KAPITEL
47
Tahns Stiefel sanken tief im rötlichen Sand ein, als er das Shuttle verließ. Baruch hielt sich dicht an seiner Seite.
»Es geht los«, murmelte Tahn, als sieben Soldaten in purpurnen Uniformen neben dem Schiff Aufstellung nahmen.
»Captain Tahn?« fragte der dünne, kahlköpfige Mann in der Mitte der Gruppe. »Ich bin Jaron Manstein.«
Tahn schüttelte ihm die Hand. »Guten Tag, Sergeant. Darf ich Ihnen Lieutenant Barcus vorstellen?«
»Freut mich, Sie kennnenzulernen«, sagte Baruch mit überraschend freundlicher Stimme.
»Ganz meinerseits, Lieutenant«, erwiderte Manstein. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Major Lichtner erwartet Sie in seinem Büro.«
»Danke, Manstein. Gehen Sie bitte voraus.«
Tahn war von der Größe der Anlage überrascht. Aus der Höhe hatte das Lager wesentlich kleiner gewirkt. Seine Augen verengten sich, als sie das Hauptportal passierten.
Mächtige graue, fensterlose Gebäude umgaben einen großen Innenhof. Von irgendwoher erklang rauhes Gelächter – trunkenes Gelächter, wie Tahn vermutete. Und noch ein anderes Geräusch war zu vernehmen: das unterdrückte Weinen eines Kindes. Er warf einen Blick auf Baruch. Der Commander hielt sich militärisch gerade, aber er hatte offensichtlich das Weinen auch gehört, denn seine Augen suchten intensiv die Umgebung ab.
»Wie war Ihre Reise, Captain?« erkundigte sich Manstein.
»Oh, wenig ereignisreich. Sie wissen ja, wie langweilig so ein Lichtsprung ist. Die Mannschaft hat sich die ganze Zeit wegen des überfälligen Urlaubs beklagt.«
»Nun, zumindest müßte sie doch Baruchs Gefangennahme ein wenig aufmuntern. Hier haben wir überhaupt keine Ablenkung. Es ist jeden Tag dasselbe. Wir führen die dreckigen Gamanten von einem Experiment zum nächsten und können kaum richtig atmen, weil sie so stinken.«
Tahn gab keine Antwort.
Schließlich bog Manstein rechts ab und führte sie einen schmalen Weg entlang zu einem schwarzen Tor. Manstein hob die Hand und legte sie auf eine graue Fläche neben dem Eingang. Nichts geschah. Der Sergeant stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Entschuldigen Sie, Barcus, könnten Sie mir wohl behilflich sein?«
Baruch zögerte, als rechne er mit einer Falle, doch da die Soldaten ihn beobachteten, antwortete er: »Natürlich«, und legte seine Hand neben die des Sergeants.
Die Tür öffnete sich, und sie gelangten in einen kleinen, mit Blumentöpfen geschmückten Innenhof. Manstein führte sie zu einem Eingang auf der gegenüberliegenden Seite und drückte auf den Knopf der Türsprechanlage. »Corporal Uman? Hier ist Manstein. Geben Sie bitte Major Lichtner Bescheid, daß wir da sind.«
Die Tür öffnete sich, und sie betraten einen großen, prächtig ausgestatteten Raum. Von der Decke hing ein Kronleuchter aus Kristallglas herab, und der Boden wurde von einem riesigen, jadefarbenen Teppich bedeckt. An den Wänden reihten sich auserlesene Möbelstücke von unschätzbarem Wert.
»Captain«, rief eine vertraute, widerlich schleimige Stimme. »Willkommen in Block zehn.«
Tahn wandte sich um und sah Lichtner, der die Treppe herabschritt. Auf seiner Brust glänzten Dutzende von Orden. Offenbar hatte er jede Auszeichnung angelegt, die er je bekommen – oder, was wahrscheinlicher war, gekauft hatte.
Tahn neigte den Kopf. »Major. Sie sehen gut aus.«
Lichtner kam leicht schwankend auf sie zu. Als er nahe genug herangekommen war, roch Tahn den Wein in seinem Atem.
Lichtner streckte eine manikürte Hand aus. »Das kann man von Ihnen leider nicht behaupten, Captain. Die sehen aus, als hätten Sie anstrengende Tage hinter sich.«
»Tja, wir jagen seit über einem Jahr hinter den Gamanten her. Auf die Dauer hinterläßt das auch bei den Besten seine Spuren.«
Lichtner lachte. »Trinken wir ein Glas Wein, bevor wir mit dem Rundgang beginnen, Captain.«
»Ich würde einen Whiskey vorziehen, falls das möglich ist.«
»Selbstverständlich. Und Ihr Sicherheitsoffizier?«
»Oh, entschuldigen Sie bitte. Major Lichtner, das ist Lieutenant Barcus.«
Baruch trat einen Schritt vor. »Major, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ich nehme ebenfalls einen Whiskey.«
Lichtner lächelte mechanisch, doch sein Blick ruhte forschend auf Baruchs Gesichtszügen. Ihm entging auch nicht die Pistole an Baruchs Hüfte, ebensowenig der Umstand, daß Tahn unbewaffnet war.
Tahn versteifte sich innerlich. Hatte Lichtner einen Hinweis bekommen? Vielleicht von Bogomil?
»Folgen Sie mir bitte«, sagte Lichtner.
Sie gingen zu einem Barschrank hinüber. Lichtner holte eine Flasche und zwei Gläser heraus, füllte sie und reichte sie den beiden Männer.
Tahn nippte an seinem Whiskey und meinte dann: »Erzählen Sie uns von Block zehn. Soweit ich weiß, handelt es sich dabei um ein neurophysiologisches Forschungszentrum, nicht wahr?«
»Hauptsächlich«, stimmte Lichtner zu. »Aber bitte, nehmen Sie doch Platz. Wir haben noch etwa zwanzig Minuten Zeit, bevor wir uns auf den Weg machen. Heute bekommen wir eine neue Gruppe von Studienobjekten und entledigen uns gleichzeitig einer alten. Ich bin sicher, Sie werden die Effizienz beider Aktionen zu schätzen wissen.«
»Hört sich interessant an«, erwiderte Tahn. »Ich glaube, Barcus und ich würden es durchaus begrüßen, wenn wir uns zunächst ein wenig unterhalten könnten.«
»Manstein«, rief Lichtner und wedelte mit der Hand, als würde er Fliegen verscheuchen. »Warten Sie bitte mit Ihren Männern draußen. Wir kommen gleich nach.«
»Jawohl, Sir.« Der Sergeant und seine Leute zogen sich zurück.
»Nun, Lichtner«, fragte Tahn, »welche Art von Experimenten führen Sie hier durch?«
»Oh, ganz verschiedene. Viele befassen sich mit Gehirnstrukturen oder mit dem limbischen System, was immer das auch sein mag. Sie wissen ja, wie das ist, Captain. Die Wissenschaftler beschäftigen sich mit ihren Experimenten, und wir müssen uns um die wichtigen Dinge kümmern.«
Tahn nickte verständnisvoll. »Natürlich. Wissenschaftler – und Politiker, möchte ich hinzufügen – sehen nur selten das Gesamtbild.«
»Und die Magistraten üben großen Druck aus. Praktisch jeden Tag bekommen wir neue Anweisungen.«
»Die Magistraten üben immer großen Druck aus, Major.«
»Das ist richtig. Aber allzuoft geht es dabei um triviale Dinge.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen.«
Lichtner hob sein Glas. »Nun, mir scheint, wir kommen heute abend besser miteinander aus, Captain, als bei unserer letzten Begegnung.«
Tahn nickte und meinte: »Auf Silmar ging es ein wenig hektisch zu.«
»Hektisch? Ich hätte Anklage gegen Sie erheben sollen. Um ehrlich zu sein, habe ich das auch ernsthaft erwogen.«
»Tja, ich weiß das durchaus zu schätzen …«
»Es wäre letztlich auch nicht sehr sinnvoll gewesen. Immerhin hatte ich keinen Zeugen.«
»Nun, wie dem auch sei, ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Zurückhaltung. Ich stand an jenem Tag unter erheblicher Anspannung. Wenn ich Sie beleidigt haben sollte, entschuldige ich mich dafür.«
Lichtner lachte leise. »Sie haben sich damals sehr unprofessionell verhalten, Tahn. Pleroma war nichts als eine gamantische Hure. Nur weil Sie mit meinen Methoden nicht einverstanden waren …«
»Wie ich schon sagte: Ich entschuldige mich für mein Verhalten, das unverzeihlich war.« Tahn warf einen raschen Blick auf Baruch. Der Commander saß regungslos da, nur seine Nasenflügel waren gebläht.
»Unverzeihlich, in der Tat. Ich hätte wirklich Anklage erheben sollen. Sie hätten vor ein Kriegsgericht gehört, weil Sie einen vorgesetzten Offizier geschlagen haben.«
Tahn beugte sich über den Tisch. »Hören Sie, Lichtner, es wäre mir lieber, wenn wir das Thema wechseln könnten. Was geschehen ist, ist geschehen …«
»Sie waren nie wirklich professionell, Captain«, erklärte Lichtner, »sonst hätten Sie meine Vorgehensweise an jenem Tag verstanden. Gamanten sind viel zu primitiv, um auf zivilisierte Methoden zu reagieren. Man muß sie wie Tiere behandeln, die sie ja auch sind. Davon abgesehen war Syene Pleroma wirklich recht feurig, obwohl ihre Schreie zu Anfang ein wenig störend wirkten. Sie hätten damals mit mir zusammenarbeiten sollen, Captain. Ich habe mich viermal mit ihr vergnügt, bevor ich sie meinen Männern überlassen habe, und mit Sicherheit hätte ich auch Ihnen gestattet …«
»Verdammt!« rief Tahn und sprang auf. »Ich will nicht darüber reden, Lichtner!«
Die Augen des Majors verengten sich. »Sie sind schwach, Tahn. Ihre lächerlichen Moralvorstellungen stehen Ihnen im Weg.«
Tahn packte sein Glas und leerte es mit einer Bewegung auf den Boden. Dann beugte er sich vor und starrte Lichtner genau ins Gesicht. »Wissen Sie, was geschehen wäre, wenn ich einen vollständigen Bericht über die Ereignisse jenes Tages abgeliefert hätte, Lichtner? Sie haben jede einzelne Regel der Ethischen Direktive verletzt. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich diesen Bericht jetzt nachreiche? Immerhin kann ich fünf Offiziere als Zeugen vorweisen.«
Lichtner trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. »Drohungen verbessern unser Verhältnis nicht. Vielleicht ist es besser, wenn wir beide Silmar vergessen.«
Tahn lehnte sich zurück und stieß dem Atem aus. »Ja, vielleicht.«
Lichtner warf einen Blick auf die Uhr. »Tja, wir sollten jetzt aufbrechen. Es gibt da ein paar Dinge, die ich Ihnen gern zeigen möchte. Wir erledigen die Schmutzarbeit immer morgens, bevor unsere Wissenschaftler ans Werk gehen.«
»In Ordnung«, erklärte Tahn. »Ich möchte endlich sehen, was hier in Block zehn wirklich gemacht wird.«
Sie gingen nach draußen, wo sich ihnen Manstein und seine Männer anschlossen. Unterwegs murmelte Baruch Tahn leise zu. »Eines Tages möchte ich mich mal mit Ihnen darüber unterhalten, was Sie auf Silmar getan haben. Sieht so aus, als würde ich Ihnen etwas schulden …«
»Vergessen Sie’s. Ich habe es nicht für Sie getan.«
Als sie den großen Platz überquerten, hörte Tahn wieder das rauhe Gelächter von Männern und das Schluchzen eines Mädchens.
Sie bogen um eine Ecke und Tahn blieb wie angewurzelt stehen. Lichtner und die Wachen hingegen schlenderten weiter, als würden sie nichts Ungewöhnliches bemerken. Fünf nackte Männer standen in der Gasse und umringten ein Mädchen von höchstens zwölf Jahren. Ihre Brüste hatten gerade erst zu sprießen begonnen, doch auf ihren Schenkeln waren weiße Samenspuren zu sehen.
»Was, zum Teufel, geht hier vor?« knurrte Tahn und ballte die Fäuste.
Einer der Männer grinste ihn schief an und erklärte: »Wir führen gerade ein Experiment zur Überprüfung gamantischer Fruchtbarkeit durch. Wollen Sie mithelfen? Hier, versuchen Sie Ihr Glück.« Er stieß das Kind in Tahns Richtung.
Cole fing das Mädchen auf. Sie blickte flehend zu ihm hoch.
Hinter sich hörte Tahn Baruch mit ruhiger Stimme sagen: »Captain, wir müssen sehen, was Major Lichtner für wichtig hält. Captain … gehen Sie weiter.«
Einen Augenblick später packte Baruch Tahns Arm und zog ihn mit sich. Tahn war wie betäubt. Er ließ das Mädchen los und ließ sich von Baruch weiterführen. Hinter ihnen setzte das Gelächter wieder ein.
»Ich kann es einfach nicht glauben …«, begann Tahn.
»Das können Sie nicht?« flüsterte Baruch. »Auf Jumes haben die Magistraten etwas ganz Ähnliches gemacht, bevor Sie den Planeten abfackelten.«
Tahn blieb stehen und riß sich in plötzlicher Wut los. »Erzählen Sie nicht so einen Blödsinn! Ich weiß …«
»Tatsächlich? Haben Sie die Geheimdienstberichte gelesen? Vielleicht sollten wir sie uns gemeinsam ansehen, wenn wir wieder auf der Hoyer sind. Dann sprechen die Tatsachen für sich.«
Tahn schluckte schwer. Konnte das wahr sein? Er hatte die geheimen Dokumente nicht überprüft. Hatten die Magistraten tatsächlich ähnliche Programme auf Jumes durchgeführt? Und hatte die Bevölkerung deswegen rebelliert? Und er …
Obwohl sein ganzer Körper rebellierte, riß er sich zusammen und beschleunigte seinen Schritt, um Lichtner einzuholen. Baruch folgte ihm auf dem Fuß.
Sie bogen um eine Ecke und befanden sich jetzt zwischen den Gebäuden und der Grenze des Geländes, das durch den Photonenschild markiert wurde. Ein Stück weiter stand eine Reihe von Menschen vor einer Grube. Alle waren nackt, sahen halbverhungert aus und hatten die Hände auf den Rücken gefesselt. Alte Frauen, junge Frauen und kleine Mädchen. Ihnen gegenüber stand eine Reihe von Soldaten mit angelegten Gewehren.
Tahn drängte sich durch die Wachen und packte den Major am Arm. »Was geht hier vor?«
Lichtner lächelte maliziös. »Routinemäßige Eliminierung unbrauchbarer Subjekte, Captain. Die Wissenschaftler sind mit ihnen fertig, und wir kümmern uns um die ordnungsgemäße Beseitigung.«
»Beseitigung?«
»Natürlich. Sie sind zu nichts mehr nütze. Kommen Sie schon, Captain. Es sind doch nur Gamanten. Sie wissen doch selbst, daß das Untermenschen sind. Dies beweisen unsere Experimente ganz eindeutig. Warten Sie nur, bis Sie die Berichte gelesen …«
Das schrille Heulen der Gewehre ließ Tahn herumfahren. Violette Strahlen durchbohrten die Frauen und Kinder.
»Ich habe die Männer angewiesen, lediglich zwei Schuß pro Opfer abzugeben. Natürlich weiß ich, daß die magistratischen Anweisungen fünf Schuß verlangen, aber es wäre doch sinnlos, unsere Energie an Gamanten zu verschwenden.«
Die Soldaten schossen unerbittlich in die Menge, bis Lichtner plötzlich aufheulte. »Stop! Aufhören! Das sind zu viele Schüsse. Zwei, habe ich gesagt! Nur zwei! Aufhören!«
Die Soldaten stellten das Feuer ein, und Lichtner eilte zu ihnen, um ihnen seine Mißbilligung deutlich zu machen. Unterdessen machten sich andere Männer mit schweren Maschinen daran, die Leichen in den Graben zu schieben.
Baruch trat hinter Tahn und sagte leise: »Captain, wir wollen uns auch den Rest der Anlage ansehen. Teilen Sie das Lichtner mit.«
Tahn schüttelte erschüttert den Kopf. »Nein. Nein, das kann ich nicht …«
»Doch, Sie können. Wir müssen alles erfahren. Also gehen Sie!«
Tahn schluckte schwer und schaute Baruch verzweifelt an. Wie konnte der Commander das alles nur so ruhig hinnehmen? Das hier waren doch seine Leute, die sinnlos abgeschlachtet wurden. Doch dann kam Tahn der Gedanke, daß Baruch vielleicht deshalb so ungerührt wirkte, weil er derartige Szenen schon oft gesehen hatte, weil er gelernt hatte, sich vor dem Grauen abzuschotten, um nicht den Verstand zu verlieren.
Er wandte sich an Lichtner und sagte kühl: »Major, wir haben nur wenig Zeit, deshalb würden wir jetzt gern die wissenschaftlichen Einrichtungen besichtigen.«
»Selbstverständlich, Captain. Allerdings sind sie nicht annähernd so unterhaltsam wie das hier.« Lichtner machte auf dem Absatz kehrt, winkte seinen Männern, ihm zu folgen, und ging auf ein weiter entfernt liegendes Gebäude zu.
Vor dem Bauwerk drängten sich etwa fünfzig Männer und Jungen, umringt von Soldaten, die sie antrieben und beschimpften.
Lichtner wandte sich zu Tahn um und erläuterte kurz: »Das sind neue Untersuchungsobjekte. Wir haben sie heute erst aus Derow eingeflogen.«
Sie gingen an der Gruppe vorbei und betraten ein dahinter liegendes Gebäude.
»Wir kommen jetzt zu den medizinischen Abteilungen«, erklärte Lichtner. »Hier geht es in erster Linie um Gehirnforschung, wovon ich ehrlich gesagt kaum etwas verstehe. Wenn Sie genauere Informationen haben wollen, müssen Sie mit einem der Mediziner sprechen, deren Dienst in etwa zwei Stunden beginnt. Wenn Sie möchten, sorge ich dafür, daß einer dieser Männer Sie herumführt.«
»Ja, tun Sie das«, erwiderte Tahn. »Ich möchte mit jemandem sprechen, der etwas von der Sache versteht.«
Lichtner preßte verärgert die Lippen zusammen. Die Wachen eilten voraus und öffneten eine weitere Tür. Der Gestank von Schweiß und Urin schlug ihnen entgegen.
Der Major schritt rasch aus, als wollte er die Führung möglichst rasch hinter sich bringen. Sie gingen einen langen Korridor entlang und betraten dann einen großen Raum.
Tahns Schritt stockte, als er die längs der Wände aufgereihten Käfige sah, in denen Menschen hockten, deren Gesichter von unsäglichen Qualen gezeichnet waren.
Baruch drängte sich an ihm vorbei und fragte mit gleichmütiger Stimme: »Major, wissen Sie, welche Art von Operationen hier durchgeführt werden?«
»Oh, wenn ich mich recht entsinne, werden hier Eingriffe an den vorderen Gehirnlappen durchgeführt, was zu Veränderungen in der Wahrnehmungsweise führen soll. Aber so genau kenne ich mich da auch nicht aus.«
»Und zu welchen Schlußfolgerungen führen diese Operationen?«
Lichtner ging weiter und antwortete über die Schulter: »Offenbar verfügen Gamanten über ein spezielles Wahrnehmungssystem, das sie zu aggressivem Verhalten zwingt. War Ihnen bekannt, Lieutenant, daß der Gedanke an Frieden irrationale Ängste in ihnen weckt? Das ist der Grund, weshalb sie immerzu kämpfen. Und wenn sie nicht gerade uns die Kehlen durchschneiden, fallen sie übereinander her.«
Sie bogen um eine Ecke und kamen zu einer weiteren Reihe von Käfigen. Tahn stockte der Atem. In einem der Käfige lag eine Frau mit langem blondem Haar, das wie ein Schleier über ihr Gesicht und den nackten Körper herabfiel. Blut rann aus dem Käfig und tropfte auf den Boden.
»Cole? Oh, Cole … verzeih mir …«
Gewehrfeuer klang auf und der Himmel verfärbte sich gelb. Tahns Seele stieß einen langen, lautlosen Schrei aus.
Tahn fuhr herum. In der Ferne erhoben sich die Trümmer der Kathedrale. »O Gott, Williston«, flüsterte er, »sie kommen rasch näher. Wir müssen hier verschwinden. Lauf!«
Williston packte seinen Arm. »Tahn? Alles in Ordnung?«
»Daryl! Verschwinde hier. Das ist ein Befehl! Hau endlich ab!«
Er kämpfte gegen Hände, die ihn festhalten wollten. Kanonendonner zerriß die Luft. Tahn packte Williston, zerrte ihn mit sich und versuchte, dem Freund mit seinem eigenen Körper Deckung zu geben.
Eine Explosion überschüttete sie mit Erde. Williston schob sich unter Tahn hervor. Seine Augen waren ungläubig aufgerissen.
Tahn schrie auf, hieb mit der Faust gegen Daryls Schulter und kroch weiter. Einen Augenblick später packte Williston seinen Arm und zerrte ihn zur Seite. Sie rangen miteinander und rollten über den Boden. Tahn bekam Willistons Pistole zu packen, riß sie aus dem Holster und richtete sie auf die pegasianischen Angreifer. Williston schlug ihm die Waffe aus der Hand.
»Verdammt, Daryl, siehst du nicht, daß sie uns umbringen wollen? Lauf!«
»Tahn, hören Sie zu.« Daryls Stimme klang plötzlich sanft und ruhig, als gehöre sie einem anderen. Der feste Griff um seine Arme lockerte sich. »Sie sind nicht auf der Erde. Sie sind auf Tikkun. Wir schreiben das Jahr 5414. Haben Sie gehört? 5414!«
Tahn schüttelte den Kopf. Er hörte die Worte, aber er begriff sie nicht.
»Tahn«, sagte Daryl sanft. »Es ist alles in Ordnung. Verstehen Sie? Sie sind nicht mehr auf der Erde.«
Cole blieb still liegen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Baruch …«, flüsterte er. »Was … ist passiert?«
»Baruch?« Lichtners Stimme drang scharf durch den Nebel.
Schüsse dröhnten auf. Tahn sah, wie Baruch fortrannte und sich den Weg freizukämpfen versuchte, doch ein Schuß aus Mansteins Gewehr traf ihn an der Schulter und schleuderte ihn zu Boden. Sofort umringten ihn vier Soldaten und richteten ihre Waffen auf ihn.
»Bringt ihn zu den Gehirnsonden«, befahl Lichtner.
»Nein!« brüllte Baruch. »Tahn! Verbieten Sie es ihnen!«
Die Soldaten zerrten ihn aus dem Raum. Lichtner schlenderte zu Tahn hinüber und lächelte spöttisch. »Nun, anscheinend waren Sie nicht in der Lage, Baruch zu fangen, Captain. Ich hingegen schon. Ich hatte schon vorher einen Verdacht, um wen es sich da handelte.«
Tahn erhob sich mit zitternden Knien. »Keine Gehirnsonden«, befahl er mit soviel Nachdruck, wie es ihm möglich war. »Haben Sie verstanden, Major? Keine Sonden!«
Lichtner versteifte sich. »In Ordnung. Keine Sonden. Und jetzt verschwinden Sie auf Ihr Schiff, Tahn. Ich bin für Block zehn verantwortlich.«
Lichtner verließ den Raum. Tahn stemmte die Hände in die Hüften und schnappte nach Luft. Warum hatte Baruch ihn nicht getötet? Hätte er seine Waffe im richtigen Moment gezogen, hätte er alle Soldaten im Raum töten und unverletzt fliehen können. Warum hatte er es nicht getan?
Zitternd wankte Tahn zur Tür und vermied dabei jeden Blick auf die Käfige. Draußen stützte er sich gegen die Wand und übergab sich.
Schließlich zwang er sich, weiterzugehen und zu seinem Schiff zurückzukehren.