KAPITEL
34
Eine einzige Lampe brannte auf Cole Tahns Tisch. Der dekorative Schirm, der zu geometrischen Mustern angeordnete Löcher aufwies, warf helle Punkte auf Careys Gesicht, so daß es aussah, als würden ihre Sommersprossen leuchten.
Sie hatte Tahn gerade aus dem Schlaf gerissen und verlangt, daß er aufstand. Jetzt trug er seine zerknitterte Uniform, war aber immer noch barfuß. Er betrachtete Garey stirnrunzelnd. Sie hatte die Haare über den Ohren festgesteckt und sah damit sanfter und weiblicher aus. Jedenfalls machte es ihn reichlich nervös.
»Nun?« fragte er. »Sind Sie hergekommen, um mit mir zu reden, oder muß ich einen Monolog vortragen?«
Carey stemmte die Hände in die Hüften und wanderte auf und ab. »Wie fühlen Sie sich?«
»Müde. Warum?«
»Die Mannschaft wird langsam unruhig und ich dachte, hier kriege ich vielleicht ein paar Ideen, wie ich mit den Leuten umgehen muß.«
»Aha. Nun, vielleicht könnten Sie etwas deutlicher werden?«
Careys Blick schweifte zu den Plätzen in der Kabine hinüber, wo die Überwachungsgeräte angebracht waren. Tahn lehnte sich verärgert in seinem Sessel zurück. »Die Geräte habe ich natürlich abgeklemmt, Carey. Und erst vor einer halben Stunde habe ich mich von ihrem Zustand überzeugt. Sie können also offen reden.«
Ihre Augen zeigten jetzt den kühl kalkulierenden Blick, der ihm so vertraut war. Sofort fühlte Tahn sich besser. »Ich habe durch Macey erfahren, daß Millhyser ein interessantes Geschenk für Sie hat.«
»Was für ein Geschenk?«
Carey lächelte. »Sie hat Neil Dannon entdeckt, als er in den Kabelschächten des Waffensystems herumkroch. Da sie wußte, daß Sie ihn wahrscheinlich haben wollten, hat sie ihn sich geschnappt.«
»Er lebt noch?«
»Ja, durchaus.«
Cole schloß für einen Moment die Augen. Als ehemaliger stellvertretender Kommandeur der Untergrundflotte mochte Dannon sich als entscheidender Faktor erweisen. Er kannte Baruch so gut wie seine eigene Westentasche.
»Ich muß mit ihm reden.« Tahns Gedanken überschlugen sich, und er warf einen verstohlenen Blick auf den Lüftungsschacht. Er würde ihn nur einmal benutzen können. War Dannon das wert? Schließlich sagte er: »Ich nehme an, es ist an der Zeit, unser letztes As auszuspielen.«
»Da stimme ich zu.«
Mit schnellen Schritten durchquerte Carey die Kabine und beugte sich über Tahn, um an die Tastatur des Computerterminals zu reichen. Als Tahn sich umdrehte, erschien bereits das an ein Fischskelett erinnernde Lüftungssystem der Hoyer auf dem Schirm. Carey deutete auf eine Reihe miteinander verbundener Durchgänge.
»Das ist vermutlich der beste Weg. Sehen Sie, erst hier entlang, und dann dort. Sie werden ungefähr eine halbe Stunde brauchen, um vierzehn C zu erreichen. Ich fürchte, es könnte dort ein bißchen eng für Sie werden, aber ich glaube …«
»Ja, das glaube ich auch. Trotzdem …«
»Was?«
Tahn setzte sich gerade hin. »Ich weiß auch nicht. Irgendwie habe ich kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Sie meinen, es ist ein Hinterhalt?« Carey schüttelte den Kopf. »Dannon ist tagelang durch die Innereien des Schiffs gekrochen, nur um nicht in Baruchs Nähe zu kommen – insbesondere, nachdem er ihn auf Deck zwanzig beinahe erwischt hätte. Er gerät schon bei dem Gedanken, Baruch könnte ihn erkannt haben, regelrecht in Panik. Ich glaube das zwar nicht, aber Dannon …«
»Das meinte ich auch nicht. Nein, es … es ist irgend etwas anderes. Etwas, das mit dem Überwachungssystem zusammenhängt. Die Freiheit, die Baruch mir in meiner Kabine gewährt, muß einen Grund haben. Und warum hat er das Lüftungssystem nicht versperrt?«
»Entweder, weil er gar nicht weiß, daß es offen ist – oder weil er damit rechnet, daß Sie es benutzen.«
»Vielleicht hofft er ja, ich führe ihn zu seinem alten Freund.«
»Unmöglich. Niemand kann die Luftschächte oder die Zuführungen zum Waffensystem überwachen. Es gibt kein einziges System …«
»Mag sein, daß es kein System gibt, aber wenn auch nur eine entfernte Möglichkeit besteht, dann hat Baruch sie entdeckt. Vielleicht etwas ganz Simples, auf das wir gar nicht kommen.«
»Bleibt uns denn eine Wahl?« fragte Carey. »Ich könnte Millhyser höchstens anweisen, Dannon weiterhin festzuhalten.«
»Nein, wir haben nicht genug Zeit für eine Verzögerung. Ich muß jetzt mit ihm reden. Können Sie Baruch beschäftigen, während ich mit Dannon spreche?«
»Natürlich.« Sie ging zur Tür.
Tahn holte seine Stiefel. »Carey?«
Sie drehte sich um und schaute ihn ungeduldig an. »Was ist?«
»Mir ist im Grunde gleich, was Sie vorhaben, aber gehen Sie keine unnötigen Risiken ein. Schläfern Sie seine Wachsamkeit einfach lange genug ein, während ich mich mit Dannon befasse. Denken Sie daran, Baruch mag wie ein netter Bursche erscheinen, aber wir wissen, daß er gefährlich und unberechenbar ist.«
»Danke, daß Sie mich daran erinnert haben.« Carey lächelte ironisch und ging hinaus.
Tahn ging zum Bildschirm hinüber und sah sich noch einmal den Plan an. Er konnte es nicht wagen, einen Ausdruck zu machen. Falls man ihn erwischte, durfte er niemand anderen mit hineinziehen.
Neben seinem Bett ließ er sich auf die Knie sinken, entfernte die dreieckige Abdeckung des Luftschachts und schlüpfte in den schwach erleuchteten Tunnel.
Neil Dannon hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ging unruhig auf und ab, während er dem Summen der Maschinen lauschte, die ihn umgaben. In seiner Nähe unterhielten sich sechs magistratische Wissenschaftsoffiziere leise miteinander.
Als er an einem blanken Panzerschott vorbeikam, warf er einen Blick auf sein Spiegelbild. Sein bleiches Gesicht war schweißbedeckt, und der Ausdruck von Panik in seinen Augen überraschte selbst ihn. Er sah aus wie eine verängstigte Katze, die sich in einer Falle gefangen hatte.
»Dannon.«
»Was ist?«
Millhyser, eine pummelige Blondine mit einer ausgesprochen häßlichen Nase, wies auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich. Es macht mich nervös, wenn Sie hier herumlaufen. Tahn wird jeden Moment hier sein.«
»Ich nehme von Ihnen keine Befehle entgegen! Lassen Sie mich in Ruhe!«
Sie warf ergeben die Hände hoch und wandte sich wieder ihrem Gespräch mit Paul Urquel zu, dem Waffenspezialisten.
Neil ging noch eine Weile auf und ab und setzte sich dann zögernd. Sein Magen schmerzte so erbärmlich, daß er es kaum wagte, zu schlucken, aus lauter Angst, er könnte sich übergeben. Wieder dachte er an Baruch. Ich weiß, daß du mich erkannt hast, Jeremiel. Warum hast du nichts unternommen, um mich zu ergreifen? Was für einen Plan verfolgst du?
Dannon verschränkte wieder die Arme vor dem Bauch und schaukelte langsam vor und zurück, um den Schmerz zu mildern.
»Da kommt er«, flüsterte jemand.
Die Offiziere nahmen Haltung an. Neil vernahm ein kratzendes Geräusch aus dem Luftschacht hinter Millhyser. Sie kniete nieder und entfernte die Abdeckung.
Tahns Kopf und Schultern erschienen. Zwei Lieutenants halfen ihm heraus, und dann herrschte für einen Moment reges Treiben, als alle zu ihm eilten, um ihn zu begrüßen. Wie immer, wenn Tahn in der Nähe war, zeigte die Mannschaft Zuversicht und Kampfbereitschaft.
»Corsica?« fragte Tahn flüsternd. »Haben Sie den Raum sorgfältig überprüft?«
»Aye, Sir. Baruch hat keine Möglichkeit, uns hier abzuhören.«
Tahn strich seine Uniform glatt und entfernte den Staub von den goldenen Litzen. »Gut. Wir müssen uns beeilen. Kommen wir also zur Sache.«
Neil versteifte sich instinktiv, als der Blick dieser blauvioletten Augen auf ihm ruhte. Tahn kam auf ihn zu und betrachtete den Schmutz auf Dannons Kleidung.
»Wie geht es Ihnen, Dannon?«
»So gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann, Tahn.«
»Wollen Sie uns immer noch helfen, Baruch zu erwischen?«
Dannon ballte die Fäuste. Das hatte er eigentlich nie vorgehabt. Er hatte nur das sinnlose Morden beenden wollen. »Ja.«
»Dann lassen Sie mich kurz die Situation umreißen. Wir haben etwa fünftausend gamantische Zivilisten an Bord, Flüchtlinge von Horeb …«
»Ich weiß. Jeremiel hat sie auf den Decks dreizehn bis achtzehn untergebracht.«
Tahn nickte. »Korrekt. Die Magistraten haben kürzlich Abulafia abgefackelt und eine planetenweite Unterdrückungsaktion auf Tikkun eingeleitet, die wir unterstützen sollen.«
Neil schluckte schwer. »Und jetzt wollen Sie wissen …«
»Was wird Baruch aller Wahrscheinlichkeit nach unternehmen?«
»Wo ist die Untergrundflotte?«
»Die Regierung hat die Hälfte davon über Abulafia zerstört. Wo der Rest ist, wissen wir nicht. Wir vermuten aber, daß sie auf dem Weg zum lysomianischen System ist.«
Neil riß die Augen auf. Die halbe Flotte? O Gott. Welche Freunde hatte er verloren? Hatte Slothen nur deshalb die gamantischen Planeten angegriffen, um die Untergrundflotte zu zwingen, ihre Kräfte zu teilen? Wäre Jeremiel dort gewesen, wäre das nie passiert. »Wann ist Jeremiel nach Kayan geflogen?«
»Zwei Monate nach der Schlacht von Silmar.«
»Na schön, passen Sie auf«, sagte Neil. »Rudy wird bereit sein, Jeremiel für ein paar Monate sich selbst zu überlassen. Jeder würde verstehen, daß er Zeit braucht, um sich von … von Syenes Tod zu erholen.«
»Und?«
»Rudy wartet mittlerweile seit zwei Monaten auf eine Nachricht von Jeremiel. Inzwischen dürfte er sich erhebliche Sorgen machen und …«
»Sie meinen, er ist vermutlich schon unterwegs.«
»Ich würde sogar sagen, er ist schon ganz in der Nähe, Tahn.«
»Also gut, kommen wir schnell zur Sache. Wie geht Baruch normalerweise vor?«
»Ich … ich weiß nicht …« Neil holte tief Luft und versuchte, so wie Jeremiel zu denken. »Vermutlich läßt er dieses Schiff Kurs auf Tikkun nehmen, damit die Magistraten glauben, an Bord wäre alles ganz normal. Und er wird darauf vertrauen, daß Rudy noch rechtzeitig auftaucht. Aber … er wird versuchen, die Menschen von Horeb irgendwo abzusetzen, bevor er sich auf ein Gefecht einläßt. Also wird er nach einem geeigneten Ort suchen, wo er sie loswerden kann.«
»Zwischen hier und Tikkun gibt es nichts, jedenfalls nicht in direkter Fluglinie. Und wenn er davon abweicht, werden die Magistraten aufmerksam.«
»Dann hofft er vermutlich, er könnte die Zivilisten irgendwo auf Tikkun absetzen, wo sie sicher sind.« Neil rieb sich den Nacken. »Gibt es noch einen Ort auf Tikkun, den die Magistraten noch nicht okkupiert haben?«
»Woher soll ich das wissen? Sie sind doch dort geboren.«
Neil starrte ihn an. »Vielleicht eine der Inseln, die dem Kontinent Yihud vorgelagert sind. Die Sacla-Seven-Inseln. Dort leben nur sehr wenige Menschen. Gibt es in der Nähe eine Militärbasis?«
Tahn wandte sich an Millhyser. »Sobald Sie das nächste Mal Zugriff auf den Computer haben, überprüfen Sie das.«
»Ja, Sir. In fünf Stunden gebe ich wieder Unterricht. Die Gamanten sind so unerfahren, daß sie es wohl kaum bemerken werden, wenn ich die Daten abfrage.«
»Gut. Informieren Sie mich so schnell wie möglich.«
»Aye, Sir.«
Tahn drehte sich wieder zu Dannon um. »Wir sollen uns in zwei Wochen mit Brent Bogomil und der Jataka treffen …«
»Nein. Solange wird Jeremiel auf keinen Fall warten. Er wird die Flüchtlinge so schnell wie möglich absetzen wollen. Außerdem muß er erst den Planeten überprüfen, um festzustellen, ob der geeignete Platz auch sicher ist. Und er muß wissen, was ihn auf Tikkun erwartet.«
»Immer vorausgesetzt, daß die Untergrundflotte uns nicht vorher findet«, murmelte Tahn.
»Wenn Kopal vorher Kontakt zu Jeremiel aufnimmt, haben Sie verloren, Tahn. Und zudem werden sämtliche militärischen Einrichtungen auf dem Planeten vernichtet, bevor Sie auch nur richtig hingesehen haben.«
»Captain?« meldete sich Millhyser. »Wenn wir binnen einer Woche nach Tikkun kommen und Baruch die Flüchtlinge …«
»Ja, dann haben wir wenigstens genug Platz zum Kämpfen – obwohl ich annehme, daß Baruch mindestens fünfhundert seiner angelernten Leute an Bord lassen wird, nur für den Fall, daß Bogomil sich unkooperativ zeigt. Hört sich das vernünftig an, Dannon?«
»Natürlich. Jeremiel würde nie etwas dem Zufall überlassen.«
»In Ordnung, dann müssen wir jetzt Pläne für diese drei Möglichkeiten entwerfen. Erstens: Ein Plan für einen Kampf an Bord. Zweitens: Wie können wir die Militärstützpunkte auf Tikkun auf unser Problem aufmerksam machen und um Hilfe bitten? Drittens: Wie gehen wir vor, wenn Bogomil uns Hilfestellung leistet? Baruch wird zweifellos aufgeben, wenn er sieht, daß Kanonen auf ihn und seine Leute gerichtet …«
Neil lachte laut auf.
Tahn warf ihm einen forschenden Blick zu. »Ich nehme an, Sie wollen uns etwas mitteilen, Dannon?«
»Ja, allerdings. Obwohl ich überrascht bin, daß Sie nicht selbst darauf kommen, nachdem Sie so oft gegen ihn gekämpft haben. Wenn Jeremiel sich in die Ecke gedrängt sieht, wird er sich ganz einfach den Weg freischießen.«
»Aber das wäre Selbstmord«, warf Millhyser ein. »Niemand würde …«
»Nun, vielleicht nicht. Aber er würde dann auf jeden Fall eine Menge Gegner mit sich nehmen.«
»Lächerlich! Er würde nicht riskieren, daß all seine Freunde …«
»Hören Sie gut zu, Tahn! Bedrängen Sie ihn, dann bricht die Hölle los. Er kennt die Kreuzer der C-J-Klassen mindestens so gut wie Ihre eigenen Ingenieure. Und wenn er Ihre Waffen ein paar Stunden lang benutzt hat, werden Sie sich wünschen, Sie hätten sie nie entwickelt. Und wenn er Sie damit nicht aufhalten kann, wird er die Maschinen so einstellen, daß die primordialen Schwarzen Löcher ihre Energie sehr viel schneller abgeben, als Ihnen lieb sein kann.«
Tahn stand einen Moment schweigend da; dann begann er, seinen Offizieren Anweisungen zu erteilen. »Carlene, suchen Sie unsere Chemiker. Die kennen sämtliche Stoffe, aus denen man tödliche Gase herstellen kann. Sie sollen sich sofort an die Arbeit machen. Sagen Sie Ihren Computerspezialisten, sie sollen nach einer Möglichkeit suchen, über die Lehrprogramme Zugang zum Hauptsystem zu bekommen …«
»Genau«, rief Millhyser. »Wenn das gelingt, können wir alle Bordsysteme unterbrechen.«
Tahn fuhr fort, präzise Anordnungen zu erteilen. Die Offiziere schienen froh zu sein, daß er wieder das Kommando übernommen hatte.
»Einen Moment«, rief Dannon. »Wir hatten eine Abmachung. Sie haben auf Silmar versprochen, Baruch nicht zu töten, sondern …«
»Baruchs Fähigkeiten lassen uns keine Wahl.«
Dannon sprang auf. »Nein! Wir haben eine Abmachung! Sie haben versprochen …«
»Setzen Sie sich und seien Sie still, Dannon! Ich werde ganz bestimmt nicht riskieren, daß Baruch uns noch einmal hereinlegt!«
»Aber Sie …«
»Das war damals! Diesmal ist er zu weit gegangen.«
»Tahn, Sie verdammter, dreckiger Lügner! WIR HATTEN EINE ABMACHUNG!«
Tahn machte einen drohenden Schritt vorwärts. Dannon wappnete sich für einen Schlag, der nie kam.
»Sie bekommen immer noch Ihr verdammtes Geld, Dannon. Setzen Sie sich! Und wahrscheinlich verleihen Ihnen die Magistraten auch noch einen Orden. Würde Ihnen das nicht gefallen? Ein galaktischer Held zu sein?«
Neil ließ sich in den Sessel zurückfallen und konzentrierte sich auf den dumpfen Schlag seines Herzens.