KAPITEL
55

 

 

Rudy Kopal schritt auf der Brücke der Zilpah auf und ab und betrachtete das Abbild der Hoyer auf dem Hauptschirm. Vor kurzem war die Klewe aufgetaucht, hatte ein Shuttle zur Hoyer hinübergeschickt, das mit Fracht oder einem Gefangenen zurückgekehrt war, sich dann eilig zurückgezogen und so schnell den Lichtsprung eingeleitet, daß man glauben konnte, sämtliche Teufel der Hölle wären hinter ihr her. Vier andere Kreuzer umgaben die Hoyer in einer annähernd kreisförmigen Formation. Um sie zu schützen?

»Merle? Irgendwelche Funksprüche zwischen den Schiffen?«

»Nichts.« Sie strich sich das schwarze Haar zurück. »Wir wissen bisher nur, daß sie nicht auf die Hoyer schießen. Wenn Jeremiel dort die Kontrolle hätte …« Der unvollendete Satz hing wie eine Drohung in der Luft.

»Glaubst du, jenes Schiff hat ihn übernommen?«

»Ich weiß nicht. Aber wir befinden uns in genau vier Minuten in Reichweite dieser Kreuzer. Wen willst du zuerst aufs Korn nehmen?«

Rudys Gedanken überschlugen sich. Wo war Jeremiel? Wie weit war das magistratische Programm auf Tikkun gediehen? Wie viele Gamanten lebten dort überhaupt noch? Er warf einen Blick auf die anderen Schiffe seiner Flotte, die auf den Zusatzschirmen zu sehen waren, und ging zu seinem Kommandosessel zurück. »Merle, versuch unsere Stützpunkte auf Tikkun zu …«

»Rudy!« rief Merle.

Er wirbelte herum. Sieben Schiffe beendeten den Lichtsprung und fielen in den Normalraum zurück. Rudy warf einen Blick auf die Anzeigen der Instrumente. »Das vordere Schiff ist eins von uns. Merle, ziel auf …«

Bevor er den Befehl vollenden konnte, schoß ein violetter Strahl auf das Schiff zu. Es platzte auf und schleuderte dabei Trümmerstücke ins All. Hier und da brachen Feuer aus, die sofort wieder erloschen. Eine Wolke aus gefrorenem Sauerstoff bildete sich rings um das Wrack.

»Wir empfangen eine Breitbandsendung«, meldete Merle.

»Über die Lautsprecher.«

Kopals Atem ging schwerer, als Penzer Gorgons Stimme die Vernichtung des Untergrundschiffs Vinnitsa meldete und um neue Anweisungen bat. Rudy ließ sich in den Sessel sinken. Shoshi Luna hatte die Vinnitsa kommandiert. Ihre stahlgrauen Augen schienen ihn aus dem Wrack heraus anzublicken. Shoshi war mit Qaf im Abulafia-System gewesen. Was bedeutete das für den Rest der Flotte?

»Sechzig Sekunden bis Reichweite, Rudy. Was sollen wir tun?«

»Wir greifen Tahn an. Sag Cray, Jesse, Petras und Diro, sie sollen sich die anderen vier vornehmen. Mica und Lansford übernehmen die Flankendeckung. Sie sollen aufpassen, daß Gorgons Flotte uns nicht zu nahe rückt.«

 

Carey zuckte zusammen, als der erste Schuß die Schilde der Hoyer traf und purpurne Wellen über den Schirm jagte. Alarmsirenen heulten auf, und blaue Lichter blitzten. »Uriah«, rief sie. »Versuchen Sie, Kontakt aufzunehmen. Wer, zum Teufel, ist das?«

Aus der Ecke, wo Dannon mit hochgezogenen Knien auf der Erde hocke, drang Gelächter.

»Verdammt, Dannon! Hören Sie auf! Wissen Sie, wer das ist?«

Dannon legte den Kopf in den Nacken und lachte hysterisch. »Uriah, rufen Sie die Zilpah an. Der Kommandant heißt Rudy Kopal.«

»Streichen Sie den Befehl!« rief Carey, als Uriah Anstalten machte, die entsprechenden Schaltungen vorzunehmen. Sie ließ sich schwer in ihren Sessel fallen. Die Untergrundflotte? Und sie hatte keine Waffen!

»Carey, meine Liebe«, tönte Dannon, »an Ihrer Stelle würde ich schnell zum Funkgerät eilen und etwas senden, das sehr nach Jeremiel klingt.«

»Ich brauche Ihren Rat nicht, Dannon! Was ist denn, wenn Bogomil die Nachricht auffängt?«

Dannon schüttelte lachend den Kopf. »Bogomil schießt im Moment nicht auf Sie. Um den würde ich mir später Sorgen machen. Aber Rudy sollte gerade jetzt etwas hören, das ihn nachdenklich stimmt, beispielsweise: Rudy! Was, zum Teufel, treiben Sie da? Sie sollten eigentlich auf meiner Seite stehen! So eine Sendung dürfte sicher seine Aufmerksamkeit erregen, Lieutenant.«

Eine ganze Serie von Schüssen traf die Hoyer. Das Schiff ruckte zur Seite, und die Hälfte der Brückenmannschaft landete auf dem Boden. Carey klammerte sich verzweifelt an ihren Sessel. Auf den dreiundsechzig Kontrollschirmen blitzten Schadensmeldungen auf. Die Schilde vier und fünf waren zusammengebrochen. Deck siebzehn hatte einen direkten Treffer abbekommen.

Carey erbleichte. Die gesamte Steuerbordseite des Kreuzers war jedem weiteren Angriff ungeschützt ausgesetzt. Nur noch ein Treffer …

»Uriah!« brüllte sie. »Ans Funkgerät. Schicken Sie diese Nachricht an Kopal!«

Es begann als Flüstern in ihrem Verstand, dann schien es an Stärke zuzunehmen und von allen Seiten der Brücke widerzuhallen – eine tiefe, außerordentlich wohlklingende Stimme. »Bitte widerrufen Sie diesen Befehl, Lieutenant.«

»Was?« Carey erhob sich und sah sich um. »Wer hat das gesagt?« Uriahs Hand schwebte zitternd über der Konsole. Er war unsicher, was er jetzt tun sollte. Als er die Hand wieder senkte, rief Carey: »Warten Sie!«

Ein Schatten kroch über die Rückwand des Raums und wand sich wie eine gigantische Schlange aus tiefstem Schwarz. In einem plötzlichen Aufblitzen erschien ein Mann aus purem Gold, der in einen dunkelgrünen Umhang gekleidet war. Seine Augen hatten den traurigsten Ausdruck, den Carey je gesehen hatte.

»Lieutenant, ich danke Ihnen«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Der Mann ging zur unteren Ebene der Brücke hinunter, wobei er vorsichtig über Dannon hinwegstieg. Neil starrte mit offenem Mund zu ihm hoch. Und Carey war viel zu verblüfft, um etwas sagen zu können.

»Wer … wer sind Sie?« fragte Dannon.

Die bernsteinfarbenen Augen des Mannes schienen heller aufzuleuchten. »Ihre Leute brauchen Sie, Captain Dannon. Wollen Sie ihnen helfen?«

»Was?«

»Setzen Sie sich an das Navigationspult. Lieutenant Careys Waffen werden in ein paar Sekunden wieder einsatzbereit sein, und sie braucht einen erfahrenen Waffenoffizier – oder jeder an Bord dieses Schiffes wird sterben.« Das fremdartige Wesen lächelte Dannon traurig an. »Sie wollen doch nicht wirklich, daß das passiert, oder?«

Dannon stammelte: »Ich … ich glaube nicht, daß ich das tun kann.«

»Versuchen Sie es. Der Weg zurück ist nicht annähernd so beschwerlich, wie Sie glauben. Ich werde Ihnen helfen. Geben Sie mir Ihre Hand.« Das Wesen streckte seine glühenden Finger aus.

»Wer sind Sie?«

»Ich biete Ihnen die Errettung an, Captain. Übernehmen Sie dann die Verantwortung für Ihre Sünden? Wissen Sie, wie oft Jeremiel sich in den letzten Monaten gewünscht hat, Sie an seiner Seite zu haben? Er hat darum gebetet, die Uhr zurückstellen zu können, um mit Ihnen zu reden – so, wie Sie es sich gewünscht haben. Kommen Sie, helfen Sie ihm. Helfen Sie Ihrem Volk.«

»Sind Sie … ein Engel?«

Carey stellte fest, daß sie atemlos auf die Antwort wartete. Seit sie zum ersten Mal die uralten Fragmente der Pseudoepigrapha gelesen hatte, glaubte sie insgeheim, daß »Engel« existierten – als eine sehr zurückgezogen lebende Alien-Rasse. Das leuchtende Wesen warf ihr einen neugierigen Blick zu, so, als hätte es ihre Gedanken gelesen. Dann neigte es den Kopf und sah wieder Dannon an.

»Ja, Captain. Ich bin ein Engel. Aber uns bleibt nicht viel Zeit. Sie waren ein brillanter Stratege. Erinnern Sie sich an Ihr Manöver im Opus-System?«

Dannon blinzelte. Tränen glänzten in seinen Augen. Schließlich nickte er. »Sie meinen, wir sollten eine Drehung …«

»Ganz recht, Captain. Sehen Sie, die Botschaft, die Sie Rudy senden wollten, würde ihn höchstens für einen Moment irritieren. Dann hätte er sie als Kriegslist Tahns abgetan. Und ich fürchte, genau in diesem Moment würde Bogomil sie auffangen – und Sie würden von zwei Seiten unter Feuer genommen.«

Carey umklammerte ihre Sessellehne. »Lieber Himmel.«

Zitternd hob Dannon die Hand. Der Engel ergriff sie und half ihm auf die Füße. »Bitte gehen Sie an Ihren Platz, Captain.«

Olam Lars verließ die Navigationskonsole und eilte zum Hilfswaffensystem hinüber, während Dannon seine Stelle übernahm. Careys Augen weiteten sich, als plötzlich sämtliche Systeme der Hoyer wieder einwandfrei arbeiteten und alle dreiundsechzig Bildschirme vollständige Informationen lieferten. Das typische dunkle Summen eines unter voller Energie laufenden Schiffes erfüllte die Brücke.

Auf dem Frontschirm setzte die Untergrundflotte zum nächsten Angriff an. Carey erschauerte unter einem Gefühl dunkler Vorahnung.

Die Augen des Engels ruhten sanft auf ihrem Gesicht, als er auf sie zukam. Carey mußte sich zwingen, nicht vor ihm zurückzuweichen. Zögernd, als wolle er sie nicht erschrecken, streckte er eine Hand aus und berührte sie leicht an der Schulter.

»Lieutenant«, sagte er leise und unhörbar für die anderen, »behandeln Sie Jeremiel gut. Er hat genüg gelitten.«

»Das werde ich«, murmelte Carey.

Ein warmer Wind strich über die Brücke, als sich ein schwarzer Wirbel bildete und den Aufzug verdeckte. Der Fremde trat hinein, und hinter ihm schloß sich der Mahlstrom.

»Carey?« rief Dannon drängend. Seine Augen waren auf die Instrumente gerichtet. »Sind Sie bereit?«

»Ja, bin ich. Sagen Sie mir nur, was, zum Teufel, wir eigentlich machen.«

Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
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