KAPITEL
43
Rachel schob ihren Becher auf der Tischplatte hin und her, ohne zu bemerken, daß Harper und Janowitz sie schweigend beobachteten. Sie hatten gerade den Lichtsprung beendet, und jetzt drehte sich Tikkun langsam unter ihnen. Jeremiel hatte ihre Ruheperiode unterbrochen und sie in das Konferenzzimmer beordert. Es war noch sehr früh am Morgen, und keiner von ihnen wirkte besonders munter.
Die Tür öffnete sich, und Jeremiel betrat den Raum. Er trug die rotgraue Uniform eines Sicherheitsoffiziers der Hoyer. Sein Gesicht wirkte erschöpft und übermüdet, als hätte er die ganze Nacht keine Sekunde geschlafen.
Instinktiv wanderte Rachels Blick zu seiner Brust, wo sich eine kleine Erhebung abzeichnete. Also trug er jetzt das Mea? Aber er hatte noch nicht versucht, es zu benutzen, oder? Wieder und wieder hatte sie nach Aktariel gerufen, doch er war nicht zu ihr gekommen, und jetzt fragte sie sich, ob das Mea ihm vielleicht die einzige Möglichkeit geboten hatte, sie zu erreichen. Hatte er ihr deshalb befohlen, Jeremiel das geheiligte Tor zu geben? Hatte er es bei ihr aufgegeben und suchte jetzt nach einem anderen Opfer?
Jeremiel betrachtete stumm das rotierende Holo von Tikkun über dem Tisch. »Tut mir leid, daß ich euch alle aus dem Schlaf reißen mußte, aber ich habe mich zu einer grundlegenden Änderung unserer Vorgehensweise entschlossen. Der alte Plan A gilt nicht mehr.«
Rachel zuckte zusammen. Harper und Janowitz blickten sich unbehaglich an.
»Aber Jeremiel …« Avel zog ungläubig die Augenbrauen hoch. »Das verstehe ich nicht. Wir haben doch unsere gesamte Organisation nach diesem Plan ausgerichtet. Ist es wirklich ratsam, in letzter Sekunde alles umzustoßen?«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ich habe Informationen erhalten, die zwingend erforderlich machen, unsere Strategie zu ändern.«
»Was für Informationen?«
Jeremiel warf einen kurzen Blick auf Rachel, und sie spannte sich innerlich. Das Mea?
»Offensichtlich haben die Magistraten weit mehr Kreuzer nach Tikkun entsandt, als wir ursprünglich angenommen hatten.«
Janowitz erbleichte. »Mehr als nur die Jataka? Wie viele mehr?«
»Mindestens vier.«
»Aber wir sind doch trotzdem eine Woche früher da, nicht wahr? Können wir die Flüchtlinge nicht dennoch …«
»Wir wissen nicht genau, wo die Kreuzer sich aufhalten. Ich habe die Langstreckenscanner auf Navigationssignale hin überprüft und nichts festgestellt. Trotzdem müssen wir davon ausgehen, daß sie hier auftauchen, bevor wir bereit sind. Anders ausgedrückt, wir müssen das Gefahrenpotential an Bord des Schiffes neutralisieren, die Flüchtlinge absetzen und beten, daß wir hier verschwinden können, bevor die Kreuzer uns festnageln.«
»Lieber Himmel«, murmelte Harper, »wie sollen wir das schaffen?«
Jeremiel senkte den Kopf. Als er wieder aufschaute, sah er Rachel an, doch sein Blick schien durch sie hindurchzugehen.
Zweifel quälten Rachel. Aktariel war der Betrüger. Was war, wenn er sie angelogen hatte? Wenn diese Schiffe gar nicht unterwegs waren? Hatte er das vielleicht nur behauptet, um Jeremiel auf diese Weise in eine bestimmte Richtung zu lenken? Und was wartete letztlich auf ihn?
»Also schön, Jeremiel«, murmelte sie. »Was sollen wir tun?«
Jeremiel hob die Hand und deutete auf eine dichtbewaldete Region des nordammanischen Kontinents. »Diese undurchdringlichen Wälder sind unser neues Zielgebiet. Janowitz, machen Sie unsere Piloten mit den Gegebenheiten vertraut. Avel, Sie sorgen dafür, daß unsere zehn besten Sicherheitsteams in einer halben Stunde vor dem Maschinenraum bereitstehen.«
Jeremiel beugte sich vor und tippte einen Steuerbefehl in die Tastatur des Holo-Projektors. Tikkun verschwand und wurde durch ein Schnittbild der Hoyer ersetzt. »Das ist Deck sieben. Ich habe einen genauen Zeitplan für die Ausschaltung bestimmter Gruppen ausgearbeitet. Die Anführer werden schon vorher festgenommen und von ihren Leuten getrennt. Anschließend führen unsere Sicherheitstrupps die betreffenden Gruppen zu verschiedenen Hangars.«
Jeremiel ließ seinen Blick eindringlich vom einen zum anderen wandern. »Geben Sie Ihren Teams klare Anweisungen, daß sie beim geringsten Anzeichen von Widerstand sofort schießen sollen. Wir können nicht riskieren, daß jemand flüchtet und seine Kameraden informiert. Wenn alles wie geplant abläuft, ist die gesamte Aktion binnen einer Stunde beendet und wir können uns um die Flüchtlinge kümmern.«
Baruch rieb sich kurz über das Gesicht. »Chris, wir treffen uns in fünfzehn Minuten in Hangar zwanzig-zwölf. Und wir, Avel, sehen uns in fünfundzwanzig Minuten vor dem Maschinenraum. Je weniger Zeit wir haben, uns Sorgen zu machen, desto besser.« Er holte tief Luft. »Noch eine letzte Sache. Falls es zum Schlimmsten kommt und ich tot bin oder vermißt werde, während sich die Kreuzer nähern, möchte ich, daß Sie zu folgenden Maßnahmen greifen.«
Rachels Mund wurde trocken, als er ihnen die finale Lösung erläuterte. Im Geist vernahm sie den Todesschrei Tausender Menschen.
Als Jeremiel fertig war, sagte er einfach: »Machen wir uns an die Arbeit.«
Jeremiel und Harper erhoben sich und eilten zur Tür. Rachel blieb stehen und sah Jeremiel fragend an. Er wartete, bis die Tür sich hinter den beiden geschlossen hatte.
»Rachel, für Sie habe ich eine besondere Aufgabe. Aber zuvor müssen wir über alle Träume sprechen, die Sie in letzter Zeit hatten.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Was ist mit Aktariel? Hat er sich dazu geäußert, wann diese Kreuzer hier auftauchen?«
Rachel stützte sich auf den Tisch. »Sie reden ja so, als würden Sie an seine Existenz glauben.«
»Das spielt keine Rolle. Die Informationen, mit denen er Sie in Ihren Träumen versorgt, können entscheidend für das Überleben der Gamanten sein.«
Rachel nickte. »Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Den Grund dafür kenne ich auch nicht.«
»Na schön, dann müssen wir eben mit dem auskommen, was wir wissen.«
»Und was soll ich tun?« fragte Rachel.
»Für Sie habe ich eine sehr wichtige Aufgabe vorgesehen. Ich möchte, daß Sie Cole Tahn aus seiner Kabine holen und nach Raum zwanzig-null-neun bringen. Sehen Sie zu, daß er unter allen Umständen dort bleibt. Nötigenfalls töten Sie ihn. Gehen Sie jetzt sofort zu ihm, und sprechen Sie mit niemandem darüber.«
»Und was machen Sie?«
»Ich begebe mich nach Tikkun, um mich über die magistratischen Operationen zu informieren. Halloway kommt mit mir …«
»Nein!« platzte Rachel heraus. »Nein, Sie … Sie müssen Tahn mitnehmen.«
»Beruht dieser Vorschlag auf militärischen Überlegungen oder auf göttlicher Eingebung?«
Rachel zuckte die Achseln. »Das weiß ich auch nicht genau. Aktariel hat mir ein paar Dinge mitgeteilt, die ich Ihnen nicht erzählt habe. Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen …«
»Warum nicht?«
»Weil ich Angst hatte, daß er uns beide nur zu seinen eigenen Zwecken benutzt. Lieber Himmel! Er ist der Betrüger!«
Jeremiel strich sich durch den Bart. »Welchen Unterschied macht das, solange wir die gleichen Ziele verfolgen?«
Rachels Mund zitterte. Es macht einen Unterschied, Jeremiel. Aktariel verfolgt ein ganz bestimmtes Ziel, das spüre ich, auch wenn ich es noch nicht deutlich erkennen kann.
»Lassen Sie mich entscheiden, was richtig oder falsch ist, Rachel. Aber ich brauche jede Information, die Sie …«
»Also gut«, erklärte Rachel. »Ich hätte es Ihnen schon viel früher sagen sollen, aber ich hatte Angst, Aktariel würde mich nur als Mittel benutzen, um Sie zu betrügen. Ich weiß auch nicht, weshalb Sie Tahn mitnehmen sollen, aber …«
Sarah Norton ging nervös in ihrer Kabine auf und ab, während sie auf die Eskorte wartete, die sie wie jeden Morgen zu ihrer Klasse bringen würde, wo sie magistratische Waffentechnologie unterrichtete. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Am Vorabend hatte sie zugesehen, wie Millhyser den Virus, der die Hoyer lahmlegen sollte, in ihr Lehrprogramm eingepflanzt hatte. Sobald dieses Programm benutzt wurde, würde der Virus sich unmerklich über die Schiffssysteme ausbreiten, und niemand würde es bemerken, bis es zu spät war. Natürlich hatte Tahn sich nicht damit begnügt, nur ein einziges Programm zu infizieren. Insgesamt war der Virus sieben Mal vorhanden. Selbst wenn es mehrere Fehlschläge gab, würden sie das Schiff also zurückerobern können. Und die verdammten Gamanten verdienten, was dann auf sie zukam.
»Nur noch ein paar Stunden«, flüsterte sie, »dann jagen wir jeden dreckigen Gamanten durch die Schleusen hinaus, so wie ihr das mit unseren Kameraden getan habt.«
Der Türsummer ertönte. »Lieutenant Norton? Sind Sie soweit?«
Norton ballte die Fäuste und schlug auf den Öffner. Uriah stand vor ihr und hielt das Gewehr auf sie gerichtet. »Gehen wir, Ma’am. Sie kennen ja den Weg.«
Norton schlug den Weg zum Schulungsraum ein. Waren ihre Nerven überreizt, oder bewegte Uriah sich plötzlich wirklich so vorsichtig und leise wie ein Meuchelmörder?
Als sie um die letzte Ecke biegen wollte, rief Uriah plötzlich: »Halt.«
»Warum?«
»Wir gehen in die andere Richtung.« Er deutete mit dem Gewehrlauf in die entgegengesetzte Richtung.
Norton betrachtete ihn forschend. Hatte man ihr Vorhaben durchschaut? War das jetzt eine gamantische Gegenmaßnahme? Wieder einer von Baruchs unheilvollen Schachzügen? Nein, jetzt nur keine Panik. Niemand hat etwas herausgefunden. Die Sache ist absolut wasserdicht. Zögernd setzte sie sich in Bewegung. »Wohin gehen wir?«
»Das werden Sie schon sehen, Ma’am.«
Sie gingen durch einige leere Korridore; dann betraten sie einen Aufzug.
Als Norton die Kabine wieder verließ, fand sie sich mitten in einem hektischen Durcheinander wieder. Gamanten eilten auf und ab und riefen sich gegenseitig Anweisungen zu. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Die Gamanten haben gerade mit der Durchführung eines eigenen Plans begonnen.
»Geradeaus«, befahl Uriah.
Eine Weile später gab er ihr die Anweisung, links abzubiegen.
»Zum Hangar?«
»Ja, Ma’am. Beeilen Sie sich. Wir haben nicht viel Zeit.«
Norton merkte, wie ihre Knie zitterten. »Wohin bringen Sie mich?«
»Ihr Pilot wird Sie darüber informieren.«
»Mein Pilot?«
»Vorwärts.«
Norton stolperte durch den Eingang und sah sich plötzlich vertrauten Gesichtern gegenüber. Die Lieutenants Macey, Ronan, Kleemer und alle anderen Offiziere standen hier, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Und mitten im Hangar wartete ein Shuttle mit ausgefahrener Rampe.
Überall um sie herum standen bewaffnete Gamanten. Das Summen der auf höchste Stufe eingestellten Gewehre erfüllte die Luft.
Tränen traten Norton in die Augen und verschleierten ihren Blick, als die Gamanten sie zum Schiff trieben.
Rachel lief eilig den Gang hinunter, blieb vor Tahns Kabine stehen und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Captain? Hier ist Rachel Eloel.«
»Kommen Sie herein, Rachel.«
Als die Tür aufglitt, betrat Rachel die Kabine und packte dabei ihr Gewehr fester. Tahn beobachtete diese Bewegung ohne erkennbare Besorgnis, doch in seine Augen trat ein neugieriger Ausdruck. Er musterte ihre Kampfausrüstung und auch die Streifen auf ihren Ärmeln, die sie als Sergeant auswiesen, und fragte schließlich: »Umkreisen wir Tikkun?«
»Ja, Captain. Commander Baruch möchte, daß Sie auf die Brücke kommen. Beeilen Sie sich bitte.«
»Ich nehme an, er will, daß ich mit Lichtner spreche? Nun, das kann ich ihm nicht zum Vorwurf machen. Aber ich tue es ebenso ungern wie er selbst.«
Als sie den Aufzug erreicht hatten, drückte Tahn die entsprechende Taste und meinte: »Heute nur wir beide? Wo ist Janowitz?«
»Chris hat eine andere Aufgabe.«
»Zweifellos soll er meine Mannschaft quälen.«
»Zweifellos.«
»Nun, wenn Baruch meine Wache halbiert, bin ich offenbar nicht mehr der gefährlichste Gegner an Bord. Wer nimmt jetzt diesen Platz ein? Halloway?«
»Keine Ahnung.«
»Ach.«
Rachel beugte sich vor und drückte auf die Ruftaste. Wo blieb nur der verdammte Aufzug?
Tahn beobachtete sie, und plötzlich kam ihm ein bestimmter Verdacht. »Rachel, ganz unter uns, steht mir etwas Unangenehmes bevor?«
»Das müssen Sie Baruch fragen.«
»Wenn meine letzte Stunde geschlagen hat, wüßte ich das gern vorher.«
»Er hat nicht die Absicht, Sie zu töten. Jedenfalls glaube ich das nicht.«
Tahn zog eine Augenbraue hoch. »Na, das ist immerhin eine gewisse Beruhigung. Aber was geht nur wirklich vor? Handelt es sich nur um Lichtner? Oder gibt es noch irgend etwas, auf das ich vorbereitet sein sollte?«
»Wenn wir uns hier schon über strategische Planung unterhalten, warum erzählen Sie mir dann nicht einfach, ob Ihr Gegenangriff zur Rückeroberung des Schiffes schon angelaufen ist?«
Tahns Gesicht wurde ausdruckslos. Er deutete auf Rachels Gewehr und sagte: »Ich bin wohl kaum in der Lage, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen, oder?«
»Ich habe Ihre Personalakte genau studiert und wäre niemals so vermessen, Sie zu unterschätzen.«
Tahn lächelte. »Stand in der Akte auch, ich wäre ein Magier?«
Rachel musterte ihn kalt. »Ja.«
Endlich kam der Aufzug, und sie betraten die Kabine. Tahn lehnte sich an die Wand.
»Baruch hat doch nicht etwa vor, die Gehirnsonden einzusetzen, oder? Ich dachte immer, er hätte in dieser Hinsicht moralische Vorbehalte. Oder wiegen die in meinem besonderen Fall nicht ganz so schwer?«
Rachel antwortete nicht, sondern konzentrierte sich auf die wechselnden Ziffern der Decksanzeige.
»Rachel«, sagte Tahn leise, »bitte sehen Sie mich an.«
Rachel wandte den Kopf und blickte direkt in seine blau-violetten Augen.
»Bitte verraten Sie mir nur eins: Will er die Gehirnsonden einsetzen?«
»Nein, Captain, das wird er nicht tun. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«
Es war kaum wahrnehmbar, doch Rachel bemerkte, wie Tahn erleichtert ausatmete.
Janowitz begab sich mit raschen Schritten zu Lieutenant Millhysers Kabine. Als er sie erreicht hatte, blickte er sich prüfend im leeren Korridor um. Der blaue Wandchronometer zeigte genau 9:00 an. Janowitz nickte zufrieden, drückte auf den Knopf der Türsprechanlage und rief: »Lieutenant. Ich bin hier, um Sie zum Unterricht zu bringen.«
Er wartete einige Sekunden und drückte dann abermals auf die Taste. »Lieutenant Millhyser? Hier ist Janowitz. Bitte antworten Sie mir, oder ich muß mir gewaltsam Eintritt verschaffen.«
Als wieder keine Antwort kam, zog er die Universal-Codekarte aus der Tasche und öffnete die Tür. Rasch überprüfte er sämtliche Versteckmöglichkeiten in der Kabine, eilte dann wieder hinaus und lief zum nächsten Gang, wo Samual Luce Paul Urquel abholen sollte.
Luce lag mit aufgeschlitzter Kehle mitten im Gang.
»O Gott. Sie haben schon angefangen.«
Chris rannte los, um Deck sieben zu verlassen, bevor Tahns Mannschaft ihn umzingeln konnte.