noch fester an ihn.
Pavel lächelte sie an, obwohl er lieber laut geschrien und um sich geschlagen hätte. Wo war sein Vater? Was würde aus ihrem Heim werden? Würden die Marines die Familien trennen, oder durften sie zusammenbleiben? Lieber Gott, laß nicht zu, daß sie uns trennen! Alles, nur das nicht. Wie lange würde diese Tortur noch dauern? Wo war Karyn? Tot? Oder hatte sie es bis zu ihren Freunden in der Untergrundbewegung geschafft und plante jetzt schon ihre Rettung?
Ja, natürlich, so mußte es sein. Hoffnung keimte in ihm auf. Sicher würden die Widerständler eingreifen, bevor die Marines ihnen etwas antun konnten. Baruch und seine Leute würden sie nicht den Magistraten überlassen, sondern so schnell wie möglich herkommen.
Eine Stunde lang raste die Landschaft von Tikkun unter ihnen vorbei, dann setzte das Schiff zur Landung an. Vor ihnen lag ein öder Streifen der yaguthischen Wüste, der im Licht der untergehenden Sonne korallenrot leuchtete. Felsige Hügelketten warfen lange, blauschwarze Schatten über den Sand.
Ein Mann drängte sich durch die Menge, flüsterte hier und dort mit den Menschen, oder redete gelegentlich auch mit einiger Schärfe auf sie ein. Er war klein und dünn und wirkte auf nicht genau bestimmbare Weise wie ein hungriges Wiesel. Pavels Magenmuskeln verkrampften sich, als er näherkam.
Die Stimme des Mannes klang rauh und heiser, als er sagte: »Sie haben aber ein nettes kleines Mädchen.«
»Danke.«
»Wenn Sie ins Lager kommen – dann ist das ein Junge. Verstehen Sie?«
»Nein.« Pavel schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie ist doch …«
»Seien Sie kein Narr! Sie ist ein Junge und unter zwölf.«
»Aber … das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollten wir …«
Pavel verstummte, als Jaspers Hand sich auf seinen Arm legte. Er wandte sich um und sah Großvater fragend an. Das Gesicht des alten Mannes trug den Ausdruck tiefen Kummers.
»Wir haben verstanden«, sagte Jasper leise. »Danke, daß Sie uns darauf hingewiesen haben.«
Der Mann nickte, warf Sekan einen bekümmerten Blick zu, schüttelte den Kopf und eilte dann weiter, um andere Eltern mit kleinen Kindern zu suchen.
Pavel runzelte die Stirn. Welche Bedeutung konnten Geschlecht und Alter eines Kindes schon haben in einem … Arbeits … Lager … Langsam begriff Pavel. »O nein.« Er zog seine Tochter enger an sich.
»Was hat er damit gemeint?« fragte Sekan verwirrt. Ihr rotes Haar hing aufgelöst und in Strähnen herab. »Jasper?«
»Schnell«, sagte Großvater und holte seinen Schlüsselring heraus, an dem eine kleine Schere befestigt war. »Wir müssen Yaels Haar schneiden. Wenn sie wie ein Junge aussieht, wird sie vielleicht nicht genau untersucht.«
»Ja, du hast recht.« Pavel setzte Yael auf den Boden und strich ihr die braunen Locken aus dem Gesicht.
»Jasper …?«
»Pst, Sekan. Wir sprechen später darüber.«
Yael schaute zu Pavel hoch, als wäre das Ende der Welt gekommen. Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen. Natürlich war ihr die Angst in seiner Stimme nicht entgangen. Er zwang sich zu einem Lächeln und streichelte ihr die Wange.
»Keine Sorge, Liebes. Es gibt nichts, wovor du Angst haben müßtest.«
»Willst du mein Haar abschneiden?« fragte sie und tastete nach ihren Locken, während ihr Tränen aus den Augen liefen.
»Ja, aber es wird ganz schnell nachwachsen, und dann bist du wieder so hübsch wie früher. Kannst du so tun, als wärst du ein Junge? Du mußt dann aber viel gemeiner sein als jetzt.«
»Du schimpfst doch immer mit mir, wenn ich gemein bin.«
»Diesmal nicht. Großvater, gibst du mir die Schere?«
Jasper reichte sie ihm, und Pavel schnitt rasch die Haare des Mädchens ab. Als er fertig war, begutachtete er sein Werk.
»Du bist immer noch hübsch«, meinte er. »Aber jetzt siehst du fast wie Karyn aus.«
Yaels Augen strahlten plötzlich, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Vielen Dank, Daddy.«
»Wirst du auch daran denken, daß du sagen mußt, du bist zehn Jahre alt, nicht zwölf?«
»Ich bin zehn.«
»Und du bist ein Junge, vergiß das nicht.«
»Zehn und ein Junge. Ist klar.«
»Das ist meine kluge Tochter.« Pavel zog sie an sich. »Klug und hübsch.«
Yael kicherte, doch noch immer schimmerten Tränen in ihren Augen.
»Mach dir keine Sorgen, Kleines. Ich passe schon auf dich auf.«
Das Schiff setzte mit einem leichten Rucken auf. Die Türen öffneten sich, und draußen rief ein Mann: »Beeilung! Alles rauskommen!«
Die Menschen strömten aus dem Schiff hinaus ins Freie. Pavel schaute sich um und betrachtete die Felsketten, die sie wie eine Gefängnismauer umgaben. Überall stolperten verängstigte und erschöpfte Menschen durch den Sand. Konnte es tatsächlich sein, daß all das hier wirklich geschah?
Rund hundert Soldaten nahmen die Ankömmlinge mit feindseligen Mienen in Empfang. Weiter hinten erhob sich ein großes Gebäude, das von einem Photonenzaun umgeben war. In der Nähe stand eine Reihe von Schiffen, in deren Schatten weitere Soldaten lagerten.
Pavel fuhr herum, als hinter ihm jemand aufschrie. Ein Soldat rammte einer Frau den Kolben seines Gewehrs gegen die Kiefer. Die Frau stürzte zu Boden, während ihr das Blut aus dem Mund schoß.
Die Menschen drängten eilig weiter und rissen Pavel mit. Er packte Yaels Hand fester, um sie nicht zu verlieren. Gemeinsam schritten sie durch das Tor in den umzäunten Bereich.
»Heiliger Himmel«, flüsterte Großvater neben ihm. »Was ist das nur für ein Ort?«
Von innen gesehen wirkte der Photonenschild wie eine unendlich hohe, goldene Mauer, die im Licht der untergehenden Sonne funkelte. Die Gebäude, die hier standen, bildeten einen mächtigen, quadratischen Komplex. Doch sonderbarerweise zeigten sich in den Wänden weder Türen noch Fenster.
»Aufgepaßt, Gamanten!« brüllte jemand weiter vorn. »Achtung!«
Pavel stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge hinwegsehen zu können. Ein großer, würdevoll aussehender Mann stand auf einem Podest. Er hatte hellbraunes Haar, einen herabhängenden Schnurrbart und trug eine leuchtend rote Uniform.
»Willkommen in Block 10«, rief er und lächelte zufrieden. »Ich bin Major Lichtner. Sie alle sind politische Gefangene, Unruhestifter, von den Galaktischen Magistraten als gefährlich eingestuft. Aus diesem Grund sind Sie hier. Ihr einziger Nutzen für die Regierung besteht darin, daß wir durch Sie Aufschlüsse über die gamantische Denkweise erhalten können. Die Magistraten möchten genau erforschen, wie Ihr Gehirn diese zerstörerischen Verhaltensmuster entwickelt. Als Ergebnis …«
Pavels Knie gaben nach, und Großvater mußte ihn stützen.
Sekan blickte furchtsam zwischen Pavel und Jasper hin und her. »Was … was bedeutet das?«
»Es bedeutet, daß Toca vielleicht mehr Glück gehabt hat als wir anderen«, flüsterte Jasper.
»Bewegung«, rief einer der Wachtposten und stieß die Menschen mit dem Gewehrlauf an. »Los! Weitergehen!«
Sie passierten eine Reihe großer, transparenter Behälter. Zuerst konnte niemand erkennen, was sie enthielten, doch dann ging ein Stöhnen durch die Menge. Tausende von Kindern drängten sich im Innern der Container gegen die Wände und starrten mit toten Augen hinaus.
Alle waren ungefähr zehn Jahre alt. Oder zwölf?
Pavel blieb wie angewurzelt stehen und konnte den Blick nicht abwenden. Schieres Grauen überkam ihn.