KAPITEL
10

 

 

Jeremiel betrachtete blinzelnd die bernsteinfarbenen Buchstaben auf dem Kom-Bildschirm. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Jedesmal, wenn er tief Luft holen mußte, schien die Schrift vor ihm zu tanzen. Der strenge Geruch von Reinigungsmitteln hing noch in der Luft und stach ihm in die Augen.

»Du wirst verlieren«, murmelte er zu sich selbst.

Aber ihm blieb ja auch so verdammt wenig Zeit. Die zwölf Stunden seit der Übernahme des Schiffes waren rasend schnell vergangen, während er sich bemühte, genügend Leute für die vordringlichsten Aufgaben einzuteilen.

Er berührte eine Taste und schloß damit die Datenliste auf dem Bildschirm. Als er sich schwerfällig erhob, mußte er sich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jeremiel überlegte, wie lange er nicht mehr geschlafen hatte. Sechsundfünfzig Stunden? Und noch immer war kein Ende in Sicht. Er hatte sich selbst einige Stimulantien injiziert, doch damit ließ sich der menschliche Körper nur für eine gewisse Zeit betrügen, dann folgte unweigerlich der Zusammenbruch. Er brauchte dringend Unterstützung. Zwar hatte er so viele Aufgaben wie möglich delegiert, doch Harper, Janowitz und deren nur eingeschränkt einsetzbare Männer hatten bereits alle Hände voll zu tun, das Schiff zu sichern und das Rettungsprogramm für die Bewohner Horebs zu organisieren.

»Halt durch! Rachel ist schon unterwegs.«

Jeremiel atmete ein paarmal tief durch und schaute sich in seiner Kabine um. Die Tür zum Bad stand offen, und das Licht spiegelte sich auf den Armaturen der Dusche.

»Ja, die Zeit sollte ich mir nehmen. Vielleicht bin ich danach wieder etwas munterer.«

An Schlaf war jetzt noch nicht zu denken – nicht solange der Strom der Flüchtlinge weiterhin anhielt und die gegnerischen Soldaten noch immer das Schiff unsicher machten. An jedem Fenster und vor jedem Monitor sammelten sich die Horebianer und betrachteten ihre dem Untergang geweihte Heimat. Jeremiel konnte nur zu gut verstehen, daß sich Wut, Haß und Verzweiflung in ihnen aufstauten, um sich irgendwann in einer Explosion Luft zu machen.

Jeremiel stemmte die Hände in die Hüften und reckte die verspannte Rückenmuskulatur. Dann ging er zu seinem Bett hinüber, öffnete den Rucksack, der darauf lag, und holte einen blauen Overall heraus. Als er abermals im Rucksack herumwühlte und nach seinen Socken suchte, berührte er statt dessen etwas Kleines, Hartes.

Seine Seele wurde zutiefst erschüttert, als er langsam das silberne Medaillon herauszog.

»Syene.«

Er umklammerte das Medaillon und schloß die Augen. Ihr Gesicht tauchte aus seinen Erinnerungen auf. Schönes braunes Haar fiel lang über ihre Schultern herab. Sie lächelte ihn zuversichtlich an und lachte dann ihr süßes Kleinmädchen-Lachen, das ihn stets zum Lächeln gebracht hatte, ganz gleich, wie verzweifelt die Umstände auch gewesen sein mochten. »Gott schütze Tahn, falls er dich jemals schnappt«, sagte sie leise. »Bei deinem ungehobelten Benehmen wird er sich sehr schnell wünschen, dich nie gesehen zu haben.«

Sie hatten in seiner Kabine gestanden und sich für den Kampf auf Silmar angekleidet. Überall auf Tischen und Fußboden waren Plastikblätter verteilt. Sie hatten jede einzelne Facette des Plans wieder und wieder durchdacht und ihre Chancen erwogen, falls doch etwas schiefgehen sollte. Schließlich hatte sein Gehirn von all der Denkarbeit regelrecht gesummt.

Als sie die Stiefel anzog, hatte er die Fäuste geballt und gesagt: »Syene, mir gefällt das nicht. Laß mich gehen. Ich könnte es nicht ertragen …«

»Das haben wir doch alles schon durchgesprochen«, erwiderte sie mit einem schiefen Lächeln. »Du bist viel zu wichtig, um an so einem Routineeinsatz teilzunehmen. Ich gehe.«

»Hör mir zu. Irgendwo dort unten wartet eine Falle. Ich weiß nicht wo, aber ich kann es fühlen. Irgend etwas stimmt einfach nicht.«

Sie legte den Kopf schief und ihr wie poliertes Messing schimmerndes Haar fiel in Kaskaden über ihre Schulter. Die dunklen, geschwungenen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Müssen wir schon wieder über Neil reden?«

Jeremiel zuckte zusammen. Sie hatten sich deswegen schon gestritten, ja, sogar regelrecht angeschrien. »Nicht jetzt, Syene.«

Sie nickte zufrieden. »In Ordnung. Und was deine Bemerkung von eben angeht: Es gibt immer irgendwo eine Falle. Der Trick besteht darin, nicht hineinzutappen. Und darin bin ich ziemlich gut, meinst du nicht?«

»Doch, sehr gut sogar …«

»Dein Glück, daß du das zugibst.« Sie richtete sich auf. »Ich mache mich jetzt besser auf den Weg. Lichtner wird nicht den ganzen Tag auf mich warten.«

Sie wollte an ihm vorbeigehen, doch Jeremiel packte ihren Arm und zog sie an sich. Syenes muskulöser Körper fühlte sich plötzlich zart und zerbrechlich an, viel zu schwach für die endlosen Gefechte dieses Krieges. Sie standen schweigend beieinander, und Jeremiel versuchte sich einzuprägen, wie ihr Körper sich an ihn preßte und ihr Haar seinen Bart berührte. Tief in seinem Innern spürte er einen wachsenden Schmerz.

»Sei vorsichtig«, sagte er und küßte sie. »Ich liebe dich.«

Syene zog ihn fester an sich und streichelte seinen Rücken. »Jetzt mach dir keine Sorgen. Ich komme schon wieder zurück.«

Ich komme zurück … zurück …

Jeremiel starrte auf das Medaillon. Man hatte sie vergewaltigt und sterbend zurückgelassen, und schließlich war sie in seinen Armen gestorben. Silmar war der letzte Kampf vor Horeb gewesen, oder nicht? Hatte es dazwischen noch andere Gefechte gegeben? Sein übermüdeter Verstand suchte verzweifelt nach der Antwort. Doch, natürlich, es war der letzte Kampf vor Horeb gewesen. Und Syene hatte den Preis für sein blindes Vertrauen in Dannon bezahlt. Heute fragte er sich, wie er so verblendet hatte sein können. Syene hatte versucht, ihn zu warnen.

»Wie viele Strategiebesprechungen hat er versäumt, Jeremiel? Wo ist er, wenn er nicht hier bei uns ist?«

»Er hat schließlich auch ein Recht auf sein Privatleben. Laß es ihm. Ich vertraue ihm.«

Doch es war Syene gewesen, der er hätte vertrauen sollen. Warum hatte er das nicht getan? Warum hatte er nicht nachgeprüft, wo Dannon sich damals aufhielt? Syene hatte so getan, als hätte sein Verhalten sie nicht verletzt, doch er wußte es besser. Und trotzdem hatte sie zu ihm gestanden, ihn geliebt, für ihn gekämpft und ihn gegen jede Kritik in Schutz genommen.

Und schließlich war sie für ihn gestorben.

Jeremiel strich über das Medaillon und erinnerte sich an die unzähligen Male, die er es an ihr gesehen hatte. War es wirklich erst vier Monate her, seit er in jenes blutbespritzte Apartment auf Silmar gestürmt war? Noch immer erfüllte ihn die Liebe zu ihr mit Schmerz.

Vorsichtig, als bestünde es aus Glas, schob er das Medaillon zurück in den Rucksack. Dann hob er den Kopf und sagte leise: »Du kannst dich nicht verstecken, Neil.«

Er war auf Dannons Namen gestoßen, als er die Verzeichnisse des Bordcomputers überprüft hatte. Tahn hatte Dannon zwar auf Silmar an Bord geholt, ihn aber nirgendwo wieder abgesetzt. Und irgendwo im Innern des Schiffs würde Neil jetzt nach einem Versteck suchen. Ein plötzlicher Adrenalinstoß brachte Jeremiel vorübergehend einen Teil seiner Energie zurück. Er riß sich den schwarzen Kampfanzug vom Leib, schleuderte ihn auf den Boden, drehte den Warmwasserhahn der Dusche weit auf und blieb zehn Minuten lang unter dem heißen Strahl stehen.

»Vergiß Dannon vorerst. Du kannst dich später um ihn kümmern. Jetzt mußt du dich auf das Treffen mit Halloway vorbereiten.« Tahns Stellvertreterin hatte ihn um eine Unterredung gebeten, die Jeremiel so lange wie möglich hinausgezögert hatte in der Hoffnung, sich in der Zwischenzeit einen besseren Überblick über die Lage verschaffen zu können.

Als er aus der Dusche trat, fühlte er sich etwas besser. Zumindest war er nicht mehr ganz so erschöpft. Er zog den blauen Overall an und stellte sich vor den Spiegel. Der Anblick traf ihn unvorbereitet, und er hätte den Mann, der ihm entgegenblickte, fast nicht erkannt. Die Stirn war düster gerunzelt, die blauen Augen von dunklen Ringen umgeben, und ein zynischer Ausdruck lag um seinen Mund.

»Nun ja, immerhin siehst du jetzt wirklich wie ein finsterer Eroberer aus.«

Er nahm seine Bürste und fuhr sich ein paarmal durch Haare und Bart; dann schob er seine Pistole ins Gürtelholster und ging zum Computer, um sich wieder den Personalakten zu widmen. Das Summen des Türmelders ließ ihn innehalten. Er fuhr herum, geriet ins Stolpern und mußte sich an einer Stuhllehne festhalten, um das Gleichgewicht zu bewahren.

»Jeremiel? Hier ist Harper.«

Baruch holte tief Luft. »Kommen Sie herein, Avel.«

Die Tür glitt beiseite, und Harper wurde sichtbar. Er trug einen frischen, grauen Overall und hielt einen schlafenden Jungen in den Armen. Hinter ihm standen Chris Janowitz und zwei Jeremiel unbekannte Männer mit Gewehren. »Jeremiel, das hier sind Wen Howard und Rumon Kaufa«, erklärte Harper. »Sie arbeiten mit Janowitz zusammen.«

Jeremiel nickte den beiden Männern zu und warf dann einen Blick auf Mikael. »Wie geht’s dem Jungen?«

»Ganz gut, wie es scheint. Wir haben ihn in Kabine 955 auf Deck sieben gefunden, genau wie Sie gesagt haben. Offensichtlich haben sie ihn stark sediert.«

Mikael Calas’ Gesicht wirkte entspannt, die schwarzen Locken umspielten seine olivfarbene Haut. »Aber geht es ihm auch wirklich gut? Hat Dr. Severns ihn schon untersucht?«

Harper schüttelte den Kopf. »Nein, ich war gerade auf dem Weg zu ihm. Ich wollte Mikael nur erst zu Ihnen bringen, damit Sie sich selbst von seinem Zustand überzeugen können.«

»Ich weiß das zu schätzen, Avel. Wie steht es bei der Sicherheitsmannschaft? Wie viele Decks sind inzwischen abgesucht worden?«

»Alle von acht bis zwanzig«, erwiderte Harper. »Wir hatten allerdings bisher noch keine Chance, bis zur Brücke vorzudringen. Die Gefechte auf den oberen Decks sind so heftig, daß wir erst dann einen Versuch wagen wollen, wenn wir noch mehr Sicherheitsteams aufgestellt haben.«

Jeremiel nickte. Er selbst hatte eine gründliche Überprüfung aller Flüchtlinge angeordnet, die möglicherweise für einen Einsatz in einem Sicherheitsteam in Frage kamen. Schließlich konnte er nicht riskieren, einen Sympathisanten der Magistraten oder ein Mitglied von Ornias’ Truppen an einer sicherheitsrelevanten Position einzusetzen. Andererseits erforderte dieser Auswahlprozeß einen hohen Zeitaufwand.

»Wir haben eine Gruppe von magistratischen Soldaten in den Luftschächten entdeckt«, fuhr Janowitz fort. »Höchstwahrscheinlich treiben sich dort noch mehr herum. Diejenigen, die wir erwischt haben, haben wir entwaffnet, ihnen die Raumanzüge abgenommen und sie auf Deck sieben zusammengetrieben.«

»Gut, Chris. Sobald die Reinigungstrupps mit ihrer Arbeit auf den gesicherten Decks fertig sind, können wir die Flüchtlinge auf die Räume verteilen. Ich nehme an, sie warten schon sehr ungeduldig darauf, die Hangars verlassen zu können. Avel, haben Sie schon Zeit gefunden, Messepersonal für die Ausgabe der Mahlzeiten einzuteilen?«

»Noch nicht. Tut mir leid.«

»Keine Entschuldigung nötig. Wenn wir die Flüchtlinge unterbringen, können wir gleichzeitig Suppen und Getränke verteilen lassen. Sagen Sie ihnen einfach, sie würden etwas später vollständige Mahlzeiten erhalten, Chris.«

Janowitz nickte. »Wird gemacht.«

Harper räusperte sich und hielt dann inne.

»Was gibt’s?« fragte Jeremiel.

»Die Teams, die Sie für die Suche nach Dannon eingeteilt hatten, haben bisher nichts gefunden. Ich habe ihnen Fotos mitgegeben, aber …«

»Sie sollen weitersuchen.« Insgeheim schwor sich Jeremiel, sich selbst auf die Suche zu machen, sobald die wichtigsten Fragen geklärt waren.

Harper nickte. »Außerdem haben wir einen Funkspruch von Ornias aufgefangen. Offensichtlich ist er heil von Horeb entkommen und befindet sich auf dem Weg nach Palaia Station, um seine Belohnung abzuholen.«

Jeremiel blickte in Harpers dunkle Augen. Beide Männer tauschen schweigend ihr Einverständnis darüber aus, das Ornias’ Taten nicht ungesühnt bleiben durften.

»Gesegnet sei Milcom«, erklärte Howard, »dann ist wenigstens der Ratsherr entkommen.«

In plötzlicher Wut fuhr Harper herum. »Ich lasse Ihnen das durchgehen, Howard, da Sie nicht wissen, daß Ornias die Schuld an all dem hier trägt.«

Der dünne Mann blinzelte. »Was? Die rechte Hand des gesegneten Mashiah soll …«

»Der Ratsherr hat Jeremiel eine Falle gestellt, indem er ihn mit der Nachricht, das Schicksal der gamantischen Zivilisation hinge von seiner Anwesenheit auf Horeb ab, von seiner Flotte fortgelockt hat. Der ganze Bürgerkrieg diente nur dem Zweck, Baruch zu fangen. Und als Jeremiel herkam, hat Ornias ihn für fünf Milliarden an Tahn ausgeliefert.«

Howard runzelte ungläubig die Stirn. Der neben ihm stehende Kaufa blinzelte und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Seine Wangen liefen langsam rot an. Jeremiel fixierte ihn prüfend. War er lediglich nervös, oder vertrat er die gleichen Ansichten wie Howard?

Howard schob die Brust vor und erklärte ungehalten: »Der Ratsherr soll die gamantische Zivilisation verraten haben? Das kann ich nicht glauben. Ornias hatte von allen die reinste Seele und hat alles in seiner Macht stehende getan, um den Menschen auf Horeb zu helfen. Nach der Dürre hat er Nahrung verteilt und …«

»Er hat die Alten Gläubigen zu Tausenden umbringen lassen.«

»Nun … ja«, gab Howard zu, als wäre das von untergeordneter Bedeutung. »Sie haben gegen Milcoms Mashiah revoltiert und ihn zu töten versucht, indem sie seinen Tempel in die Luft jagten!«

Jeremiel lehnte sich gegen die Wand. Das hier war mit Sicherheit kein einfacher Soldat, sondern einer aus Ornias’ persönlicher Garde. Er würde die Überprüfungen verstärken müssen. Wie viele andere mochten noch durchgeschlüpft sein? »Harper, wann kommt Rachel an Bord?«

»In zwei Stunden.«

»Informieren Sie Calas und Funk. Sie sollen Sybil …«

Howard sog scharf die Luft ein. »Rachel Eloel. Die Mörderin des Mashiah?«

Jeremiel warf ihm einen düsteren Blick zu. »Chris, in einer Stunde treffe ich mich mit Lieutenant Halloway. Nehmen Sie Kaufa mit und überprüfen Sie die Sicherheitsmaßnahmen auf Deck acht. Wenn Halloway kommt, sagen Sie ihr, mir wäre ein anderer Treffpunkt lieber, und ich würde sie um 07:30 hier in meiner Kabine erwarten. Falls ihr das nicht paßt, sagen Sie das Treffen ab. Ich werde dann zu einem späteren Zeitpunkt eine neue Besprechung anberaumen.«

»Aye, Jeremiel.« Janowitz und Kaufa marschierten über den Flur davon, wobei Kaufa immer wieder fragende Blicke über die Schulter warf.

»Howard«, fuhr Jeremiel fort, »setzen Sie sich bitte mit dem Sicherheitschef von Deck zwanzig in Verbindung. Ich will wissen, wie viele zusätzliche Menschen in den letzten vier Stunden an Bord gekommen sind.«

»Aye, Sir.« Howard salutierte nachlässig und ging davon.

Jeremiels Hand glitt unbewußt zum Pistolengriff. »Avel …«

»Ich wußte das nicht, Jeremiel. Wir haben versucht, solche Leute auszusieben, aber bei dem Durcheinander …«

»Wir alle sind in Hektik. Nehmen Sie Howard aus dem Sicherheitsdienst heraus. Ich will nicht, daß er überhaupt für uns arbeitet. Nicht einmal bei den Reinigungsteams. Und bringen Sie Howard und seine Freunde so schnell wie möglich auf dem gleichen Deck unter, auf das wir auch alle anderen Tartarus-Anhänger schaffen. Sie sollen in ihren Kabinen eingeschlossen werden, genau wie die anderen.«

»Verstanden.« Harper räusperte sich. »Ruhen Sie sich aus, Jeremiel.«

»Sobald ich Zeit dazu habe.«

Harper nickte und ging über den Flur davon, wobei er sich bemühte, den Jungen nicht zu wecken.

Jeremiel schloß die Tür. Er kam sich vor wie ein Soldat, der während des Gefechts durch ein alptraumhaftes Land läuft, und dessen Weg nur durch die todbringenden Gewehrschüsse der Gegner erhellt wird.

»Du bist übermüdet. Das ist alles. Entspann dich.«

Aber das schaffte er nicht. Statt dessen spürte er das überwältigende Verlangen, sich einfach ein Shuttle zu nehmen und wegzufliegen. Das Ziel war ihm gleichgültig – wenn es nur möglichst weit von der gamantischen Zivilisation entfernt war. Sein ganzes Leben hatte er damit zugebracht, gamantische Kultur und Zivilisation vor der Vernichtung durch die Magistraten zu bewahren. Warum nagten ausgerechnet jetzt, nachdem er die Hoyer erobert hatte, solche Zweifel an ihm? Der Ausdruck auf Howards Gesicht hatte ihn beunruhigt. Er würde Rachel irgendwo sicher unterbringen müssen, wenn er nicht wollte, daß die loyalen Anhänger von Tartarus und Ornias sie in Stücke rissen.

»Warum versuchen die Gamanten nur ständig, sich gegenseitig die Kehlen durchzuschneiden? Und das auch noch in einem Moment, da sie ganz allein gegen die Galaxis stehen?«

Wie viele waren in den vergangenen zehn Jahren gestorben? Vielleicht zwei Millionen? So viel Tod. Und vielleicht standen gerade jetzt wieder magistratische Kreuzer über einer gamantischen Welt, um sie für immer zu vernichten. Und seine eigene Untergrundbewegung war damit beschäftigt, Dutzende magistratischer Militärstützpunkte in die Luft zu jagen. Aber auf Horeb war es am schlimmsten gewesen – dort, wo Gamanten mit Begeisterung Gamanten umgebracht hatten. Verdammte Narren. Alle miteinander! Nur ihren endlosen politischen und religiösen Streitereien war es zuzuschreiben, daß mittlerweile kaum mehr eine Million Gamanten in der Galaxis existierten. Im letzten Jahr hatten die Magistraten vier Planeten abgefackelt: Wexlen, Jumes, Pitbon und Kayan. Horeb und Nuja waren halb zerstört worden. Und die Gewalt eskalierte, das spürte er allein schon an dem Umstand, daß er weder seine Flotte noch die Basis auf Tikkun erreichen konnte.

Bist du bereit für weitere sinnlose Schlachten?

Jeremiel blieb einen Moment regungslos stehen und versuchte, die Verzweiflung niederzukämpfen. »Quäl dich später. Jetzt hast du Wichtigeres zu tun.«

Er ließ sich auf den Sessel vor dem Kom-Terminal sinken. »Computer?«

»Bereit.«

»Noch einmal die Personalakte von Lieutenant Cary Halloway. Diesmal möchte ich die privaten Daten haben. Familie, Freunde, Hobbys, Vorlieben und Abneigungen. Das vollständige psychologische Profil.« Solange Tahn noch an seiner Gehirnerschütterung laborierte, war Halloway diejenige, mit der er rechnen mußte. Gab es etwas, das er gegen sie verwenden konnte? Die Geheimdienstler vielleicht? Halloway hatte sie geschickt auf Deck zwei isoliert. Doch für wie lange mochte es ihr gelingen, sie dort festzuhalten? Und wie sollte er selbst sich bei diesem Problem verhalten?

»Daten werden gesucht.«

Plötzlich erschien ein Foto von ihr auf dem Schirm. Eine schöne Frau. Die Haare auf dem Bild wirkten kürzer, als er sie von ihrer Begegnung im Hangar in Erinnerung hatte. Die helle, fast durchscheinende Haut stand in hartem Kontrast zu den dunklen Augen, die ihn zu durchbohren schienen. Alter: 35. Geburt: 9. Sivan 5381, Columbia VIII. Eltern: Lome und Miza Halloway. Obstbauern. Geschwister: Ein Bruder, Timothy Sean Halloway. Familie wurde 5393 während der Centauri Revolte getötet.

Die Akte scrollte weiter. Insgesamt umfaßte sie zweiundvierzig Schirme. Dafür hatte Jeremiel jetzt nicht genug Zeit. Er mußte so schnell wie möglich alle wichtigen Informationen über die Schlüsselfiguren herausfinden, bevor der Gegner seine inneren Konflikte beilegte und mit vereinten Kräften gegen ihn vorging.

Und das würde geschehen – spätestens dann, wenn Tahn wieder aufrecht sitzen konnte.

»Computer? Stop. Bildschirm teilen. Die Akten von Captain Cole Tahn und Lieutenant Halloway korrelieren. Übereinstimmungen und Kontraste der Psychoprofile hervorheben, insbesondere die Streßwerte.«

Der Schirm füllte sich mit Daten.

Jeremiel lehnte sich zurück, strich sich den Bart und versuchte die aufkeimende Furcht zu bändigen. Halloway würde genauso schlimm sein wie Tahn. Möglicherweise war sie sogar eine der treibenden Kräfte hinter ihm gewesen. Es sah jedenfalls ganz danach aus. Darüber mußte er nachdenken. Wie würde sich Tahn ohne sie verhalten? Doch nein. Er konnte es sich nicht leisten, das auszuprobieren. Das Risiko wäre einfach zu groß. Immerhin wußte er, wie sie gemeinsam agierten. Waren sie getrennt, wurden sie unberechenbar.

Er rieb sich müde die Stirn und griff dann zu einer Spritze mit Stimulantien. Die Droge weckte vorübergehend seine Lebensgeister, würde aber nicht sehr lange vorhalten. Jeremiel schloß kurz die Augen, seufzte tief und wandte sich wieder dem Schirm zu. Vielleicht schaffte er es ja, ihre vermutliche Vorgehensweise herauszufinden, bevor sie sich selbst über ihre Pläne schlüssig wurden.

 

Brent Bogomil lockerte den engen Kragen seiner purpurnen Uniform. Als er die Hand zurückzog, war sie schweißbedeckt. Slothen verlangte, daß er unverzüglich nach Palaia zurückkehrte? Lieber Himmel, es war doch nicht sein Fehler, daß Silbersay entkommen war, als sie routinemäßig über Ourano II Wartungsarbeiten vorgenommen hatten. Aber wer würde ihm das schon glauben?

Er bewegte sich unruhig auf dem Kommandosessel und ließ seinen Blick über die Brücke der Jataka wandern. In dem ovalen, über zwei Etagen reichenden Raum arbeiteten neun Menschen an Monitoren und Konsolen. Sein Sessel mit zahllosen Computerverbindungen stand auf der oberen Ebene und bot einen ausgezeichneten Ausblick auf den Rest der Brücke, wo die übrigen Offiziere jeweils paarweise in vier Nischen entlang der Wand saßen.

Wie, zum Teufel, konnten alle so ruhig bleiben, während es ihm selbst so vorkam, als könnte die Welt jeden Moment untergehen? Um genau zu sein – in diesem Moment noch nicht, denn es würde ein paar Tage dauern, bis sie Palaia Station erreichten.

Bogomil fuhr sich mit der Hand durch das schweißnasse rote Haar. Verdammt, er mußte mit irgendwem darüber reden, was Slothen vorhaben mochte. An wen konnte er sich in einer derart vertraulichen Angelegenheit wenden? Es mußte jemand sein, der Slothen ebenso verabscheute wie er selbst.

Schließlich beugte er sich vor und wandte sich an die dunkelhaarige Kommunikationsoffizierin. »Winnow? Verbinden Sie mich mit der Hoyer. Ich will mit Cole Tahn sprechen.«

»Aye, Sir.« Die Kom-Aura glühte wie ein goldener Halo um ihren Kopf, während ihre Finger über die Tastatur huschten.

Bogomil lehnte sich wieder zurück und wartete. Slothen würde doch nicht befehlen, seinen Verstand zu korrigieren? Oder doch? Schweiß stand in dicken Tropfen auf seiner Stirn, und er verlor sich für einige Sekunden in Überlegungen, wie er dem Magistraten sein Versagen erklären sollte.

»Warum dauert das so lange, Winnow? Die Hoyer ist genau auf der anderen Seite von …«

»Ja, Sir, ich weiß, wo sie sich befindet, aber ich erhalte keine Antwort auf meinen Anruf. Ich habe es schon dreimal versucht, aber ich probiere es noch einmal.«

Bogomil betrachtete stirnrunzelnd den Frontschirm. Bei ihrer Geschwindigkeit sahen die Sterne wie blauviolette Röhren aus, die sich in ein ebenholzschwarzes Meer bohrten.

»Negativ, Captain. Keine Antwort von der Hoyer.« Winnow drehte sich auf ihrem Stuhl und schaute ihn neugierig an. »Könnte eine gewöhnliche Störung der Langstreckenverbindung sein, Sir.«

»Wäre möglich.« Bogomil rieb sich nachdenklich das Kinn. Auf der anderen Seite sollte Tahn gerade den berüchtigten Jeremiel Baruch übernehmen. Konnte es sein, daß die Untergrundflotte sich eingemischt hatte? Nein, man hätte ihn unterrichtet, wenn sie sich seinem Sektor genähert hätte. Und Baruch war wohl kaum in der Lage, Tahn die Hoyer einfach abzunehmen. Nein, vermutlich lag es doch an der Langstreckenverbindung.

Allerdings hatte es sich auch noch nie ausgezahlt, Baruch zu unterschätzen.

»Dharon?« wandte Bogomil sich an seinen Navigationsoffizier. »Rechnen Sie aus, wir sehr wir uns verspäten, wenn wir einen Umweg machen und zur Hoyer fliegen. Ohne langen Aufenthalt, nur um uns zu vergewissern, daß alles in Ordnung ist.«

»Aye, Sir. Aber wir sollten nicht vergessen, daß Slothens Anweisung unverzüglich lautete.«

»Ja, ja, das ist mir bekannt. Aber wenn Tahn in Schwierigkeiten steckt, sollte es uns einen Anpfiff von Slothen wert sein, ihm zu helfen. Er hat uns schließlich oft genug aus der Patsche geholfen.«

Bogomils Blick huschte nervös über die Brücke. Vielleicht sollte er Palaia anrufen und feststellen, ob Tahn sich nach der Überstellung von Baruch gemeldet hatte. Doch wenn er das tat, würde Slothen darin vermutlich ein Verzögerungsmanöver sehen, und damit wäre ihm erst recht nicht geholfen. Außerdem war es sehr gut möglich, daß das blaue Monster einfach die Erlaubnis zu einer Kursänderung verweigerte.

»Wenn wir diesen Umweg fliegen, kommen wir schätzungsweise dreißig Stunden später als geplant über Palaia an, Sir«, meldete Dharon.

»Dreißig?« Das war zuviel. Slothen würde an die Decke gehen, wenn er nicht zuvor um Genehmigung nachsuchte. »In Ordnung. Winnow, schicken Sie eine Meldung an Slothens Sekretär. Wie hieß er doch gleich? Topew? Sagen Sie ihm, wir vermuten ein Problem an Bord der Hoyer und wollen ihr wie ursprünglich geplant Unterstützung anbieten. Wir bitten um Erlaubnis, unser Eintreffen auf Palaia um zwei Tage zu verschieben.«

»Aye, Sir.«

Bogomil rieb sich abermals das Kinn. »Dharon, während Winnow mit Palaia verhandelt, könnten Sie versuchen, die Scipio zu erreichen. Wenn ich mich recht entsinne, liefert Gen Abruzzi medizinischen Nachschub in Sektor zwei aus. Wenn wir Cole nicht helfen können, dann vielleicht Abruzzi.«

Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
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